Nach dem Abitur stehen viele Schüler vor einer großen und wichtigen Entscheidung: Studium, Ausbildung oder erstmal ein Jahr ins Ausland? Julie Lüpkes musste nicht lange überlegen. Sie wollte später einmal interaktive Schulbücher entwickeln. Den ersten Schritt in die richtige Richtung ging die Zwanzigjährige, als sie sich für einen von 327 Ausbildungsberufen in Deutschland bewarb und bei einem Schulbuchverlag aus Braunschweig eingestellt wurde: Sie machte eine duale Ausbildung zur Medienkauffrau Digital und Print. Bei einem Notendurchschnitt von 1,3 hatte das ihre Mitschüler und Lehrer verwundert: „Mit deinem Abi kannst du alles Mögliche studieren“, wurde ihr gesagt.
„Auf dem Gymnasium bekommt man ab der Oberstufe immer nur die Option eines Studiums aufgezeigt“, erzählt Julie. Sie nahm die kritischen Stimmen zur Kenntnis und ging trotzdem ihren eigenen Weg: entgegen dem Strom. Umfragen ergeben, dass rund 80 Prozent eines Jahrgangs eine Hochschule besuchen wollen. „Dass gefühlt alle Abiturienten direkt studieren wollten, war auch in meinem Jahrgang so. Es gibt aber viele, vor allem kaufmännische Ausbildungsberufe, die ein Abitur zu Recht voraussetzen. Dass die Ausbildung trotzdem nur als Möglichkeit für Real- und Hauptschüler gilt, finde ich unfassbar schade.“ Als Julie im Jahr 2013 ihren Ausbildungsvertrag unterschrieb, war sie eine von 25,3 Prozent der neuen Auszubildenden in Deutschland mit Studienberechtigung.
Betriebe – Berufsschulen – Bundesländer
Zwei koordinierte Lernorte bilden das Kernstück der dualen Ausbildung: Betriebe und Berufsschulen. Felix Wenzelmann beschreibt in seinem Buch „Rekrutierung, Ausbildungsmotive und Lohneffekte – Essays zur dualen Berufsausbildung“ die Funktionsweise des Systems folgendermaßen: „Das duale Ausbildungssystem zeichnet sich durch das Zusammenspiel von Arbeitgebern (Betrieben), Teilnehmenden (Auszubildenden) und Staat aus, wie es sie in der dieser ausgeprägten Form wahrscheinlich kein zweites Mal gibt. Nicht nur die Ausbildung selbst erfolgt im Betrieb und in der durch die Bundesländer staatlich finanzierten und organisierten Berufsschule, auch die Erstellung der und Überarbeitung von Ausbildungsordnungen erfolgt im Konsens zwischen Arbeitgebervertretungen, Arbeitnehmervertretungen und dem Bund und den Bundesländern.“ Des Weiteren betont er die Rolle der IHK und Handwerkskammern als unabhängige Instanz, wo unter anderem alle Ausbildungsverträge registriert und Abschlussprüfungen abgelegt werden.
Die besseren Gehaltsaussichten mit einem Hochschulabschluss dürften eine Rolle spielen, wenn sich Schüler dazu entschließen, ein Studium aufzunehmen. Das ifo Institut aus München fand heraus, dass das Lebenseinkommen von ausgebildeten Arbeitnehmern im Durchschnitt 600.000 Euro netto beträgt. Studierte verdienen der Studie zufolge rund eine Million Euro netto.
Die deutsche Bildungspolitik steht vor einer großen Herausforderung. Denn nicht nur Abiturienten fehlen den Betrieben. Insgesamt haben so wenig Jugendliche wie noch nie im Jahr 2016 einen Ausbildungsvertrag abgeschlossen, teilte das statistische Bundesamt mit: 510.900 neu abgeschlossene Verträge – das sind 1,1 Prozent weniger als im Vorjahr. Im Jahr 1999 unterschrieben noch 635.559 Jugendliche einen neuen Ausbildungsvertrag: der höchste Wert der letzten 26 Jahre.
Ursache Pisa-Schock 2001
Die Zahlen des Rekordtiefs zeigen, dass das viel gepriesene deutsche Ausbildungssystem in einer Krise steckt und es die Abiturienten an die Hochschulen zieht. Seit dem Jahr 2013 ist die Zahl der Studienanfängerinnen und Studienanfänger höher, als die Zahl der Anfängerinnen und Anfänger in der dualen Berufsausbildung. Will man verstehen, wie es zu dieser Ausbildungskrise kam, muss man in das Jahr 2001 zurückblicken. Das Jahr des Pisa-Schocks, als die deutschen Schüler bei der bekannten Schulleistungsstudie katastrophal abschnitten. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) empfahl der Regierung mehr Abiturienten und Hochschulstudenten für ein höheres Wirtschaftswachstum. Und die Politiker folgten dieser Empfehlung, da es mit dem deutschen Bildungssystem nicht zum Besten stand. Die Abiturientenquote lag niedriger als in anderen Ländern und diejenigen, die eine allgemeine Hochschulreife erworben hatten, machten einen großen Bogen um die Universitäten und Fachhochschulen. Experten warnten vor einem Akademikermangel. Die frühere Bundesbildungsministerin Annette Schavan sagte damals: „Unser Ziel ist es, dass 40 Prozent eines Jahrgangs studieren.“
„Heute studieren bereits über 50 Prozent eines Jahrgangs“, berichtete Schavans Nachfolgerin Johanna Wanka der Rheinischen Post. „Jeder, der erfolgreich studieren kann und will, soll diese Chance auch ergreifen können. Es ist aber problematisch, dass in manchen Branchen und Regionen junge Leute für die duale Ausbildung fehlen.“ Derzeit gibt es vermehrt Stimmen, die die schwindende Zahl möglicher Auszubildender kritisch sehen und aktiv die Ausbildung als Karrierepfad anpreisen. Die Kampagne des Bundesministeriums für Bildung und Forschung „Berufliche Bildung – praktisch unschlagbar“ richtet sich unter anderem gezielt an Schulabgänger mit Abitur. Als Erfolg verbucht das Ministerium, dass 2014 bereits 26,2 Prozent der neuen Auszubildenden eine Studienberechtigung besaßen. Die Unterschiede zwischen Hochschulen, die abstrakt-theoretisches Wissen vermitteln, und der Vermittlung berufspraktischer Inhalte in einer Ausbildung, scheinen zu verschwimmen, erkennt die Bertelsmann Stiftung. Beruflich orientierte Studiengänge und theoretisch-wissenschaftliche Inhalte in anspruchsvollen Ausbildungsberufen sind die Folge.
Auf der Suche nach dem Muster-Azubi
Vielen Betrieben fällt es dennoch schwer, passende Auszubildende zu finden. Disziplinlosigkeit, geringe Leistungsbereitschaft, schlechtes schulisches Wissen in Deutsch und Mathematik: Das sind Mängel, die Arbeitgeber bei ihren Bewerbern feststellen. Und auch deshalb blieben 2016 ca. 43.500 Ausbildungsplätze unbesetzt. Gerade in Handwerksbetrieben wird immer eine helfende Hand benötigt. Azubis sind hier wertvolle Arbeitskräfte. Die Bertelsmann Stiftung vermeldet, dass es Jugendliche, die maximal einen Hauptschulabschluss haben, und Jugendliche ohne deutsche Staatsbürgerschaft bei der Jobsuche besonders schwer haben. Sind vielleicht die Ansprüche der Betriebe im Zuge einer „Akademisierung“ vieler Ausbildungsberufe zu hoch?
Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) fand in einer Untersuchung heraus, dass 71 Prozent der befragten Betriebe Bewerbungen erhalten haben, die Bewerber aber für den angebotenen Ausbildungsplatz nicht geeignet waren. Dieselbe Studie ergab allerdings auch, dass sich 75 Prozent der Ausbildungsbetriebe auf leistungsschwächere Bewerber eingestellt haben. Nachhilfe im eigenen Betrieb, duale Studiengänge und Auslandsaufenthalte während der Ausbildung sind nur wenige Punkte, mit denen Betriebe für sich werben.
Ein weiteres Problem, mit dem sich Jugendliche auf Ausbildungsplatzsuche konfrontiert sehen, ist, dass die Beteiligung der Betriebe an der Ausbildung sinkt. Johanna Wanka kündigte deshalb vor zwei Jahren an, dass ihr Ministerium mit dem Ausbildungsstrukturprogramm „JOBSTARTER plus“ regionale Projekte fördern will, die insbesondere kleine und mittlere Unternehmen bei der betrieblichen Ausbildung unterstützen.
Lehrjahre sind keine Herrenjahre
Jannik Bannert entschied sich Kaufmann für Marketingkommunikation zu werden. Voller Vorfreude startete er in diesen neuen Lebensabschnitt und wurde nach kurzer Zeit auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Er löste seinen Ausbildungsvertrag vorzeitig auf. Woran hat es gelegen? „Der Hauptgrund war, dass ich in neun Monaten im Betrieb nur eine richtige Aufgabe hatte, die zu meinem Ausbildungsberuf passte.“ Von 150 Tagen, die Auszubildende im ersten Ausbildungsjahr im Betrieb verbringen, sind im Schnitt 54 Tage mit unproduktiven Aufgaben verbunden, 63 Tage arbeiten sie an einfachen Tätigkeiten und lediglich 33 Tage werden von Fachkräftetätigkeiten ausgefüllt. Unzufriedenheit mit dem Betrieb und dem Ausbilder, andere Berufsvorstellungen und bessere Jobaussichten mit einem Studium, sind die Gründe, warum fast 25 Prozent der Auszubildenden ihre Ausbildung vorzeitig beenden.
Auch Julie Lüpkes sagt, dass die ersten Monate im Betrieb für sie hart waren. Heute ist sie glücklich und bereut ihre Entscheidung nicht. Die Ausbildung sei das Beste gewesen, was ihr passieren konnte. Manchmal hatte Julie aber das Gefühl, dass die Auszubildenden als billige Arbeitskräfte und „Lückenfüller“ bei personellen Engpässen herhalten mussten. „Das ist natürlich für das Klima im Betrieb und unter den Auszubildenden sehr gefährlich und sollte unbedingt vermieden werden, wenn man die Auszubildenden nach ihrem Abschluss behalten möchte.“
Jannik Bannert konnte nicht überzeugt werden und entschied sich, Wirtschaftspädagogik und Politik in Göttingen zu studieren. Wäre es für ihn auch in Frage gekommen, die Ausbildung in einem anderen Betrieb fortzusetzen? „Grundsätzlich ja, aber im April wären die Chancen, einen neuen Ausbildungsbetrieb in der Region zu finden, sehr rar gewesen. Zudem habe ich als 450-Euro-Minijobber in der Zeit vor dem Studium effektiv mehr verdient als in der Ausbildung.“ Jannik fuhr also in der Übergangszeit bis zum Studium lieber Pizza aus, als seine Ausbildung fortzusetzen. Ein alarmierendes Zeichen.
„German efficiency“
Doch eine Medaille hat immer zwei Seiten. Denn viele Länder in Europa und der Welt versuchen, die duale Ausbildung zu kopieren und dadurch insbesondere die Jugendarbeitslosigkeit zu senken. Wie der Spiegel und die Zeit berichten, hat auch Bundeskanzlerin Angela Merkel mit Vertretern der deutschen Industrie bei Ihrem USA-Besuch im März das deutsche Modell präsentiert. Angeregt soll sie mit Präsidententochter und -beraterin Invanka Trump über das Thema diskutiert haben, während die Ausbildung in Deutschland ein Schattendasein fristet. Die hohe Wertschätzung der „german efficiency“ hat zum Beispiel Aaron Deppe in Australien weitergeholfen: „Als die Australier gesehen haben, dass ich eine Ausbildung in Deutschland gemacht habe, habe ich viel leichter einen Job bekommen.“ 60 Prozent der deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben eine Ausbildung absolviert. Das System muss also doch gut sein.
Aus Sicht ehemaliger Azubis liegen die Vorteile einer Ausbildung auf der Hand: „Ganz klar! Man verdient Geld“, sagt Annika Winter, gelernte Kauffrau für Bürokommunikation. Ihre Ausbildung bei einem Marktforschungsinstitut hat ihr Spaß gemacht. Dennoch sei es nichts gewesen, was sie 30 oder 40 Jahre machen wolle. Nach einem Jahr als Au-Pair im Ausland wurde ihr klar, was sie mit ihrer Zukunft wirklich machen möchte und entschied sich für den Studiengang Medienkommunikation in Salzgitter. Eine Entscheidung, die direkt nach dem Fachabitur für sie noch nicht in Frage kam. „Die Erfahrungen im Berufsleben, gekoppelt mit meinem Au-Pair-Jahr, haben mich definitiv erwachsen gemacht. Man ist viel mehr in der Lage, Dinge alleine zu klären, Verantwortung zu übernehmen und man ist deutlich ernsthafter bei der Sache.“ Zu ihren Kommilitonen, die gerade frisch aus dem Abitur kommen, erkennt sie einen Unterschied: „Man hat zwischendurch bei manchen, die gerade das Abitur gemacht haben, das Gefühl, sie sind noch etwas naiv und niedlich.“ Schnell ergänzt Annika noch, dass sie sich aber niemals als Expertin hinstellen würde.
Julie Lüpkes, die Medienkauffrau Digital und Print mit Einser-Abitur, studiert mittlerweile Medienwissenschaften in Braunschweig und kommt zu einem ähnlichen Urteil: „Meine Mitstudierenden, die gerade erst ihr Abitur gemacht haben, sind sehr viel unerfahrener, schlechter selbstorganisiert und unsicher, wahrscheinlich, weil sie nie gelernt haben, selbstständig und eigenverantwortlich zu arbeiten. Zudem hat man bei vielen den Eindruck, dass sie sich entweder das Studium etwas anders vorgestellt haben oder bei der Wahl ihres Studiengangs nicht wirklich ein Ziel vor Augen hatten.“
Mit einem Fuß in der Tür
Doch wie geht es nach der Ausbildung weiter? Rund zwei Drittel der Auszubildenden werden von ihren Ausbildungsbetrieben übernommen. „Die Unternehmen bekommen Mitarbeiter, die den Betrieb von Grund auf kennen und eventuell später in den höheren Etagen arbeiten“, sagt Annika Winter. Fachkräfte werden knapp, Herausforderungen bei der Besetzung steigen und deshalb steigen auch die Übernahmequoten, argumentiert der DIHK.
Julie Lüpkes ist während des Studiums ihrem Unternehmen treu geblieben und arbeitet dort weiterhin als Aushilfe, wo sie mehr verdient, als ein studentischer Mitarbeiter mit Bachelorabschluss. „Und das Gefühl, bereits einen Fuß in der Tür zu haben, ist natürlich auch beruhigend, wenn man sich anschaut, wie viele Leute mit Uniabschluss nachher Probleme bei der Arbeitssuche haben.“ Sie ist zuversichtlich, eine feste Anstellung nach dem Studium in Aussicht zu haben.
In diesem Sommer werden sich wieder viele Abiturienten fragen, wie es mit ihnen nach dem Abschluss weitergeht. 453.337 Abiturienten wurden 2016 gezählt. 1950 waren es noch 32.435 Schüler mit Studienberechtigung. Man kann wohl davon ausgehen, dass sich der Trend zu steigenden Abiturientenzahlen auch 2017 fortsetzen wird. Werden die Universitäten und Fachhochschulen wieder neue Rekorde verzeichnen und viele Betriebe leer ausgehen? Die Kultusministerkonferenz glaubt, dass sich der Ausbildungsmarkt stabilisiert hat und durch die Förderung der dualen Ausbildung die Fachkräfte von morgen gesichert werden, die der Wirtschaft heute noch fehlen. Hervorgehoben wird auch immer wieder die starke Integrationskraft der Ausbildung für junge geflüchtete Menschen. Flüchtlinge sind eine Zielgruppe, die noch verstärkt durch Ausbildungsmarketing angesprochen werden kann, denen aber auch erhöhte bürokratische Hürden im Weg stehen.
Wenn man den vielen angestoßenen Projekten und Konferenzen glauben darf, scheint es mit der dualen Ausbildung und dem deutschen Bildungssystem bergauf zu gehen. Die Revolution von oben, die 2001 angestoßen wurde, hat unser Land nachhaltig verändert. Und genauso wird es wieder passieren, wenn mit vereinten Kräften versucht wird, die Fehler von damals rückgängig zu machen. Bei allen Überlegungen der Politik und Wirtschaft die anhaltende Akademisierung zu stoppen, sollte man für die eigene Zukunft aber Folgendes bedenken: „Wenn das Studium notwendig ist, um das zu tun, was einen erfüllt, sollte man natürlich studieren!“, sagt Julie Lüpkes.