Wenn in niedersächsischen Schulen der Unterricht ausfallen muss, dann liegt es nicht allein daran, dass derzeit zu viele Lehrer in Pension gehen. Auch Lehrkräfte, die aus gesundheitlichen Gründen zur Auszeit gezwungen sind oder die in Elternzeit ausscheiden, hinterlassen Lücken, die es zu füllen gilt. So beobachtet es Jutta Hartmann, Sekretärin an einer Realschule in Hildesheim. Aufgrund des akuten Personalmangels wurde der Schule ein Gymnasiallehrer zugewiesen, um entstandene Mängel zu überbrücken. Diese Lehrkraft unterrichtet nun in den Nebenfächern, während die festen Lehrkräfte sich um den Unterricht der Hauptfächer kümmern.
Das Beispiel aus Hildesheim ist kein Einzelfall: Fast ganz Deutschland leidet unter einem Lehrermangel. Laut Zahlen der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Deutschland (GEW) fehlte es im letzten Jahr in neun Bundesländern akut an Bewerbern, um alle Stellen zu besetzen. Die Situation ist bislang nicht entschärft. Dabei sind Gymnasien eher weniger betroffen.
Allein in Niedersachsen sind 1.300 Lehrerstellen ausgeschrieben. Die Situation ist bislang nicht entschärft. Auch wenn die niedersächsische Landesregierung den Handlungsbedarf in Niedersachsen sieht, kann eine hundertprozentige Unterrichtsversorgung nach Informationen des Kultusministeriums erst mit 3.000 neuen Stellen sichergestellt werden. Unterdessen sind im vergangenen Jahr knapp eintausend Lehrkräfte in Niedersachsen in den Ruhestand verabschiedet worden. Die Marke von 3.000 neuen Stellen soll laut Kultusministerium im Sommer 2019 erreicht werden. Aber wird dies reichen? Denn nun prognostiziert die Bertelsmann-Stiftung in einer Studie eine viel höhere Schülerzahl in den kommenden Jahren für Deutschland, als es der Staat bisher angenommen hat.
Schüler-Boom vs. Lehrermangel
Die Planer der Ministerien gehen für 2025 von 7,2 Millionen Schülern in ganz Deutschland aus. Eine neue Studie der Bertelsmann-Stiftung sagt jetzt jedoch die Zahl von 8,3 Millionen Schülern vorher. Gründe dafür seien die aktuell weiter steigenden Geburtenraten und die Zuwanderung. Was unser Rentensystem in Zukunft stützen wird, bereitet andernorts Überstunden. Denn es sind rund eine Millionen Schüler mehr als in den Planungen der Politik. Über alle Schulformen hinweg sei aktuell zu wenig Personal im System, sagt Christian Hoffmann, Pressesprecher der GEW Niedersachsen. Besonders betroffen seien hier die Grund-, Haupt- und Realschulen. Das ist nun also unsere Ausgangsposition, um den von der Bertelsmann-Stiftung vorhergesagten „Schüler-Boom“ in ein paar Jahren zu begegnen.
Einen besonderen Engpass bei neuen Lehrkräften in diesem Jahr hat sich die niedersächsische Landesregierung selbst beschert. Das liegt daran, dass die Studiengänge für das Grund-, Haupt- und Realschullehramt von vormals zwei auf nun vier Semester im Master verlängert wurden. GEW-Sprecher Hoffmann bestätigt, dass 2017 nur 400 Studenten aus dem Lehramtsmaster Grundschule hervorgegangen sind, während im nächsten Jahr 1000 Absolventen ihren Abschluss machen werden. Im nächsten Jahr ist dieser Engpass also wieder überstanden.
Nach dieser Reform sind alle Lehramtsstudiengänge ungeachtet der Schulform gleich lang. Der jetzt für Grund-, Haupt- und Realschullehramt verlängerte Master soll durch ein zusätzliches Schulpraktikum besser auf die Berufspraxis vorbereiten. Lehramtspraktikanten dürfen selbst unterrichten und schon im Studium vor den Schülern stehen. Das kann Schulen mit Lehrermangel helfen – oder zusätzlich belasten. Denn die Studierenden sollen jeweils von Mentoren, also Lehrern der Schule, betreut werden. „Das bedeutet also häufig mehr eine Be- als eine Entlastung für die Schulen, da die Einsätze natürlich auch innerhalb der Schulen koordiniert und die Praktikanten betreut werden müssen“, sagt Daniel Beyrodt, Lehrer und gleichzeitig Mentor für Lehramtspraktikanten an einer Gesamtschule im Kreis Hildesheim. Die GEW Niedersachsen sieht laut Hoffmann die Verlängerung des Studiums trotz dieser Mehrarbeit für Schulen positiv.
Während digitale Gadgets schon seit Jahren unseren Alltag dominieren, bleiben Schulen trotz Investitionen in der Zeit von Büchern und Kreidetafeln hängen. Weshalb ist das so?
Ungleiche Bezahlung für gleichwertige Arbeit
Durch die Verlängerung des Studiums werde endlich die Gleichwertigkeit der späteren Berufe zumindest in der Studiendauer anerkannt, so Hoffmann. Jetzt fehle nur noch die gleichwertige Bezahlung. In Niedersachsen sind Gymnasiallehrer mit A13 eine Gehaltsstufe höher eingestuft als andere Lehrer, die in der Gehaltsstufe A12 bezahlt werden. „Durch diese unterschiedliche Bezahlung gibt es ein Überangebot an Gymnasiallehrkräften“, sagt Hoffmann. Studierende entschieden sich durch die bessere Entlohnung eher für das Gymnasiallehramt. So mangelt es weiter an Lehrkräften für die übrigen Schulformen. Das Steuerungsinstrument der Bezahlung sei noch nicht nachjustiert worden, betont Hoffmann. Würde die Gehaltsklassifizierung angepasst, würde auch für Studienanfänger größerer Anreiz geschaffen, sich für das Lehramt in Grund-, Haupt-, Ober- und Realschulen einzuschreiben. Dieser zweite Schritt, den etwa Nordrhein-Westfalen 2017 gegangen ist, lässt in Niedersachsen noch auf sich warten.
Wohl noch gravierender ist die Kluft zwischen den verbeamteten und angestellten Lehrern. Die „nur“ angestellten Lehrer, die vom Land nicht verbeamtet werden, weil sie laut Informationen der GEW Deutschland nicht die entsprechende Ausbildung haben, zu alt sind, gesundheitlich nicht zur Verbeamtung zugelassen werden oder für die keine Planstelle existiert, müssen eine geringere Nettoentlohnung in Kauf nehmen und sehen auch deutlich niedrigeren Pensionsansprüchen entgegen. Der Grund: Angestellte Lehrer müssen bei gleichem Grundgehalt – anders als die verbeamteten Lehrer – Beiträge zu den Sozialversicherungen (Rente, Arbeitslosigkeit) leisten. Bis zu 20 Prozent des Bruttogehalts haben Angestellte weniger als verbeamtete Lehrer mit gleichen Aufgaben. Weitere Unterschiede: Beamte erhalten noch Kinderzulagen, auf die angestellte Lehrer verzichten müssen.
Prüfungstermine warten nicht
Dass generell Lehrer fehlen, ob nun angestellt oder verbeamtet, macht sich nicht nur in Unterrichtsausfällen bemerkbar. Organisatorische Aufgaben, Projektplanungen, Dienstbesprechungen und Konferenzen müssen trotzdem abgearbeitet werden. So ist laut einer Arbeitszeitstudie der GEW Niedersachsen zusammen mit der Universität Göttingen ein bedeutender Anstieg der Überstunden zu beobachten, sobald Personal fehlt. Der Studie zufolge arbeiten Lehrer durchschnittlich mehr als 46,5 Stunden in einer Woche. Darunter sind Spitzen von sogar 50 Arbeitsstunden in der Woche an Grundschulen verzeichnet. Aktuell seien es rund zwei bis drei Millionen Überstunden, die alle Lehrer Niedersachsens mit in die Herbstferien genommen haben, sagt Hoffmann. Dabei kompensiere die große Motivation der Lehrkräfte anfangs die hohe Belastung. Auf lange Sicht jedoch führe diese Belastung zu mehr gesundheitsbedingten Ausfällen. Das niedersächsische Kultusministerium war dazu gegenüber Campus38 für eine Stellungnahme nicht zu erreichen.
Für Jutta Hartmann aus Hildesheim ist der Fall klar. Gerade jetzt seien Lehrkräfte stark belastet, weil sie Ausfälle und Pensionierungen kompensieren müssten und auch wollten. Der Unterricht müsse trotzdem weiter laufen, das Curriculum eingehalten werden. Prüfungstermine lassen sich nicht aufschieben. Hinzu kommen Herausforderungen wie die Umsetzung der Inklusion mit allen damit verbundenen bürokratischen Aufgaben, das Unterrichten von Schülern, deren Muttersprache nicht Deutsch ist. Nebenbei wird Zeit in die Instandhaltung technischer Geräte investiert. Die Vorbereitung von Unterricht, Exkursionen und Schulveranstaltungen wird selbstverständlich nebenbei betrieben. Dies seien nicht einmal alle Aufgaben, die anfallen, stellt Lehrer Beyrodt dazu fest. Abgeordnete Lehrkräfte aus anderen Schulformen können sicher kurzfristig unterstützen, aber mittelfristig muss mehr Lehrpersonal einsatzbereit sein, um allen Anforderungen gerecht werden zu können.
Seit knapp fünf Jahren arbeiten Schulen in Niedersachsen nach dem Konzept der inklusiven Schule. Wie funktioniert das Konzept in der Praxis?
Es bleibt viel zu tun
Das niedersächsische Kultusministerium weiß um die Notlage an den Schulen. Es wirbt bereits stark um angehende Pädagogen, informiert über Fächer mit starker Personalknappheit und bietet Quereinsteigern aus der Wirtschaft Qualifikationsmaßnahmen als Lehrkräfte an. Das Problem: diese Maßnahmen – mit Ausnahme der Abordnung von Lehrkräften anderer Schulformen – greifen erst nach und nach. Erst sobald die Studenten fertig ausgebildet und die Quereinsteiger qualifiziert sind, können sie unser Bildungssystem am Laufen halten. Zudem stellt sich nun die Frage, ob die Personalplanungen der Kultusministerien an die neue Prognose der Schülerzahlen angepasst werden. Die finanziellen Mittel dürften kein Problem darstellen, denn aktuell sprudeln die Steuereinnahmen in Deutschland noch stärker als erwartet. Nun muss gehandelt werden.