Für dumm erklärt

Ein sechsjähriger Flüchtlingsjunge wird am Ende des Schuljahres als „geistig behindert“ eingestuft, obwohl er zehn Monate vorher nicht ein Wort Deutsch sprach. Die Schule hat nicht die Zeit, den Jungen zu fördern. Ist das gerechtfertigt?

Montagmorgen in der Klasse 1b einer Nienburger Grundschule im August 2016. Amir*, der kleine schmächtige Junge mit den großen braunen Augen, sitzt ein wenig eingeschüchtert auf seinem Platz. Für seine Körpergröße ist der Stuhl zu niedrig und der Tisch zu hoch. Er wirkt ein wenig verloren. Andere Kinder tuscheln mit ihrem Sitznachbarn, Amir bleibt hingegen stumm und beobachtet seine Umgebung. Ein Stein geht durch die Sitzreihen der Erstklässler. Das Kind, welches den Stein in der Hand hat, soll von seinem Wochenende erzählen. Amir erzählt nichts, denn er spricht kein Deutsch.

Der damals Fünfjährige, einer der Jüngsten der Klasse, stammt aus dem Irak, gemeinsam mit seiner Familie kam er als Flüchtling in die Stadt an der Weser. Wie lange die Familie schon in Deutschland lebt, ist nicht bekannt. Weder er noch seine Familie verstehen Deutsch. Einen Kindergarten hat er nie von innen gesehen. Die ersten Wochen beobachtet er die anderen Kinder viel. Amir lernt Wörter, wie „Ja“, „Nein“ und „Weiß nicht“, die Bedeutung dahinter versteht er nicht immer. In der Klasse ist er eher ein Fremdkörper, da weder er noch seine Mitschüler ihn verstehen. Neben sprachlichen Problemen kommen die motorischen dazu. Man weiß nicht, ob Amir überhaupt schon mal vor seiner Schulzeit einen Stift oder eine Schere in der Hand gehalten hat. Man merkt ihm an, dass er Schwierigkeiten hat, den Stift richtig zu halten oder einfache Formen sauber auszuschneiden.

Zu dieser Zeit absolviere ich meinen Bundesfreiwilligendienst. Ich kümmere mich im Unterricht hauptsächlich um Amir. Korrigiere ihn beim Schreiben, erkläre ihm die Aufgaben und helfe ihm beim Bewältigen des Schulalltags. Die Verständigung klappt nur mit „Händen und Füßen“. Die Lehrer der Klasse 1b haben nicht die Zeit, sich regelmäßig um Amir zu kümmern. Auch die anderen 23 Kinder fordern ihre Aufmerksamkeit. Am Schuljahresbeginn steht der Förderbedarfstest von Förderschullehrerin Frau Behrends* an. Alle neu eingeschulten Kinder müssen sich dem mehrseitigen Test unterziehen. Eine Aufgabe lautet beispielsweise: Kreise das höchste Haus auf dem Bild ein. Diese Aufgaben erklärt Frau Behrends den Schülern in kleineren Gruppen mündlich. Amir schneidet im besagten Test schlecht ab: Er versteht die Aufgabenstellung nicht. „Amir ist wirklich schwach. Ich werde ihn fortan im Unterricht weiter beobachten und ihn fördern. Das größte Problem ist, dass ich schlichtweg nicht weiß, ob er mich versteht oder nicht“, sagt Frau Behrends.

Wir können uns ja nicht teilen“

„Frau Logemann, ich brauch Hilfe“, fleht Amir mich an. „Ich kann dir leider gerade nicht helfen. Ich komme, wenn ich Zeit habe“, antworte ich mit dem Arbeitsauftrag im Kopf, sich heute vermehrt um die anderen Kinder zu kümmern. Es ist Matheunterricht, das Fach, in dem Amir die größten Probleme hat. Ohne Hilfe ist es für ihn kaum möglich, dem Unterricht zu folgen und die Aufgaben zu lösen. Mein Arbeitsauftrag lautet, sich heute und fortan in den Mathestunden vermehrt auf die anderen Kinder zu konzentrieren, die eine realistische Chance haben das Schuljahr der ersten Klasse zu schaffen. Amir gehört nicht dazu. Mathelehrerin Frau Pehls* sagt: „Wir können uns ja nicht teilen. In der Klasse sind mehrere Kinder mit größeren Schwierigkeiten. Amir ist leider der Schwächste und hat in meinen Augen keine realistische Chance, die erste Klasse zu schaffen. Da fällt er dann leider hinten runter.“

Amir nervt es, wenn seine Buchstaben und Zahlen zum gefühlt zweihundertsten Mal wegradiert werden. Ein verzweifeltes „Ich kann das nicht“ kommt über seine Lippen. „Doch, das kannst du! Versuchs noch mal“, ermutige ich ihn. Dann setzt er erneut an und es klappt gleich viel besser. Amir will lernen und macht Fortschritte, nur aufgrund der Kommunikationsprobleme und der fehlenden Motorik schafft er in den Schulstunden nicht so viel wie andere. Er hängt im Schulstoff hinterher.

Im Deutschunterricht kommt Amir besser zurecht, nur das Lesen funktioniert überhaupt nicht: Amir kann zwar einzelne Buchstaben aufsagen, doch zusammenziehend lesen kann er sie nicht. Förderschullehrerin Frau Behrends meint, dass dies häufiger bei Kindern aus dem arabischen Raum vorkomme. Lesen lernt Amir bis zum Schuljahresende nicht. Der junge Iraker nimmt auch am Förderprogramm „Deutsch als Zweitsprache“ (DAZ) teil. Amir zeigte sich in den Stunden stets bemüht und lernfähig. „Am Anfang war ich wirklich skeptisch, aber er hat sich wirklich toll entwickelt“, sagt die Kursleiterin.

Der ist zu dumm dafür“

„Warum machen die das?“, sagt Amir und schlägt dieselbe Seite mit den Matheaufgaben auf, die seine Mitschüler aufschlagen. „Die sind schon weiter und wir hier noch nicht fertig“, sage ich. Ein leicht genervtes Stöhnen von Amir, aber schließlich macht er die Aufgaben. Er wirkt zunehmend frustrierter aufgrund der Tatsache, dass er andere Aufgaben machen muss als die anderen. „Warum macht Amir was anderes?“, fragt sein neugieriger Sitznachbar. Hier und da hört man von vorlauten Klassenkameraden auch schon mal ein „Der ist zu dumm dafür“. Amir, der sonst stets fleißig und bemüht seine Aufgaben erledigt hat, stellt sich plötzlich quer, auch weil ihm nicht mehr in dem Umfang geholfen wird, wie er es bis dato gewohnt gewesen ist. Der Fokus liegt nun auf seinen Klassenkameraden, die eine höhere Chance für eine Versetzung in Klasse zwei haben. Er wird frech und arbeitet nicht mehr an seinen Aufgaben, spielt lieber mit Stiften oder lenkt seine Sitznachbarn ab. Seine Art zu zeigen: „Hilf mir endlich, sonst mach ich gar nichts mehr“.

Allgemein jedoch bekommt man den Eindruck, Amir blüht auf. In der Erzählrunde vom Wochenende am Montagmorgen erzählt Amir nun regelmäßig, dass er mit seinem Bruder Fußball spielt. Stolz zeigt er mir seine neuen Stifte. Ein anderes Mal erzählt er von seiner neugeborenen Schwester Carolina. Amir hat insgesamt drei Geschwister. Einen älteren Bruder, der die Oberschule in der Nähe besucht und seine beiden jüngeren Schwestern. An manchen Tagen holt ihn seine Mutter von der Schule ab. Die Kommunikation mit den Eltern, insbesondere am Anfang des Schuljahres, ist schwierig, da sie kein Deutsch sprechen. Die Unterschriften für wichtige Dokumente oder Geldabgaben für Klassenausflüge fehlen oft wochenlang. Erst als Amir selbst besser Deutsch versteht, bessert sich die Situation.

Auf Drängen der Mathematiklehrerin wird Amir zunehmend mehr von den Förderschullehrern in den Blick genommen. Laut mehreren Förderschullehrern ist Amir in der Entwicklung, im Vergleich zu seinen Mitschülern, weit zurück. Einerseits kann dies an der mangelnden Kommunikationsfähigkeit liegen, andererseits weiß niemand, was der Junge bisher erlebt hat und ob eventuelle Traumata aus der Vergangenheit vorhanden sind. Dennoch ist es auch möglich, dass Amir geistig eingeschränkt ist. Laut einem weiteren Förderschullehrer der Schule sei Amir in einem „grenzwertigen Bereich“, der sich schwer einschätzen ließe. „Es kann gut sein, dass Amir einfach mehr Zeit benötigt“, sagt der Förderschullehrer. „In meiner Förderschulklasse gibt es ein Intelligenzspiel, welches ich auch mit Amir durchgeführt habe. Im Gegensatz zum Großteil meiner Schüler mit geistigen Einschränkungen hat Amir dieses Spiel sofort verstanden und gelöst.“

Ein externer Förderschullehrer, der zuvor noch nicht mit Amir gearbeitet und dementsprechend unvoreingenommen ist, beobachtet Amir im Unterricht und führt einzelne Tests mit ihm durch. Am Schuljahresende prüft er Amir auf eine mögliche geistige Behinderung. Er befindet: Amir ist geistig beeinträchtigt, ein Antrag auf Fördermaßnahmen im GE-Bereich („Geistige Entwicklung“) sollen für das kommende Schuljahr eingeleitet werden. Laut einer Definition für eine Einschränkung der geistigen Entwicklung, zeige Amir eine verminderte Aufassungsgabe und tue sich schwer, komplexe Zusammenhänge zu verstehen. Und warum hat Amir nicht einfach die erste Klasse wiederholt? „Dann hätten wir auch sechs bis sieben Kinder aus jeder anderen Klasse versetzen müssen und dann wären die neuen ersten Klassen viel zu groß. So bleibt Amir in der Klasse in seinem gewohnten Umfeld und wird nach seinen Möglichkeiten gefördert“, antwortet Mathelehrerin Frau Pehls. Noch vor den Herbstferien hatte Frau Pehls versucht, Amir in einen Sprachheilkindergarten zu schicken, das habe aber „leider nicht funktioniert“. Für Amir heißt das künftig: Er wird in die zweite Klasse versetzt, wird aber fortan mit anderen Materialien, selbstständig und losgelöst vom eigentlichen Unterricht, arbeiten. Er wird das Schreiben, Rechnen und Lesen lernen, allerdings mit einem geringeren Anforderungsprofil und leichteren Aufgaben. Je nach Schweregrad der geistigen Behinderung, besteht die Möglichkeit eine Schulbegleitung für Amir anzufordern.

Heute sitzt Amir in der zweiten Klasse, erledigt seine Matheaufgaben selbstständig. Während seine Mitschüler an die Tafel schauen, an der die Mathematiklehrerin gerade erklärt, wie man im Zahlenraum bis hundert subtrahiert, schaut Amir in sein Heft. Es ist anders als die Hefte der anderen Kinder: weniger Text, viele selbsterklärende Bilder. Auch der Lernstoff ist anders. Während seine Mitschüler mit Zahlen bis Hundert rechnen, beschäftigt Amir sich mit Rechenaufgaben im Zahlenraum von eins bis zwanzig. Mehrmals in der Woche lernt er das Lesen mithilfe einer Förderschullehrerin, welches auch schon besser funktioniere, heißt es. Vom anfänglichen schüchternen Jungen ist nicht mehr viel übrig: Er albert herum und „baut auch schon mal Mist“, so eine Lehrerin. Er spreche mittlerweile „recht gut Deutsch und könne sich klar äußern“.

Ob Amir tatsächlich geistig behindert ist oder nicht, ist heute kaum zu entscheiden. Im System Schule muss er funktionieren, ob er sprachliche Defizite hat oder nicht. Sozialpädagogen müssen bei einer Diagnose sehr sensibel sein, denn das Stigma der „geistigen Behinderung“ wird man, wie im Beispiel von Nenad Mihailovic, so schnell nicht wieder los.

 

*Name von der Redaktion geändert

 

Infokasten: Erschreckende Parallele? Der Fall Nenad Mihailovic

„Sie haben mir mein Leben kaputt gemacht“, sagt der 20-jährige Nenad Mihailovic zum Prozessauftakt 2017. Er verklagt das Bundesland Nordrhein-Westfalen auf Schadensersatz und Schmerzensgeld, da er elf Jahre zu Unrecht eine Sonderschule für geistige Behinderung besuchen musste, obwohl er darum bat, eine geeignetere Schule zu besuchen. Wie Amir kam Nenad Mihailovic als Flüchtling aus Serbien nach Deutschland und sprach bei seiner Einschulung kein Deutsch. Auf der Grundlage eines IQ-Tests diagnostizierte ein Sonderpädagoge ihn als „geistig behindert“. Später stellt sich heraus, dass Milhailovic, durch Ansetzung eines neuen IQ-Tests, das Potenzial eines durchschnittlich intelligenten Menschen hat. Mittlerweile macht Mihailovic einen Realschulabschluss.

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