Hijab: Pflicht und Segen

Muslimische Frauen in westlichen Gesellschaften stehen beim Thema Kopftuch vor einem unlösbaren Konflikt. Entweder kämpfen sie gegen die Vorurteile der Gesellschaft an, oder gegen die ihrer Familie. Das ist ungerecht.

Alle Plätze sind belegt. Kinder schreien. Hunde winseln. Der Bus fährt los. Vor ihr steht ein Mann. Groß, breitschultrig und ganz in schwarz gekleidet. In der Hand hält er sein Handy. Schaut sich ein Video an. Hinter ihm erstarrt eine Kopftuchträgerin. Die Bilder, die sie auf dem Bildschirm sieht, sind weltweit bekannt. Christchurch. Der Terroranschlag auf Moscheen in Neuseeland. Plötzlich dreht sich der Mann um. Ein Grinsen verzerrt sein Gesicht. „Du solltest lieber aufpassen“

Viele Frauen, die ihre Haare bedecken, werden alltäglich mit dem Thema Kopftuch konfrontiert. „Warum trägst du ein Kopftuch?“, „Machst du es freiwillig“ oder „Wirst du dazu gezwungen?“ sind Fragen, mit denen sich Kopftuchträgerinnen auseinandersetzen müssen.

Warum tragen Frauen Kopftücher?

Hierzu gibt es eine Vielzahl an Gründen. Die einfachste Antwort lautet, weil man glaubt, dass Gott es den gläubigen Frauen zur Pflicht gemacht hat. Im Koran steht: „Und sag den gläubigen Frauen, sie sollen ihre Augen niederschlagen, und ihre Keuschheit bewahren, den Schmuck, den sie tragen, nicht offen zeigen, soweit er nicht normalerweise sichtbar ist, und ihre Tücher über ihre Busen ziehen.“ (Koran 24: 30-31). Diese aus dem Arabischen übersetzten Verse werden als die Verse des Kopftuchs bezeichnet und die islamischen GelehrtInnen legen diese so aus, dass sie das Tragen einer Kopfbedeckung zur Pflicht machen.

Juan ist 24 und trägt das Kopftuch seit ihrem zehnten Lebensjahr. Anfangs von mütterlicher Seite auferlegt, tut sie dies heute freiwillig. Für sie hat das Kopftuch eine tiefere Bedeutung. Durch das Hijab hat sie Entscheidungen getroffen, die sich für sie rückblickend als richtig herausgestellt haben. Früher konnte sie nie nein sagen. Nur wenn es um Alkohol oder Zigaretten ging, blieb sie standhaft. Das Tuch erinnert sie daran, dass sie eine Muslima ist und man diese Güter nicht konsumieren sollte. Ihr Tuch gab ihr die nötige Kraft nein zu sagen.

So ergeht es auch der 21-jährigen Naza. Mit 15 Jahren entschloss sie sich, das Kopftuch aufzusetzen. Diese wichtige Entscheidung trifft sie nicht von einem Tag auf den anderen. Sie befasst sich mit diesem Thema intensiv und beschließt dann, dass es die richtige Wahl ist. Angefangen damit hat sie in Irak, einem islamisch geprägten Land. So fiel ihr der Einstieg leichter.

Anfänge des Hijabs

Das Kopftuch ist keine muslimische Erfindung: In verschiedenen Regionen und vielen Epochen haben Frauen aufgrund der klimatischen Bedingungen oder der gesellschaftlich- religiösen Verhältnisse eine Kopfbedeckung getragen. Die Verschleierung orientierte sich auch an der sozialen und politischen Stellung, sowie der jeweiligen Mode. Es gab nur wenige Regionen und Zeiten, in denen man nicht bedeckt auftrat. Doch seit der Aufklärung und der Emanzipation der Frauen verdecken sich Frauen hierzulande nicht mehr.

Im Islam entstand die Verschleierung vor rund 1400 Jahren auf der arabischen Halbinsel. Das heiße Klima veranlasste deren Bewohner, sich mit weiten, langen Gewändern zu bekleiden und ihren Kopf mit einem Tuch zu schützen. Der Stoff legte sich um den Körper und verhinderte in der sengenden Hitze und der trockenen Luft dessen übermäßige Austrocknung. Somit hat die Verhüllung des Körpers auf der Insel eine lange Tradition, die älter ist als der Islam selbst.

Hijab, Niqab und Burka

Es ist sehr wichtig, die verschiedenen Arten der muslimischen Verschleierung zu unterscheiden. Die drei bekanntesten sind der Hijab, der Niqab und die Burka. Hierbei ist die meistgetragene Kopfbedeckung der Hijab, der Haare, Hals und Ohren bedeckt und in verschiedenen Farben getragen werden kann. Der Niqab geht deutlich weiter. Er ist ein Schleier, der das Gesicht verdeckt und nur einen Schlitz für die Augen offenlässt. Manchmal ist auch dies mit einem dünnen Schleier verdeckt. Dazu tragen Frauen ein schwarzes Gewand. Die Burka ist die extremste Form der Verschleierung. Die Augen sind hinter einem feinmaschigen Gitter versteckt und ermöglichen somit ausschließlich die Sicht nach vorne. Oft ist die Burka blau, es gibt sie aber in verschiedenen Farben.

Glaube ist ein wichtiges Motiv,

das Frauen angeben, wenn sie nach dem Grund des Kopftuchtragens gefragt werden. Das Kopftuch – also das Hijab – kann in islamischen Ländern unterschiedliche Bedeutungen haben. Für die einen befreit es sie von der Wahrnehmung als Sexualobjekt, während es für andere die symbolische Trennung von öffentlichem und privatem Raum darstellt. Nach dem Koran dürfen Kopftuch- Trägerinnen ihren Schleier nur in Anwesenheit von Familie und nahestehenden Verwandten ablegen. Einerseits dient es als Zeichen zur Abgrenzung gegen die Verwestlichung, wo Frauen sich immer freizügiger kleiden. Anderseits kann es – etwa im Gottesstaat Iran – als Unterdrückungsinstrument von Männern gegenüber ihren Frauen angesehen werden. In Ländern, wo das Tragen keine Pflicht ist, wird das Kopftuch als Ausdruck für kulturelle Zugehörigkeit oder Traditionsbewusstsein verstanden – so etwa in der Türkei. Zu unterscheiden sind also die Funktion des Kopftuchs, je nach Rechtslage vor Ort, an dem es getragen wird – also der Staatsverfassung und die individuellen Gründe der Trägerin, sofern diese Wahlfreiheit denn gegeben ist. Deshalb dient das Hijab als identitätsstiftendes, emanzipatorisches und als politisches Symbol.

Männer entscheiden, ob ihre Frauen ein Kopftuch tragen

 In einigen Familien, auch in Deutschland, ist dies tatsächlich noch immer der Fall. Vereinzelt zwingen Elternteile ihren Kindern das Kopftuch auf. In der Regel bestimmt dies der Vater. Der Großteil der muslimischen Mädchen darf jedoch selbst entscheiden. Sie haben die Möglichkeit, sich bewusst für oder gegen das Hijab auszusprechen.

In einigen Ländern wie im Iran ist die Frau gesetzlich verpflichtet, sich zu verdecken. Seit 1979 herrscht in dem Land der Verhüllungszwang für Frauen. Ein Gesetz, das stark kritisiert wird und gegen das Teile der Bevölkerung sich auflehnen. „Frauen sollten das Recht haben, selbst wählen zu dürfen“, findet Sanaa. Familien, die ihre Frauen zum Kopftuch tragen zwingen, tun das nicht wegen der Religion oder dem Glauben. Grund ist die Kultur, in der die Menschen aufgewachsen sind.

Die 23-jährige Sanaa hat sich im Laufe ihres Lebens bewusst für das Hijab entschieden. Sie studiert, reist um die Welt und würde niemals zulassen, dass ein Mann über sie bestimmt. Das Problem hierbei ist, dass die Kopfbedeckung das einzige nach außen hin sichtbare religiöse Symbol ist. „Wenn muslimische Frauen kein Hijab getragen hätten, sondern ein Tattoo am Finger hätten, das wäre genauso umstritten“, glaubt Juan.

Schutz vor den Blicken der Männer

 „Ein Statement, das meist aus Unwissenheit getätigt wird“, findet Naza. Frauen argumentieren damit, wenn sie sich selbst nicht im Klaren darüber sind, wieso sie das Kopftuch tragen. Der ursprüngliche Gedanke dabei ist, dass die Frau durch die Kopfbedeckungen nicht mehr als Sexualobjekt angesehen wird. Durch Gewänder wie Burka und Niqab verstecken Frauen ihre Reize und entziehen sich somit der Aufmerksamkeit der Männer.

In der heutigen Gesellschaft jedoch erregt das Tragen eines Kopftuchs mehr Aufsehen, als es sie davor schützt. Für Männer, die aus ihrer islamisch geprägten Heimat geflüchtet sind, wirkt die Kopfbedeckung gar nicht abschreckend. Es erinnert sie an die Heimat, in der man Frauen oft ungestraft anmachen darf. Das Hijab vermittelt in diesem Fall keine Unnahbarkeit. Dass eine Kopfbedeckung Frauen vor den Blicken der Männer schützt, ist nur ein Wunschdenken. Nicht die Kleidung schützt eine Frau, sondern allein der Respekt, den die Gesellschaft ihr entgegenbringt.

Verbot des Kopftuchs – eine wiederkehrende Diskussion

In Europa ist die Kopftuch-Debatte eng mit der Frage von Migration und Integration verbunden. Das laizistische Frankreich begann in den 80er Jahren die Fragen von Integration und Immigration in Fragen der Religionspolitik umzuformulieren. Entscheidend war die Kopftuchdebatte von 1989: Drei 13-jährigen muslimischen Mädchen wurde das Betreten der Schule untersagt, weil sie sich weigerten, ihr Kopftuch abzulegen. Die Argumentation: Kinder seien bis zur Pubertät religiös unmündig und das Kopftuch zwinge sie in vorgefertigte Geschlechterrollen. Ferner hindere es sie daran, ein selbstbestimmtes Leben zu führen.

Muslimische Kinder werden durch dieses Verbot diskriminiert. Es verstößt gegen das Grundrecht, worin die Religionsfreiheit verankert ist. Außerdem nimmt man Mädchen ihr Grundrecht auf Bildung, wenn sie sich gegen dieses Verbot wehren. Kinder, die freiwillig ein Kopftuch tragen, werden grundlos bestraft. Vor allem sollte man nicht darauf achten, was Kinder auf dem Kopf tragen, sondern was sie im Kopf haben.

 Aber auch Frauen, die mit Hijab einen Beruf ausüben wollen, stehen unter Beobachtung. Eine Lehrerin kommt in einer Grundschule in Berlin mit ihrem Hijab zum Unterricht. Nach nur einem Tag wird sie vom Dienst freigestellt und versetzt. Der Grund: nach dem Berliner Neutralitätsgesetz dürfen Lehrer an allgemeinbildenden Schulen während des Dienstes keine religiös geprägten Kleidungsstücke tragen. Die Lehrerin klagte dagegen an. Das Gericht befand das Neutralitätsgesetz für verfassungswidrig.

Die Zulässigkeit von Kopfbedeckungen in öffentlichen Ämtern ist immer wieder Thema vor Gericht – und wird fallweise stets anders entschieden. Das Bundesverfassungsgericht hatte 2015 das Kopftuchverbot an Schulen eingeschränkt und die Religionsfreiheit betont. Vom Kopftuchtragen allein gehe noch keine Gefahr aus. Seither entscheidet jedes Bundesland selbst, wie man mit muslimischen Lehrerinnen an Schulen umzugehen hat. In Niedersachsen ist das Tragen einer Kopfbedeckung erlaubt. Nur wenn der Schulfrieden gefährdet oder die staatliche Neutralität in Gefahr ist, kommt ein Verbot in Frage.

Das Ablegen des Hijabs

 Ob mit oder ohne Kopftuch: Keine Entscheidung ist leicht. Wenn Frauen freiwillig das Kopftuch ablegen, dann tun sie das nicht leichtfertig. Es ist ein sehr mutiger Schritt, weil viele andere Frauen dies aus Angst nicht machen. Angst über die Blicke, die sie von ihren Verwandten und aus der Umgebung ernten. „Das Kopftuch ist nicht gerade einfach. Es beeinflusst jeden Bereich deines Lebens“, weiß Naza.

Benachteiligung in der Jobauswahl, in der Wohnungssuche oder im Studium können Gründe sein. Naza selbst hat während der Suche nach einer geeigneten Wohnung schlechte Erfahrungen gemacht. Sie wurde bei der Wohnungsbesichtigung zuerst nach ihrem Kopftuch gefragt, anstatt zum Beispiel nach ihrem Beruf. Auch Juan hat schon oft daran gedacht, das Kopftuch abzulegen. „Es nimmt einem in dieser Gesellschaft ein Stück Normalität.“ Damit sieht man anders aus als andere. Man werde darauf reduziert und damit identifiziert. „Das Kopftuch ist ein Teil von dir, aber du bist nicht das Kopftuch.“

 Aber auch, wenn man das Kopftuch tragen möchte, braucht Frau ein starkes Selbstbewusstsein – sie muss die Blicke und Stereotype der Mehrheitsgesellschaft ertragen können. Dass eine Frau mit Kopftuch oft belächelt, bemitleidet oder gar auf der Straße von Fremden angesprochen wird, kommt immer noch oft genug vor. Es ist eine traurige Tatsache, die hauptsächlich auf die negative und einseitige Berichterstattung der Medien, sowie auf Vorurteile und Missverständnisse zurückzuführen ist.

Deshalb ist es wichtig klarzustellen, dass unter dem Kopftuch durchaus selbstbewusste, denkende, demokratisch gesinnte Frauen stecken, die ein Recht darauf haben, ernstgenommen zu werden. Besonders an die jüngere Generation müssen diese Werte vermittelt werden. Frauen mit Kopftuch gewinnen in der Gesellschaft immer mehr an Bedeutung. Sei es in der Politik, im Sport oder im Berufsleben. Sie haben ein Recht darauf, sich weiterzubilden und selbst für ihre Zukunft und Rechte zu kämpfen.

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