Der Kampf gegen sich selbst

Disziplin und Respekt – diese Werte vermittelt Boxtrainer Serkan Acar den Heros aus Salzgitter. Drei Mal pro Woche kämpfen die Sportler gegen ihren inneren Schweinehund. Am Ende gewinnt derjenige mit dem stärkeren Willen.

Underground-Boxer sind die Helden der meisten Boxgeschichten. Im Konflikt mit dem eigenen Alter-Ego kämpfen sie sich oft bis ganz nach oben. Dabei erzeugen derlei Geschichten Bilder von einem eher dümmlichen Geldeintreiber, wie Rocky Balboa einer war. Oder dem aus „The Fighter“ (2010) bekannten drogensüchtigen Trainer Dicky Eklund, der seinem Bruder Micky „Irish“ Ward zum Erfolg verhelfen will. Doch die Klischees der Filmemacher verzerren die Realität, findet Serkan Acar. Für den Boxtrainer der Salzgitteraner Heros stehen die Werte Disziplin und Respekt an erster Stelle. Und genau diese will er seinen Schülern vermitteln.

Acar ist konzentriert und angespannt. Das große Turnier beginnt. Die Sporthalle der Grundschule am Ostertal in Lebenstedt ist an diesem Tag die Bühne der Kampfgemeinschaft Salzgitter. Die Heros haben sich für das Turnier am 30. November 2019 mit den Salzgitteraner Tigers verbrüdert. Zusammen fordern sie andere Clubs aus der gesamten Region heraus. Boxer, unter anderem aus Wolfsburg, Wolfenbüttel, Peine und Nienburg, folgen der Einladung. Fünf Heros steigen in den Ring. Auch der 18-jährige Eyüp Gökhan. Für ihn steht heute viel auf dem Spiel. Er boxt im Superschwergewicht – ab 91 Kilo. Es ist sein vierter Kampf. Zuvor verlor Eyüp jedes Mal wegen Disziplinlosigkeit. Die Kommandos seines Trainers waren ihm egal. In dreimal drei Minuten hat er nun Zeit, zu zeigen, wofür er in den letzten Wochen trainiert hat. Der Blick des Trainers verfolgt den Boxer. Dabei schwankt der Körper des 33-Jährigen wiederholt leicht von links nach rechts. Unter den Zurufen aus dem Publikum sind vor allem seine deutlich zu hören. „Eins, zwei! Bewegung!“

Serkan Acar weiß nur zu gut, wie es ist, im Ring zu stehen. Vor 22 Jahren kämpfte er das erste Mal. In der gleichen Halle, auf der gleichen fünf-mal-fünf-Meter Fläche. Acar räumte dem Sport damals einen großen Platz in seinem Leben ein. Doch seine Boxkarriere nahm ein tragisches Ende. Seit einem schweren Autounfall ist er gezeichnet. Der als „XXL-Ostfriese“ bekannt gewordene Knochenbrecher Tamme Hanken war seine letzte Hoffnung: Hanken ließ Acars Gelenke mehrmals laut aufknacken. Dabei spürte der Salzgitteraner ein Gefühl von Wärme. „Ziemlich schnell konnte ich mich wieder bewegen“, erinnert er sich. Doch fürs Boxen reichte das nicht. Trotzdem besuchte er einige Jahre später seinen alten Verein. „Ich kam in die Halle und konnte meinen Augen nicht trauen.“ Acar sah viele halbstarke Boxer, die ihrem Trainer auf der Nase herumtanzten. Unkoordiniert, unkonzentriert und undiszipliniert.

Trendsport Fitnessboxen

Seit letztem Sommer ist Serkan Acar zurück im Verein. Als neuer Trainer hat er montags, mittwochs und freitags das Sagen. Pünktliches Erscheinen ist Pflicht. So stehen um kurz vor 18 Uhr gut 20 junge Männer, viele noch nicht volljährig, und ein elfjähriges Mädchen in der Sporthalle. Sie binden ihre Bandagen. Es sind allesamt junge Menschen aus Salzgitter. Die meisten sind Schüler, zwei sind Studenten. Drei Boxer tuscheln. Alle anderen sagen nichts. Sie konzentrieren sich aufs Binden. Bahn für Bahn legen sie den dünnen Stoff um ihre Hände. Sie stellen sich nebeneinander in einer Reihe auf. Acar steht ihnen gegenüber. Ein letzter Boxer betritt die Halle und gibt allen anderen die Hand. Auch er stellt sich danach in die Reihe. „Uns liegt die Fortführung der Boxsporttradition am Herzen“, erzählt Acar. „Die Fehlentwicklung von Jugendlichen ist ein präsentes Thema. Hier werden die jungen Leute gefördert.“

Sechs Sandsäcke baumeln hin und her, als die Boxer hintereinander in einer Reihe durch die Halle laufen. Klassisches Warmmachen, sagt der Trainer. Doch sie baumeln nicht lange. Ein paar der Boxer prügeln wenig später auf sie ein. Abwechselnd schlagen sie mit der linken und rechten Faust gegen das Leder. Im Rhythmus ihrer Hiebe bewegen sie ihre Füße. Eine Minute Vollgas. Kurz Pause. Und von vorne. Während auf der anderen Seite fünf Boxer versuchen, kontinuierlich Seil zu springen, heben zwei weitere große Medizinbälle auf. Mit voller Kraft werfen sie sie wieder auf den Boden. Die Boxer fletschen die Zähne. Einer kneift seine Augen zu. Die Anstrengung ist deutlich spürbar.

Der Boxsport ist im Wandel. Wo früher harte Männer ihre Gegner im Ring um jeden Preis auf die Bretter schicken wollten, wird heute sogar zu Hause oder im Fitnessstudio geboxt. Fitnessboxen heißt dieser Trend. Das intensive und vor allem effektive Training der Boxer spricht auch immer mehr Frauen an. Doch für Serkan Acar ist das keine Modeerscheinung. Es ist das normale Boxtraining, sagt er. Seilspringen, Kraft- und Bodenübungen, Laufen und Technikübungen am Sandsack. „Fitnessboxer sind die, die nicht in den Ring steigen. Wie die meisten hier im Verein. Wir haben nur neun registrierte Kämpfer von über 100 Mitgliedern.“ Doch, wer im Fitnessstudio boxt, mache Fehler. „Es kommt viel öfter zu Verletzungen, weil die Trainierenden nicht richtig zuschlagen oder keine Bandagen tragen.“ Für fast alle Heros ist der Boxsport ein Ausgleich zum Alltag. Einige haben sich auch das Ziel gesteckt abzunehmen. „Deshalb kommen im Frühjahr die meisten Mitglieder, um für ihre Strandfigur zu trainieren“, scherzt Acar.

Wer gut boxen will, muss alles geben

Zurück im Training: Eyüp Gökhan steht am Sandsack. Er wiederholt immer wieder Dreierkombinationen aus Schlaghand, Führhand und Schlaghand. Er boxt sehr selbstbewusst. Sein Turnierkampf hat Spuren hinterlassen. Zwei Tage zuvor hatte er gekämpft: Eyüp liefert sich einen Schlagabtausch mit seinem Gegner. Die dritte Runde ist auf ihrem Höhepunkt. Eine kräftige Linke, hinterher eine Rechte. Der 18-Jährige treibt seinen Gegner in die Ecke. Weitere Fäuste prallen gegen die Deckung seines Gegners. Eyüp hängt an ihm wie eine Klette. Dann schellt die Glocke. Das wars. Der Hero und sein Trainer warten gespannt auf das Ergebnis. Der Ringrichter hebt den Arm des Siegers. Es ist Eyüps Arm. In allen drei Runden hatte er die Nase vorne. Erleichterung und Freude sind ihm vom Gesicht abzulesen. Aber nicht nur er, sondern auch Serkan Acar ist froh. Durch ihre Zusammenarbeit haben sie sich den Sieg sichtlich verdient.

Der Boxclub Heros Salzgitter

Der Boxclub Heros Salzgitter schaut auf eine lange Geschichte zurück. Seit 1943 wird geboxt. Heute gehören über 100 Mitglieder zum Verein. Davon treten derzeit neun Boxer bei Turnierkämpfen an. Zusammen mit den anderen aktiven Mitgliedern trainieren sie dreimal in der Woche in der Sporthalle der Grundschule am Ostertal in Salzgitter-Lebenstedt.
Regelmäßig veranstaltet der BC Heros Salzgitter eigene Boxevents. Zuletzt am 30. November. Beim „Salzgitter Pokalturnier“ konnten 15 Boxer aus Salzgitter ihr Können auf die Probe stellen.

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