„Am liebsten sitze ich auf der Bank, noch lieber auf der Tribüne.“ Mit diesem öffentlichen Outing schockt der ehemalige Nationalspieler Per Mertesacker im Frühjahr ganz Fußballdeutschland. Im Interview mit dem Spiegel offenbart der 33-Jährige, dass er den hohen Leistungsdruck im Profisport weder psychisch noch physisch aushalte. Ständiger Brechreiz und andere Auswirkungen auf die Gesundheit sind stets die Begleiter vor jedem einzelnen Spiel seiner Karriere. Im Fußball sei es für ihn schon bald nicht mehr um Spaß gegangen, sondern nur noch um Druck und Belastung.
Einen näheren Einblick hinter die Kulissen des Profifußballs gibt Thomas Pfannkuch, ein ehemaliger Profifußballer, der in der Region 38 zuhause ist. Seine Karriere bestritt er unter anderem bei Borussia Mönchengladbach, Olympique Lyon und bis 1999 bei der Eintracht in Braunschweig. Heute trainiert er die deutsche Nationalmannschaft. im Bereich des CP-Fußballs (eine Mannschaft für Sportler mit cerebraler Bewegungsstörung und anderen neurologischen Krankheiten) und trainiert außerdem die U14 und U16 Mädchenauswahlmannschaften Niedersachsens. Für ihn ist das Thema des enormen Leistungsdrucks im Sport nichts neues: „Natürlich ist ein gewisser Druck immer da, sei es von Zuschauern oder auch den Medien.“ Früher gab es die sozialen Medien noch nicht. „Wir mussten uns nicht im Internet präsentieren. Ich denke, das hat vieles einfacher gemacht.“ Vor allem bei den jungen Spielern, die er heute als Trainer betreut, merke er, dass die sozialen Medien einen großen Stellenwert einnehmen und man dort einem ständigen Feedback ausgesetzt ist.
Von Per Mertesacker über Sebastian Deisler bis Robert Enke
Dass sich der Leistungsdruck nicht erst im Profibereich äußere, sei immer wieder zu beobachten. „Die Spieler bekommen natürlich auch Rückmeldung von Eltern, Verwandten, Freunden und Bekannten zur ihren Leistungen in den Spielen und das ist nicht immer förderlich – egal, ob sie gut oder schlecht gespielt haben.“ Den Druck, den Thomas Pfannkuch am eigenen Leibe erlebt hat, habe er immer positiv aufgenommen und in neue Energie umgewandelt: „Er hat mir dabei geholfen, Leistung zu bringen.“ Dass sich dies bei jüngeren Profianwärtern aber auch anders äußern kann, sei kein Geheimnis. Er ist der Meinung, dass heutzutage zu früh zu viel Druck auf junge Spieler ausgeübt würde und dass der Spaß nicht verloren gehen dürfe. „Höher, schneller, weiter ist die Devise. Nicht nur die Eltern entwickeln diesen Druck. Auch die Trainer, Betreuer und Spielerberater wollen immer mehr von den Kindern sehen und schrauben die Erwartungshaltung enorm in die Höhe.“
Um einen Einzelfall handelt es sich bei der Geschichte, die Per Mertesacker an die Öffentlichkeit brachte, nicht. Schon andere Fußballer, unter ihnen Sebastian Deisler, sprachen öffentlich über die psychische Belastung des Leistungssports. Deisler beendete seine damals noch junge Fußballkarriere beim FC Bayern München, weil er unter Depressionen litt, die durch den Druck ausgelöst wurden. Er wollte immer nur Fußballer sein, nie der Star, zu dem ihm alle machten. Also zog er 2007 die Reißleine und kehrte dem Profigeschäft den Rücken zu. Auch Markus Miller, von 2010 bis 2015 bei Hannover 96 unter Vertrag, musste sich 2011 mitten in der Saison aufgrund einer Depression in Behandlung geben. Verletzungen hatten ihn zurückgeworfen und nur mit Schmerzmitteln brachte er sich durch den Trainingsalltag – bis sein Körper all dies nicht mehr mitmachte. Noch ein Fall: Martin Americk spielte von 2004 bis 2006 bei der Eintracht in Braunschweig. Während seiner Karriere plagte ihn ein temporäres Erschöpfungssyndrom und er musste eine Karrierepause einlegen, um wieder auf den richtigen Weg zu gelangen. Heute studiert der 35-jährige Psychologie, um später in Nachwuchsleistungszentren jungen Spieler dabei zu helfen, mit dem Druck im Profifußball umzugehen.
Nur Weicheier brauchen Hilfe
Um zu vermeiden, dass der Leistungsdruck in ernsthafte Krankheiten umschlägt, ist eine psychologische Betreuung im Profisport nunmehr unumgänglich. Jeder Verein sollte seinen Spielern die Möglichkeit bieten, sich an jemanden zu wenden, um Probleme sofort aus dem Weg zu räumen oder sie zumindest zu behandeln. Bisher ist dies jedoch noch nicht der Fall. Laut einer Umfrage aus dem Jahr 2017 gaben nur 15 Prozent der Profifußballer an, dass ihr Verein über eine gute sportpsychologische Betreuung verfüge. Auch Thomas Pfannkuch ist der Meinung, dass eine psychologische Betreuung der Spieler in der heutigen Zeit nicht schaden könnte: Die Behandlungs- und Betreuungsmethoden müssten aber auch richtig erklärt und vermittelt werden, findet er. Auch heute werde immer noch gesagt, dass nur Weicheier eine solche Hilfe brauchen – dass „richtige Jungs sich auch so durchsetzen würden: „Dieses Vorurteil muss ausgeräumt werden.“
Mit seinen Äußerungen im Spiegel hat Per Mertesacker eine Debatte losgetreten, die es vorher so noch nicht gegeben hat. Viele Spieler und ehemalige Profis trauen sich erst jetzt, mit ihren Ängsten und Beschwerden an die Öffentlichkeit zu treten und das wahre Gesicht des Profifußballs zu zeigen. Hinter Villen, Luxusautos und teuren Urlauben, die durch das überdurchschnittlich hohe Gehalt der Fußballer ermöglicht werden, stecken trotz allem Menschen, die unter Druck und Stress leiden.
„Man sollte den Leistungssport nicht als Muss oder Qual empfinden müssen“, denkt auch Thomas Pfannkuch. Der Traumberuf Fußballprofi birgt also auch einige Schattenseiten. Dies sollten sich junge Talente immer wieder vor Augen führen. Spieler, die mit psychischen Beschwerden an die Öffentlichkeit treten, sollten nicht länger als Weicheier abgestempelt werden. Dass auch psychologische Hilfe im Profibereich Normalität wird, muss in den Köpfen verankert werden, damit der Traum von der Profikarriere nicht zum Trauma wird.