Salzgitter – bekannt für seine starke Rechte, viele Flüchtlinge und unfreundliche Rentner. Auf dem Papier eine Großstadt, wirkt sie beim Passieren der Stadtteile meist ruhig und ausgestorben. Sie lebt von florierender Industrie und Hartz IV.Teure Einfamilienhäuser auf der einen Seite, verfallende Mietbaracken auf der anderen Seite. Der Ghettoisierungseffekt ist kaum zu leugnen. Selbst Oberbürgermeister Frank Klingebiel (CDU) spricht diesen offen an.
Laut Statistik des Bundeskriminalamts jedoch, gehört Salzgitter zu den fünf friedlichsten Städten des Landes. Kerem Acin, der seit seiner Geburt in Salzgitter lebt, findet das lächerlich. Was kann man mit einer Statistik anfangen, der zufolge das kleinstädtische Trier krimineller ist als Berlin oder Offenbach? Drei Geschichten aus dem Leben des Autors zeigen, dass Salzgitter keineswegs so leblos ist, wie es scheint.
Episode 1: Das Problem mit den Großfamilien
Seit Jahren macht ein in ganz Deutschland aktiver kurdischer Familienclan Schlagzeilen. Dabei geht es um Drogendealerei, Gewaltverbrechen und sogar um eine Schießerei in Lebenstedt. Ausgerechnet mit dieser Familie verscherzt es sich der Vater meines Freundes Can*.
Es beginnt klein: Ferhat streitet sich mit irgendeinem Erkan. Das geht so weit, dass sie Ort und Zeit für einen Kampf ausmachen. Sie treffen sich und Ferhat verliert. Mehrere Tage muss er im Krankenhaus bleiben. Als er entlassen wird, hat er eine geschwollene Nase, ein dickes Auge und ein Lispeln beim Reden. Doch im Vergleich zu dem, was mit seinem Vater passieren wird, ist das nichts. Wutentbrannt macht sich dieser zusammen mit seinem Bruder auf die Suche nach Erkan. Sie fahren nach Lebenstedt, dem Wohnort von Erkan und fragen überall nach ihm. Sie erhalten den Tipp, dass er in einer bestimmten Shisha-Bar zu finden sei, die der oben erwähnten Großfamilie zugerechnet wird. Bewaffnet mit Baseballschlägern stürmen sie in die Bar und rufen nach Erkan. Was sie nicht wissen: Ein zweiter Mann, auch Mitglied der Familie, allerdings unschuldig, heißt ebenfalls Erkan. Sie pöbeln und beleidigen den Falschen. Ein kurzes Telefonat genügt und schon sind sämtliche Clan-Mitglieder versammelt. Vater und Onkel werden eingekreist. Schon beginnt die ebenso kurze wie blutige Auseinandersetzung. Auch die beiden erwachen im Krankenhaus. Cans Vater ist vollkommen unkenntlich geschlagen, sein Kopf ist bandagiert, genau wie sein Arm. Er muss aus einer Schnabeltasse trinken.
Das Oberhaupt der Großfamilie besucht sie anschließend und bedauert den „dummen und missverständlichen“ Zwischenfall. Natürlich ist es Ehrensache, zu vergeben und zu vergessen. Sie erheben keine Anzeige.
Episode 2: Frustabbau
Folgendes ist mir selbst passiert: Ich bekomme eine Vorladung als Beschuldigter. Als ich bei der Polizei erscheine, wird mir vorgeworfen, an einem Freitag im August 2010 zusammen mit fünf anderen 13- bis 16-Jährigen einen Raub versucht zu haben. Wir sollen uns am See, nahe der Realschule Salzgitter-Thiede, in Büschen versteckt und einem Jungen aufgelauert haben. Als dieser mit dem Fahrrad vorbeifährt, springen wir angeblich heraus, treten ihm vom Fahrrad, drücken ihn zu Boden und halten ihm ein Messer an die Kehle. Der mit dem Messer Bewaffnete soll mehrere Male bedrohlich und laut schreiend nach Geld gefragt haben. Nachdem das Opfer die Frage negierte, sollen wir das Fahrrad genommen, den Sattel verdreht und es in den Busch geschmissen haben.
Tatsächlich sind wir damals nur zu viert gewesen – der Älteste von uns 14 Jahre alt. Und so war es wirklich: Wir stehen abseits des Weges, der um den See führt. Mein 13-jähriger Freund Serdar* hat das Klappmesser seines Bruders dabei, mit dem er zuvor Streit hatte. Er meint, er sei gestresst und wolle das irgendwie rauslassen. In jenem Moment fährt der Junge vorbei. Serdar erklärt, er wolle ihm jetzt das Geld abziehen, stürmt los, stellt sich vor das Opfer und zückt das Messer. Der Junge fällt von selbst. Die anderen zwei und ich gehen Serdar nach, ziehen ihn zurück, helfen dem Opfer auf die Füße und entschuldigen uns.
Die Polizei glaubt uns nicht. Sie vermuten, dass wir Serdar das Ganze anhängen wollen, da er wegen seines Alters strafunmündig ist. Am Ende werden die anderen zwei und ich der Beihilfe zum Raub angeklagt. Vor Gericht wird der Fall allerdings fallengelassen. Die Parteien einigen sich bei einem Täter-Opfer-Ausgleich. Etwas, das allein der Güte der Opferseite zu verdanken sei, wie die Sozialpädagogin deutlich macht. Serdar verweigert die Aussage, die uns drei hätte entlasten können. Er muss nicht einmal vor Gericht, muss keinerlei Konsequenzen für seine Tat tragen. Er verliert lediglich drei Freunde.
Episode 3: Vergewaltigung unter Freunden
In dieser Episode geht es um die drei Freunde Kemal, Lea und Ferhat*. Keiner der drei hat einen übermäßig guten Ruf, selbst für bescheidene Salzgitter-Verhältnisse. Die beiden Jungs sind für Maßlosigkeit und Gewalt bekannt, das Mädchen für Drogenmissbrauch, Depression und Schnittwunden an den Unterarmen. Untereinander verstehen sie sich gut, daher gehen sie an einem Samstagabend zusammen feiern. Kemals Eltern sind im Urlaub,die beiden Jungs setzen sich zum Ziel, das Mädchen abzuschleppen. Sie will nicht.. Alkoholisiert schlägt Ferhat vor, K.O.-Tropfen in das Getränk von Lea zu mischen. Er redet Kemal ein, dass die Tropfen nicht so schlimm seien und sie ohnehin nichts merken würde.
Gesagt, getan: Lea trinkt sorglos den Cocktail, den ihre Kumpels ihr bringen. In Kombination mit Alkohol glaubt das Opfer zunächst, zu viel getrunken zu haben. Es dauert nur wenige Minuten. Die Substanz wirkt erst schwindelerregend, dann euphorisierend und enthemmend, letztlich einschläfernd und sorgt am nächsten Morgen für einen Blackout. So verläuft es auch bei Lea. Zusammen gehen sie zu Kemal nach Hause. Die beiden müssen Lea vom Auto ins Haus tragen. Angekommen, beginnen sie sich an ihr sexuell zu vergreifen. Als sie ihren Körper wieder spürt, tut Lea alles weh. Sie hat etliche blaue Flecken und Sperma am gesamten Körper.
Selbstverständlich erstattet Lea Anzeige wegen Vergewaltigung. Da diese aber schwer nachweisbar ist, steht Aussage gegen Aussage. Einzig nachweisbar sind die Folgen körperlicher Gewalt. Schließlich werden die beiden Jungs nur zu Körperverletzung verurteilt.
Die Kriminalstatistik ist nur die Spitze des Eisbergs
All diese Geschichten sind ein Beispiel für ungesühnte Straftaten, die somit in keiner Statistik auftauchen. Tatbestände sind schwere Körperverletzung, eventuell sogar versuchter Totschlag, bewaffneter Raubüberfall und eine vermeintliche Vergewaltigung. Uwe Dörmann, ein Sozialwissenschaftler, der seit 1970 für das BKA arbeitet, erklärt: „Die Kriminalstatistik berücksichtigt nur die der Polizei bekannt gewordenen Straftaten und damit nur die Spitze eines Eisberges.“ Weiter meint er sogar: „Die Kriminalstatistik spiegelt nicht einmal die der Polizei bekannt gewordenen Kriminalität getreu wider.“ Da diese, so Dörmann, mangelhaft erfasst und bewertet würden, seien die statistischen Aussagen verfälscht.
Was ist nun das Besondere an Salzgitter? Was unterscheidet es von Orten wie Offenbach, Berlin-Neukölln oder Duisburg-Marxloh? Sie alle haben eine hohe Arbeitslosenquote, eine hohe Ausländerquote und sind alle stark heruntergekommen. Der zentrale Unterschied: Salzgitter ist keine richtige Stadt, sondern nur eine Ansammlung von Dörfern, die wenig miteinander zu tun haben. Gemeinsame Kultur oder Charakter – Fehlanzeige. Darunter leidet der Zusammenhalt der Salzgitteraner, was die Entstehung von Parallelgesellschaften begünstigt.
*Die Namen von Einzelpersonen sind zum Schutze der Personen geändert worden.