Gewalt im Amateurfußball – Wie Schiedsrichter zur Zielscheibe werden

Es ist ein sonniger Sonntagvormittag auf einem Amateurfußballplatz in Berlin. Für den angesetzten Schiedsrichter Stefan Paffrath ist es Routine. Seit über 22 Jahren pfeift der fußballbegeisterte Lehrer Amateurfußballspiele im Umkreis von Berlin. Doch dieses Spiel sollte einen anderen Verlauf nehmen, als er es sich je hätte ausmalen können.

Zu Beginn läuft alles ruhig. Paffrath leitet das Spiel zwischen dem BSV Al-Dersimspor und dem Frohnauer SC problemlos. Nach der überraschenden 2:0 Führung der Heimmannschaft zur Halbzeit kippt das Spiel. Al-Dersimspor kassiert den Anschlusstreffer, dann eine Gelb-Rote Karte. Die Spieler stellen sich gegen den Schiedsrichter, eine normale Kommunikation ist nicht mehr möglich. Nach Spielende ist Paffrath auf dem Weg in die Kabine, um sich umzuziehen. Er hat vier Platzverweise verteilt. Aus dem Nichts trifft ihn eine Faust im Gesicht. Ein Spieler von Al-Dersimspor hatte ihm mit voller Wucht ins Gesicht geschlagen. Vereinsmitarbeiter können den gewaltbereiten Akteur noch zurückhalten, sodass der Unparteiische in die Kabine flüchten kann.

Leider ist dieses Beispiel kein Einzelfall. Laut Angaben des DFB verlaufen über 99 Prozent aller Amateurspiele störungsfrei. Wenn man sich aber vor Augen führt, dass es mehrere zehntausend Begegnungen pro Wochenende gibt, lässt das auf ein enormes Gewaltpotential schließen. In der Saison 2018/2019 gab es knapp 4.000 Gewalthandlungen im Amateurbereich. Davon galten ca. 3.000 dem Schiedsrichter. Bei solch einer Statistik ist es nicht verwunderlich, dass die Zahl der Schiedsrichter in den letzten acht Jahren auf 56.000 gesunken ist. Der Rückgang ist so enorm, dass man mit den zurückgetretenen Schiedsrichtern einmal das Stadion von Eintracht Braunschweig komplett füllen könnte. Hinzu kommt die sehr geringe Bezahlung. Pro Spiel bekommt ein Kreisligaschiedsrichter zwischen 20 und 35 Euro Aufwandsentschädigung. Und wer will sich schon für nicht viel mehr als ein Taschengeld 90 Minuten lang beleidigen und bedrängen lassen?

Es muss sich also die Frage gestellt werden, wie und warum es zu diesen Gewaltszenarien kommen kann. Dafür gibt es mehrere potentielle Gründe.

Dem Schiedsrichter die Schuld zu geben ist einfacher, als sie bei sich selbst zu suchen. Dabei muss berücksichtigt werden, dass Schiedsrichter häufig alleine für ein Spiel verantwortlich sind und keine Unterstützung durch Linienrichter haben. Dadurch ist es sehr schwer, knifflige Situationen wie Abseits oder Tätlichkeiten außerhalb des Sichtfelds richtig einzuschätzen und zu ahnden. Das berücksichtigen viele Spieler allerdings nicht und lassen ihrem Ärger über vermeintliche Fehlentscheidungen freien Lauf.

Ein weiterer Grund für die Aggressionen kann der aufgestaute Frust im Alltag sein, welcher auf dem Spielfeld rausgelassen werden kann. Laut dem Fußball-Soziologen Gerd Dembowski fungiert Fußball als „Ventil für Unterschwelligen Alltagsfrust“. Leider aber im positiven wie negativen Sinne. Einer feuert seine Lieblingsmannschaft im Stadion an, um so seinen Frust loszuwerden. Ein anderer beleidigt und schlägt den Schiedsrichter. Ein Problem kann hierbei die Vorbildfunktion der Profis sein. Amateure gucken die Spiele ihrer Idole, wo es auch regelmäßig zu Rudelbildungen rund um den Schiedsrichter kommt. Das senkt die Schwelle, dies auch selber im Amateurbereich zu tun. Es gibt allerdings einen großen Unterschied. Den Profis ist meist bewusst, dass ein Schlag oder ähnliches ein abruptes Karriereende und damit der Sturz in die Arbeitslosigkeit bedeuten kann. Für einen Amateurkicker fällt „nur“ das Hobby für eine unbestimmte Zeit weg.

Jeder Spieler muss sich vor Augen halten, dass der Schiedsrichter auch nur ein Mensch ist. Und genauso wie ein Mittelfeldspieler einen Fehlpass spielen oder ein Stürmer das Tor verfehlen kann, macht auch der Schiedsrichter Fehler. Niemand macht diese Fehler absichtlich.

Wie geht der DFB nun gegen diese negative Entwicklung vor?

„Gegen Täter muss konsequent gehandelt und im Schuldfall streng geurteilt werden“ so Ronny Zimmermann, DFB-Vizepräsident für den Bereich Schiedsrichter in einem DFB internen Interview zum Thema Gewalt im Amateurfußball. Auch Kampagnen wie „#WirstellenGewaltinsAbseits“ oder „Unsere Amateure – Echte Profis“ zielen darauf ab, die Gewalt gegen Schiedsrichter und Gegenspieler einzudämmen. Ob den Worten auch Taten folgen, bleibt abzuwarten.

Zurück auf den Fußballplatz. Seit dem Vorfall ist mehr als ein Jahr vergangen. Es ist wieder ein hitziges Spiel. Stefan Paffrath steht unter enormen Druck, 70 Augenpaare sind nur auf ihn gerichtet. Kurz vor Schluss gibt er einen vermeintlichen Elfmeter nicht. Doch alle Spieler bleiben ruhig. Niemand kommt auf die Idee, den Unparteiischen zu attackieren. Alle geben dem Schiedsrichter nach Abpfiff die Hand, die aufgestauten Aggressionen werden runtergeschluckt. Abschließend trinkt man noch gemeinsam ein Bier, es wird gelacht und sich über die Bundesliga unterhalten.

Das muss kein fiktives Szenario bleiben. Im Endeffekt geht es im Amateurbereich weder um finanzielle Mittel, noch hängt jemand von dem Erfolg seines Vereins ab. Spaß und Sportsgeist stehen im Vordergrund. Doch wenn sich Spieler das nicht konsequent vor jedem Spiel ins Gedächtnis rufen, macht das den Amateurfußball auf lange Sicht kaputt.

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