Sein Körper ist tief nach unten gebeugt, der Blick auf den flimmernden Asphalt gerichtet. Er rast die steile Abfahrt herunter, im Windschatten eines Konkurrenten. „Mit 60 km/h.“ Die Rechtskurve wird immer enger. „Das war zu schnell.“ Er krallt sich am Lenker fest, spürt, wie die Fliehkräfte einsetzen. „Dann ist mir die Straße ausgegangen.“ Jan Brockhoff schlägt auf dem Boden auf, sein Rennrad fliegt über ihn hinweg. Er stürzt die Böschung hinunter, landet in einem vertrockneten Gebüsch. Ein stechender Schmerz zieht durch seine rechte Schulter: „Ich habe sie abgetastet, der Knochen stand fast raus. Da wusste ich, das Rennen ist vorbei.“ Dann verliert der Sportler das Bewusstsein.
Jan Brockhoff sitzt am Ende des langen Holztisches. Entspannt lehnt er sich in den weichen Lederstuhl, die Arme vor sich aufgelegt. Aus den Lautsprecherboxen spielt leise seine Playlist vor sich hin. Charts, ein bisschen alte 80er. Die großen Fensterscheiben laden die letzten, warmen Strahlen der Abendsonne ins Wohnzimmer des Elternhauses ein. Mit ruhiger Stimme erzählt der junge Mann aus Holle von seinem ersten Schlüsselbeinbruch beim Junioren Weltcup Tour of Istria 2011 in Kroatien.
„Als ich wieder zu mir gekommen bin, hat mich ein Teamkollege von hinten unter den Schultern gepackt und mich aufgefordert, weiterzufahren – das ging natürlich nicht“, sagt der 22-Jährige. „Schon ärgerlich, ich war gut unterwegs.“ Seine Fahrt setzt er in einem Krankenwagen fort, ins nächstgelegene Hospital: Ein heruntergekommenes Gebäude mit zersplitterten Fenstern, staubigen Ablagen, umherkrabbelnden Ameisen und einigen Krankenschwestern, die rauchend vor der Zimmertür stehen. „Die wollten mich dort operieren“, erzählt Jan Brockhoff, lacht und schüttelt den Kopf. „Das war ein größerer Schock als die Verletzung an sich.“
Der Heimflug ist schnell organisiert. Fünf Tage nach dem Sturz wird der Sportler in einem Hildesheimer Krankenhaus operiert – und sitzt vier Tage später im Wohnzimmer auf der Rolle. „Nach zwei Wochen durfte ich auch wieder auf der Straße trainieren“, sagt er. „Sechs Wochen nach der OP bin ich schon mein erstes Rennen gefahren.“ Neben einer ordentlichen Portion Willenskraft habe vor allem das funktionale Athletiktraining von Christof Klocke zur schnellen Regeneration beigetragen. Der Physiotherapeut aus Hildesheim unterstützt Jan Brockhoff inzwischen seit über zehn Jahren. „Das wichtige an einer gesunden Entwicklung ist der Aufbau einer breiten Basis in den Bereichen Beweglichkeit, Kraft, Koordination und Schnelligkeit“, so Klocke. Sein Schützling befolgt dieses Prinzip, das sich langfristig als Erfolgsrezept herausstellt.
Das Ziel lautet World Tour
Im Alter von acht Jahren sitzt Jan Brockhoff zum ersten Mal auf einem Rennrad. Übergesprungen ist der Funke der Begeisterung während eines Familienurlaubs an der Ostsee. Gespannt verfolgt der Junge damals die Tour de France 2003 im Fernsehen und feuert Jan Ullrich an. Fasziniert vom Profizirkus des Radsports tritt er in den RSC Hildesheim ein. „Nach den ersten Minuten auf einem Rennrad wusste ich: Das ist es, was ich machen will“, erinnert sich der Holler. Nach seinen ersten Erfolgen entwickelt er schnell den Wunsch, Profi zu werden. Damals wusste er aber noch nicht, wie viele Zwischenziele man erreichen muss, um es bis nach ganz oben zu schaffen.
„Jeden Tag widme ich all meine Energie dem Radsport. Das ist meine Lebenseinstellung.“ Und für diese, so sagt der Jungprofi, lohne es sich zu kämpfen: Jeder Schweißtropfen, jeder Sturz, jeder Muskelschmerz seien es wert, in das Ziel World Tour investiert zu werden. Niemand hat den Sportler auf diesem Weg so intensiv begleitet wie sein Vater Jens Brockhoff: „Ich weiß noch, wie der Bursche mit zehn Jahren in der fünften Klasse morgens um 6.30 Uhr fragte, wie er um 13.00 Uhr nach der Schule zu seinem Nudelsalat kommt, um gestärkt zum Training zu fahren. Jan hat schon als kleiner Junge seinen Tag auf die Viertelstunde hin genau geplant und den Sport auch während der Schule nie vernachlässigt.“
Ruhig, beharrlich, ehrgeizig. So beschreibt sich Jan Brockhoff in drei Worten selbst. Diese Eigenschaften haben sich im Laufe der Jahre gefestigt. „Leistungssport ist eine gute Schule fürs Leben“, sagt der 22-Jährige, der bis 2012 aktiv für den RSC Hildesheim gefahren und parallel drei Jahre für das weltweite Sponsoring Programm Canyon Young Heroes an den Start gegangen ist. 2013 kommt sein Karrierestein richtig ins Rollen: Ein Jahr lang fährt er für das Thüringer Energie-Team, das 2014 aus finanziellen Gründen aufgelöst wird. Anschließend ist er bis 2015 Fahrer im niederländischen Nachwuchsteam von Giant Shimano. „Als dann auch Giant aufgelöst wurde, war das ein ganz schöner Schlag für mich“, erinnert sich Jan Brockhoff, der aber noch im selben Jahr einen Vertrag beim AWT GreenWay Cycling Team aus Tschechien unterschreibt. Ebenfalls für ein Jahr, denn „jedes Jahr ist ein Vertragsjahr.“ Seit 2016 fährt der Holler für das luxemburgische Team Leopard Pro Cycling.
„Ich habe einfach nur ums Überleben gekämpft.“
Doch wie viel Team steckt wirklich in dem 15-köpfigen Rennstall? „Bei Rennen können meist nur sechs bis acht Fahrer an den Start gehen“, sagt Jan Brockhoff. „Indirekt stellt das schon eine gewisse Konkurrenz dar. Glücklicherweise überwiegt bei uns aber ein freundschaftliches Verhältnis im Team.“ Trotzdem zählt am Jahresende der Erfolg jedes Einzelnen, der über eine Zukunft im Radsport entscheidet. Wie schmerzhaft dieser Weg zum Erfolg sein kann, bekommt der 22-Jährige gleich zu Beginn seiner Zeit bei Leopard Pro Cycling zu spüren – während der ersten Etappe der Tour d’Alsace 2016: Bei einer Geschwindigkeit von 50 km/h verliert er die Kontrolle über sein Rad, stürzt und rutscht mehrere Meter die Straße entlang. Nur die millimeterdünne Sportbekleidung trennt seine Haut vom rauen Asphalt. Das Ergebnis: Großflächige, rote Wunden am ganzen Körper. Dann trifft der junge Mann eine Entscheidung, die wieder einmal zeigt, dass er immer noch derselbe Jan Brockhoff ist, der für seinen Traum Grenzen überschreitet, die für Normalsterbliche vermutlich kaum auszudenken sind. In zerschundenem Zustand und zerrissenen Klamotten setzt er das Rennen fort. Etappe für Etappe. „Ich habe einfach nur ums Überleben gekämpft.“ Und dafür große Anerkennung vom Team erfahren.
Dass der Radsport immer wieder mal Todesopfer fordert, ist Jan Brockhoff bewusst. „Ich habe schon ein schlechtes Gefühl, wenn so etwas passiert“, gibt er zu. „Das zeigt, wie gefährlich der Sport ist. Diese Negativseite muss man einfach akzeptieren.“ Auch das Thema Doping prägt die Schattenseiten der Rennradszene seit Jahren. „Es ist ein leidiges Thema“, findet der Holler und vertritt damit die gleiche Einstellung, wie es Jan Ullrich zu seiner Zeit getan hat – bis der Dopingskandal ans Tageslicht kam. Stellen die unerlaubten Mittel für jemanden, der für seinen Lebenstraum Tag für Tag Grenzen überschreitet, überhaupt noch eine Grenze dar? „Mir war zwar schon immer klar, dass ich Profi werden will, aber bestimmt nicht um jeden Preis. Bei Doping wäre Schluss. Denn ich traue mir auch in anderen Berufen eine Zukunft zu“, antwortet Jan Brockhoff. So haben letztlich auch die recht ungewissen Zukunftsaussichten als hauptberuflicher Profisportler den jungen Mann dazu veranlasst, im Juni 2016 zusätzlich ein Fernstudium aufzunehmen: Sales und Management an der Euro FH in Hamburg. Neben seiner Liebe zur italienischen Küche und seinem Interesse an Autos ist der 22-Jährige nämlich besonders für die Wirtschaft zu begeistern: „Artikel im Internet lesen, Nachrichten schauen und hin und wieder die Börse vor acht verfolgen.“
Ein normales Studentenleben ist nicht drin
Was seine Zukunft angeht, hat der Profisportler feste Vorstellungen: „Im Sport ist ganz klar mein Ziel, einen Vertrag in der World Tour zu bekommen. Beruflich möchte ich meinen Bachelor erfolgreich beenden und sicher auch einen Master dranhängen.“ Motiviert nach vorn marschieren, mit eisernem Willen und einer dennoch entspannten Lebenseinstellung. Vor allem Lina Brockhoff schätzt diese Eigenschaft an ihrem Bruder. „Jan lässt sich nie aus der Fassung bringen, egal, wie schwierig die Situation ist“, sagt die 17-Jährige. „Er ist außerdem für jeden Spaß zu haben und ich kann mich immer auf ihn verlassen.“
Jan Brockhoff halte sich momentan „an zwei Seilen“ fest, von denen er wohl früher oder später eines loslassen wird. Dieses Doppelleben beeinflusst seinen Alltag maßgeblich, etwa 150 Tage im Jahr ist er mit dem Rennrad unterwegs: Rennen, Teamtreffen, Trainingslager oder Teampräsentationen. „Insgesamt lebe ich schon anders als normale Studenten“, erzählt er. Partys, Alkohol oder langes Ausschlafen kommen für ihn nicht infrage. In seiner Stimme ist jedoch keine Spur von Wehmut zu hören. Diese Lebenssituation sei für ihn selbstverständlich, das Resultat eines über die Jahre gewachsenen Systems. „Meinen Freundeskreis sehe ich ungefähr alle zwei Monate. Kurz vor einem Rennen bin ich bei Treffen natürlich nicht dabei, um die sportliche Leistung bringen zu können. Ansonsten bin ich fast jeden Tag mit dem Rennrad unterwegs, manchmal bis zu sechs Stunden“, sagt er. „Entsprechend esse ich auch ziemlich viel – aber bewusst gesund.“
Mit einem Suppenlöffel kratzt der Holler die letzten Haferflocken seines Müslis aus der Schale, das er sich soeben mit einem frischen Apfel zubereitet hat. Während er kaut, denkt er noch ein paar Sekunden über die Frage nach dem schönsten Erlebnis in seiner sportlichen Karriere nach. „Es sind so viele“, sagt er und grinst. „Als ich 2012 die Deutsche Meisterschaft gewonnen habe! Drei Monate vorher habe ich mir nämlich zum zweiten Mal bei der Tour of Istria das rechte Schlüsselbein gebrochen und viel Energie ins Comeback investiert.“ Wenn Jan Brockhoff darüber erzählt, wirkt er alles andere als gekränkt. „Man geht jede Saison zu Bruch, Stürze gehören dazu.“ Natürlich habe er auch schon den ein oder anderen Tiefpunkt in seinem Leben durchlitten. „Aber nach einem Tief kommt auch wieder ein Hoch. Man muss das Ganze nicht übermäßig dramatisieren.“ Übermäßig ernst nehmen sollte jeder Mensch hingegen, stets ein Ziel vor Augen zu haben. „Man merkt, wenn Leute einfach so durchs Leben plätschern“, meint er. „Ich zum Beispiel raffe mich jeden Tag auf, lerne und trainiere.“ Psychischen Druck habe er in dieser Hinsicht noch nie verspürt. „Ich würde das eher als gesunden Ehrgeiz bezeichnen.“
Am Ende des Interviews gibt der 22-Jährige Profisportler ein Schlusswort mit auf den Weg – man müsse schließlich weiterkommen im Leben: „Ich möchte etwas aus mir machen. Und ich denke, das sollte jeder. Denn man bekommt nichts geschenkt auf dieser Welt. Umsonst ist nur der Tod.“ Jan Brockhoff steht langsam vom Tisch auf, bringt seine Müslischale in die Küche. Auf dem Weg zurück ins Wohnzimmer bleibt er im Flur vor seinem Rennrad stehen, das an einer dunkelbraunen Holzkommode lehnt. Helm, Trikot und Hose, zwei Vollkornriegel und eine Trinkflasche liegen dort schon für das morgige Training bereit. Für weitere Stunden im Sattel, für weitere 180, vielleicht 200 Kilometer, die ihn seinem Ziel näher bringen.