Die Tür schwingt auf. Hacken kratzen über den Linoleumboden. Blaue Hefte – Panik in den Augen der Schüler: „Mathetest, alle Bücher und Hefte vom Tisch!“ Nervosität greift um sich. Blaue Kugelschreiber in schwitzigen Händen. Die Luft wird stickig. Dann beginnt der Zahlenkampf. Hektische Stille, Angst im Herzen. Das Wissen scheint verflogen, die letzten Mathestunden wie ausradiert. Wer weiß denn sowas? Wofür braucht man das später? Man macht sich Mut: Es wird schon reichen, für das Überleben, irgendwie durchkommen. Am Ende schieben alle den Zettel mit zitternden Händen an die Ecke des Tisches. Für heute ist die Schlacht geschlagen, doch der Krieg längst nicht gewonnen. Denn die Zahlen bleiben und die Angst, wenn man nichts dagegen tut.
Bei vielen haben sich solche Situationen ins Kinderhirn eingebrannt. Mathe ist immer noch eines der gefürchtetsten Schulfächer, das Fach in dem am meisten Nachhilfe genommen wird. Und nach dem Abschluss sind die Allermeisten froh, wenn es vorbei ist. Dann wehrt sich eine Mehrheit gegen den Umgang mit Mathe. Ob im Alltag oder in der Berufswahl junger Menschen: Mathe bleibt für die Meisten unbequem. Wird gemieden, wo es nur geht. Aber woher kommt diese Angst vor den Zahlen und was macht sie mit uns?
Mathe ist ein Konzentrationsfach
Wir leben in einer mathehassenden Gesellschaft. Keine Frage. Es herrscht eine self-fulfilling prophecy: Der Mythos des Mathehorrors. „Wer dauernd sagt, Mathe ist schwer, für den ist es dann auch schwer“, sagt Rüdiger Behrend. Der Möllner Gymnasiallehrer unterrichtet seit rund 40 Jahren Mathe,
Sport und Physik. Für ihn ist das Hassfach Alltag. Tagtäglich erlebt er, wie Schülern im Angesicht von Pythagoras & Co der Angstschweiß auf die Stirn tritt. Bei ihm werden die Arbeiten geschrieben, durch die die meisten heute wohl durchfallen würden. Die Stunden, an die man sich lieber nicht erinnern würde. Und es doch am prägendsten tut.
In Teilen stimmt der Möllner Mathelehrer dem Mythos zu. „Es ist schon schwieriger, den Spaß an Mathe zu vermitteln. Mathe ist ein Konzentrationsfach“, sagt er. Gerade in der heutigen Zeit, wo die Aufmerksamkeitsspanne radikal gesunken ist, fällt das vielen schwer. Alle 45 Sekunden schweifen wir ab. Früher waren es nur alle drei Minuten. Tja und wer hat schon Lust auf langwierige Konzentration. Gerade in der Zeit der Pubertät, wo oft die Probleme in Mathe beginnen. Besonders hier schwirren andere Gedanken in den Köpfen der Schüler. Es sei überhaupt schwer, sich zu konzentrieren. Da fällt Mathe ganz schnell runter als Fach. Einen Matheunterricht spannend zu gestalten, ist eine rare Kunst. Verknüpft mit einem langweiligen Lehrer ergibt sich ein unmöglich zu gewinnendes Rennen.
Apropos Lehrer. Diese sind ein viel genannter Grund, für die Matheabwehr. Speziell der Mathelehrer sei schuld, er ist der Sündenbock der Mathehasserei. Auch Matthias Parbs sieht das so. Er ist Berufsberater der Agentur für Arbeit in Mölln und arbeitet unter anderem mit dem Berufsinformationszentrum (BIZ) zusammen. Er sieht hier die Schule und speziell die Mathelehrer in der Verantwortung und steht damit nicht allein. Parbs glaubt, dass Mathe schon durch die Schulzeit sehr negativ behaftet sei. „Das bleibt in den Hinterköpfen.“ Wenige negative Erfahrungen reichen schon aus, um das ganze Feld zu verbrennen. Wenn sich der Misserfolg unter wechselnden Lehrern wiederholt, ist es oft aus.
Es kommt auf die Lehrer an
Mathelehrer Behrend hat sich oft gefragt, was die Gründe für das schlechte Image von Mathe sind. Damit Mathe Spaß macht, kommt es wirklich entscheidend auf die didaktische Kompetenz an, glaubt er. Die unter Lehrern hoch geschätzte Hattie-Studie unterstützt diesen Eindruck. Der Neuseeländer John Hattie hatte 2009 eine umfassende Analyse der Erfolgsfaktoren für einen erfolgreichen Unterricht durchgeführt. Auf Platz eins rangiert der Lehrer als der entscheidende Faktor. Doch das ist auch in anderen Fächern so.
Liegt die Abneigung so vieler vor dem Fach Mathe womöglich gar nicht an den Zahlen selbst? Hat Mathe gar eine weiße Weste vorzuweisen? Es scheint, als hänge die Einteilung in Matheliebhaber und Mathehasser am Lehrer. Als hinge unsere Zukunft von der Auswahl der Mathelehrer ab. Sofort kann man scheinbar alle beruflichen Möglichkeiten mit Zahlen ausmerzen. „In dieser Zeit beginnt die Selektion. Wer in Mathematik scheitert, kann gewisse Ausbildungswege nicht betreten. Das löst Stress aus und tötet die Lust am Fach“, sagt auch Mathematik-Didaktik-Professor Franco Caluori von der FH Nordwestschweiz gegenüber der Berner Zeitung. Doch blockieren schlechte Mathenoten tatsächlich die Türen der Berufswahl? Berufsberater Parbs weiß, wie groß die Abwehr gegen Mathe im Beruf ist. Seine Gespräche beginnt er oft mit einem Spiel. Karteikarten sortieren. Karteikarten beschriften mit Schlagwörtern und Berufszweigen. Drei Kategorien trennen die Spreu vom Weizen: Ja, Nein, Vielleicht. Die Mathekarte landet da in vier von fünf Fällen meist auf Nein. Genauso viele Studenten, die nach Studien ihr Mathestudium abbrechen. „Mathe ist als Wort grundsätzlich bei allen eher unbeliebt“, erklärt Parbs, „es hat ein ganz schlechtes Image, das immer weiter gefördert wird.“
Viele Schulabgänger machen schließlich um alles, was nur ansatzweise nach Mathe schreit, am liebsten einen weiten Bogen. Dabei benötigt man ein gewisses Maß an mathematischen Grundfertigkeiten für quasi jeden Beruf, macht Berufsberater Parbs klar. Die Annahme, man könne Mathe nach der Schule also aus seinem Leben streichen, ist ein Trugschluss. So sehr sich viele das auch wünschen mögen, ohne Mathe läuft es anscheinend nirgends. Nur das Maß an Mathe hänge vom Berufszweig ab. Bei einem Designstudium braucht man weniger Mathe als im
Chemiestudium. Der zweite Irrtum ist nun die Unklarheit über den Anteil von Mathe und die Abwehrhaltung hier.
Viele setzen Mathe mit kaufmännischen Berufen gleich. Dabei landen die zwei Karteikarten oft gegensätzlich auf Ja und Nein. Viele Schüler finden die kaufmännische Berufsrichtung sehr ansprechend, möchten aber auf keinen Fall Mathe in ihrem Berufsleben haben. Kann das zusammenpassen? Kann man mit Angst vor Mathe zur Bank? Eine Ausbildungsausschreibung zum Groß- und Außenhandelskaufmann sorgt für Überraschung. Oft seien hier nur die Grundrechenarten gefordert. Wichtiger seien kompetentes, offenes Auftreten. Doch wie lässt sich dann der Mathe-Knoten lösen?
Mathe ist kein Hexenwerk
So oft wie Schüler zu dem Mathelehrer Behrend mit „Wozu brauche ich das später?“ kommen, so häufig fragen die Abiturienten „Wie viel Mathe ist da enthalten?“ Auf solche Fragen gibt es keine richtige Antwort. Denn bei beiden entscheidet eins: Die Einstellung. Der Schlüssel zum Erfolg scheint die Einstellung zum Thema Mathe. Klar, Mathe bleibe ein Konzentrationsfach, ein Fach das laut Parbs „(…) viel Übung und Fleiß“ erfordere. Auch Behrend glaubt an die Persönlichkeit der Schüler als klarsten Punkt im Thema Mathehass. Wer am Ball bleibt und wer aus dem Spiel scheidet, hängt von Motivation und Durchhaltewillen beim Lernen ab.
Vielen fällt das schwer. Doch Mathe ist kein Hexenwerk. Es besteht aus reiner Logik, richtig oder falsch. Regeln, Formeln, Lösungswege. Die Lösung ist laut Thorsten Landwehr vom Rechentherapiezentrum Kölln (RTZ Kölln) beim Angstabbau zu suchen. Schließlich aktiviert Angst nachweislich alle Gehirnareale für reale Schmerzen und Gefahren. „Das fühlt sich an wie reale Schmerzen. Aber es passiert nur in meinem Kopf.“ Angst blockiert, überlagert jegliche Kapazitäten, um Erfolg zu haben. Ganze Berufszweige schließen wir für uns aus, in denen wir vielleicht glänzen können. Dieser Angst muss man mit Motivation und Fleiß begegnen, den Zettel nicht vor Wut zerknüllen, sich einfach nochmal hinsetzen. Denn Angst beginnt im Kopf, Mut aber auch.