Der Scheideweg der EU

„Die Einheit Europas war ein Traum von wenigen. Sie wurde eine Hoffnung für viele. Sie ist heute eine Notwendigkeit für uns alle“, sagte Konrad Adenauer 1954. Dass diese Worte einmal Gefahr laufen in Vergessenheit zu geraten, hätte damals niemand gedacht.

Momentan stellen Zweifler die Europäische Union vor eine große Herausforderung. Immer mehr Länder, Regierungschefs und Bevölkerungen stellen die Union in Frage. So hat die britische Bevölkerung per Referendum für einen Brexit gestimmt und der Aufschwung vieler rechter Parteien ist in ganz Europa zu beobachten. Diese Parteien positionieren sich klar gegen eine EU. Sogar von innen heraus wird der Bund durch Mitgliedstaaten wie Italien, Ungarn oder Polen immer wieder auf die Probe gestellt. Die Länder entfernen sich von den gemeinsamen Zielen und schränken damit die Handlungsfähigkeit ein.

Dem entgegen steht eine föderale Bewegung, die mit allen Mitteln versucht, die EU zusammenzuhalten. Dafür streben sie eine immer engere Kooperation der Mitgliedstaaten untereinander an und versuchen, die Werte und Chancen der Union zu schützen. Als maximales Endziel könnte das Resultat eine USE (United States of Europe) bedeuten. Bei diesem Gedankenspiel sollen die einzelnen Mitgliedstaaten einer übergeordneten Organisation unterstehen und zukünftig nur noch als Bundesländer fungieren. Doch zunächst geht es bei der Föderalisierung um eine weitreichende und tiefergehende Verflechtung der Mitgliedsstaaten.

Aus diesem Kontext heraus lässt sich diskutieren, inwieweit eine EU föderalisiert werden muss, um weiter zu bestehen. Dabei ist ein Abgeben von Souveränität der einzelnen Mitgliedsstaaten unabkömmlich. Denn ein Zusammenrücken muss sein, um gegen die Kritiker anzukämpfen und das Bestehen zu sichern.

Schon die Geschichte der Union ist ein wichtiger Punkt, im Sinne der weiteren Entwicklung. Die EU entstand aus diversen Wirtschafts- und Friedensunionen mit dem Ziel den Frieden nach dem Zweiten Weltkrieg zu wahren und die Zusammenarbeit zu stärken. Außerdem sollte die immer wieder aufkeimende Rivalität zwischen Deutschland und Frankreich beruhigt werden (siehe Infokasten). Und gerade vor dem Hintergrund, der sich immer weiterentwickelnden Kooperationsgemeinschaft aus diversen Bündnissen, stellt sich die Frage, ob eine Stagnation der Integration zu einem Problem werden könnte. Die EU steht vor einem Scheideweg, der in zwei entgegengesetzte Richtungen führt.

Geschichte der EU

Die EU entstand aus der Montanunion, welche sechs Jahre nach Kriegsende gegründet wurde. Diese bildete einen Sektor, in dem Kohle und Stahl zwischen den sechs Gründungsstaaten, ohne Zölle und Grenzen, gehandelt werden konnten.

Diese Union wurde immer weiter ausgebaut, bis 1967 die Europäische Gemeinschaft gegründet wurde. Schon bald darauf traten immer mehr Staaten bei und das Schengener Abkommen wurde verabschiedet, mit dem Personenkontrollen und Binnengrenzen abgebaut werden sollten. Als in den 90ern der Maastrichter Vertrag besiegelt wurde, trat damit ein freier Binnenmarkt in Kraft, und die EU war geboren.    

So wurde aus einer lockeren Kooperation, welche auf dem Konzept des kleinsten gemeinsamen Nenners basierte, eine immer weiterwachsende differenzierte Integration.

Die Richtung der Entfremdung

So führt der eine Scheideweg in die Richtung der Entfremdung zwischen den Mitgliedstaaten. Durch den Brexit ist die EU ins Straucheln gekommen. Denn auch in anderen Ländern wird die Stimme nach einem Austritt aus der EU immer lauter. Die Befürworter erhoffen sich davon, mehr von der eigenen Souveränität zurückzuerlangen, mehr Handlungsspielraum für das eigene Land zu bekommen und Regularien der EU zu entkommen.

So vertritt beispielsweise der polnische PiS-Parteichef Jaroslaw Kaczynski im Punkt der Flüchtlingspolitik die Position, dass die Aufnahme Geflüchteter in Polen einer gesellschaftlichen Katastrophe gleichkommen würde und neben dem Anstieg des Terrorismus zudem eine Menge weiterer Gefahren lauern würden.

Kaczynski macht deutlich: „Wir sagen nein zum Euro, nein zu europäischen Preisen.“ Auch der polnische Präsident Andrzej Duda ist der Meinung: „Irgendwo in der Ferne, in entfernten Hauptstädten wird über unsere Angelegenheiten entschieden (…), und in Wirklichkeit arbeiten wir für die Rechnung anderer.“ Die Aussagen der Politiker zeigen klar, dass die EU Schwachstellen hat. Auch Punkte wie übermäßige Bürokratisierung oder Normung von Produkten, wie der maximale Krümmungsgrad einer Gurke von zehn Grad, lassen nahezu jeden fassungslos mit dem Kopf schütteln. Diese Verordnung wurde zwar 2009 außer Kraft gesetzt, ist jedoch bei vielen Großhändlern weiterhin Vorgabe. Aber auch kleine, unförmige Bananen müssen leider draußen bleiben. Die gelben Früchte, die in die EU importiert werden, müssen eine Länge von mindestens 14 Zentimetern und eine dicke von 27 Millimetern aufweisen. Manche sprechen im Hinblick auf solche Verordnungen sogar von einer zwanghaften Reglungswut.

Und auch die Konflikte in der Flüchtlingspolitik lassen kein gutes Licht auf die EU kommen. Aus einem „Wir schaffen das!“, von Angela Merkel, wurde vielen Ländern, bei dem Gedanken an die Aufnahme Geflüchteter, ganz flau im Magen. Und so entstehen die Bilder von Flüchtlingen aus aller Welt, von denen keiner weiß wohin mit sich und seiner Familie. Denn nicht mal die Union weiß wohin mit ihnen. Es wird also noch länger Bilder von überfüllten Lagern geben, in denen Geflüchtete auf eine Weiterreise in die Sicherheit warten – und das unter unmenschlichen Bedingungen. Doch bis es Gewissheit gibt, kann es dauern. Die EU muss sich in diesem Fall zunächst einig werden, welches Land wie viele Flüchtlinge aufnimmt.

Die Richtung der voranschreitenden Verflechtung

Dem entgegen steht der Weg, den die föderalistische Bewegung gehen wollen würde, um die Zukunft Europas zu formen. Der französische Präsident Emmanuel Macron ist einer derer, die eine Reformierung der EU stark befürworten und sich immer wieder zu dieser bekennen. Er ist eine der größten Stimmen, der sich viele Menschen anschließen. Sie haben den Wunsch, dass die Integration nicht stagniert, sondern immer weiter voranschreitet, um die Handlungsfähigkeit der EU zu stärken.

Macron sagt, es sei wichtig, dass vor allem in dem Punkt der Asylpolitik mehr zusammen getan werden müsse. Dafür könne man eine Asylbehörde schaffen, die sich einheitlich um die Flüchtlinge kümmern würde, sodass alle Mitglieder gleichberechtigt an der Integration der geflüchteten Menschen teilnehmen könnten. Außerdem plädiert der Franzose im Punkt der Verteidigung auf einen gemeinsamen Verteidigungsfonds, eine gemeinsame Handlungsdoktrin sowie eine Ausstattung von europäischen Zivilschutzkräften. Damit wolle er die Sicherheit in der EU verbessern. Doch um eine stabile und starke Wirtschaft zu formen, visiert er Reformen. Dazu zählen sowohl gemeinsame Investitionen als auch die Schaffung neuer Instrumente.

Zudem ist die EU ein wichtiges Gegengewicht für die Wirtschaftsmächte USA und China. Doch durch Initiativen wie das Seidenstraßenprojekt Chinas und die durch den ehemaligen Präsidenten Amerikas protektionistische Denkweise der Staaten, gerät dieses Gleichgewicht zunehmend ins Wanken. Chinas Präsident XI Jing Ping möchte das Land zu alter Stärke führen und hat deshalb das Infrastrukturprojekt „neue Seidenstraße“ ins Leben gerufen. Dabei investiert China in Länder, um deren Infrastruktur ausbauen zu können und in Zukunft schneller Waren von China in alle Welt verschiffen und verfrachten zu können. Die Unterstützung Chinas hat jedoch auch ihre Schattenseite: Es treten immer wieder Gefahren für die teilnehmenden Länder auf, da Peking häufig hohe Zinsen ansetzt und Umstände herbeiführt, die zu massiver Verschuldung einiger Länder führen können.

Die EU versucht dem entgegenzuwirken, um die eigene Wirtschaftskraft zu schützen und Länder vor der Verschuldung zu bewahren. Doch dem aufstrebenden China steht die Union derzeit alleine gegenüber, denn auch der bisherige wichtige Partner USA stand der EU bis dato nicht zur Seite. Donald Trump war in seiner Funktion als Präsident besorgter um die Wirtschaft seines Landes und versuchte diese zu schützen und zu stärken. Um sich Peking effizient und unabdingbar zu stellen, müsste eine gemeinsame Strategie entwickelt werden, an der sich alle europäischen Länder gleichermaßen beteiligen. Nur so kann man seine eigene Wirtschaftskraft schützen und Länder vor der Abhängigkeit der Chinesen bewahren.

Hinzu kommt, dass die Europäische Union eine der wichtigsten Wirtschaftsmächte der Welt ist. Durch die zahlreichen Verträge und die daraus resultierenden Kooperationen gibt es einen Wohlstand, den nur wenige Länder erreicht haben. Es gibt soziale Absicherungen, ein Gesundheitssystem und Sicherheit. Außerdem existieren viele wirtschaftliche Vorteile, die den Mitgliedstaaten eine starke wirtschaftliche Ausgangssituation bieten. Doch der wohl bedeutendste Punkt ist: Konflikte zwischen den Mitgliedstaaten werden friedlich gelöst. Innerhalb der EU wird kein Mitglied auf ein anderes schießen und einen Krieg anzetteln.

Der richtige Weg

Eine Föderalisierung würde der EU viele neue Chancen bieten. Doch die Angst vor Kontrollverlust lässt einige diese Chancen vergessen und in eine andere Richtung orientieren, bei der das eigene Land an erster Stelle steht. Diese Tendenz könnte zu einer großen Gefahr für das gesamte Europa werden. Würde die Zusammenarbeit rückläufig werden, würde das viele Staaten ins Verderben stürzen. Es ist also von Bedeutung, dass diejenigen, die an die EU glauben, mit allen Mitteln für den Erhalt kämpfen. Und das auch, obwohl die EU ihre bekannten Schwachstellen hat. Doch wenn sich die EU in die falsche Richtung bewegt, werden Werte wie Solidarität, Freiheit und Sicherheit in den Hintergrund rücken und unser Leben nachhaltig verändern. Oder mit den Worten Klaus Kinkels von 1992: „Europa wächst nicht aus Verträgen, es wächst aus den Herzen seiner Bürger oder gar nicht.“

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