Wenn man an wirksame Heilmethoden denkt, fallen einem auf Anhieb verschiedene Medikamente ein. Und das nicht nur bei körperlichen, sondern auch bei psychischen oder sozialen Beschwerden. Menschen mit ADHS bekommen beispielsweise Ritalin verschrieben, andere sollen bei Angstattacken selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer einnehmen. Therapieformen wie die Reittherapie werden oftmals gar nicht erst in Betracht gezogen. Dabei zeigt gerade die Therapie rund um das Pferd erstaunliche Resultate.
Was genau ist das therapeutische Reiten?
Laut dem Kuratorium für therapeutisches Reiten kann man die Reittherapie in vier Fachbereiche aufteilen: die Hippotherapie, das heilpädagogische Reiten, die ergotherapeutische Behandlung mit dem Pferd und das Reiten als Sport für Menschen mit Behinderungen.
Für Patienten mit körperlicher Behinderung ist die Hippotherapie (Hippos = altgr. Pferd) eine geeignete Heilmethode. Oftmals wird die Therapie ergänzend zu anderen physiotherapeutischen Maßnahmen ärztlich verschrieben. Hippotherapie wird genutzt, um unter anderem physiotherapeutisch zentrale Bewegungsstörungen zu behandeln. Diese Bewegungsstörungen sind entweder angeboren oder nachträglich aufgekommen, wie zum Beispiel Multiple Sklerose oder eine Querschnittslähmung. Ziel der Therapie ist eine Verbesserung der Bewegungs- und Koordinationsfähigkeit. Das Pferd hat hier eine besondere Wirkung. Der Gang des Tieres ist dreidimensional, was dem menschlichen Gang entspricht. Das bedeutet, dass die Muskeln eines körperlich eingeschränkten Patienten trainiert und gelockert werden, sobald er auf dem Rücken des Tieres sitzt. Allerdings ist eine hundertprozentige Heilungsgarantie nicht gegeben. Deshalb sollte die Hippotherapie nur durch einen ärztlichen Befund verordnet worden sein und individuell auf die Patienten angepasst werden.
Während die Hippotherapie ein bestimmtes körperliches Krankheitsbild von Patienten behandeln soll, dient die ergotherapeutische Behandlung mit dem Pferd den Menschen, die durch ihre eingeschränkte Handlungsfähigkeit im generellen Alltag Probleme haben. Anhand der Therapie sollen die Behandelten in den Bereichen Selbstversorgung, Produktivität und Freizeitgestaltung gefördert werden. Der Patient soll durch die Ergotherapie in seinem Alltag aktionsfähiger werden und so am sozialen Leben teilnehmen können.
Bei Menschen mit psychischen, sozialen, emotionalen und motorischen Störungen, wie zum Beispiel Autismus und ADS/ADHS, kann das heilpädagogische Reiten helfen. Die Therapie umfasst hier nicht nur das eigentliche Reiten auf den Pferden, sondern auch der Umgang mit dem Tier. So wird das soziale und emotionale Verhalten von Patienten gefördert, indem beispielsweise die Einhaltung von Regeln und Absprachen trainiert wird. „Wenn es eine Gruppe von Kindern ist, werden die Aufgaben verteilt und jeder darf etwas machen. Das ist dann der Aspekt des sozialen Lernens: Was kann ich, wie kann ich mir helfen, was machen die Anderen. Wie komme ich am besten zu meinem Ziel: dem Reiten“, sagt Daniela Mick-Spindler, Reittherapeutin in Braunschweig. Auch kognitive Fähigkeiten, wie Konzentration oder sprachliche Kompetenz, werden beim heilpädagogischen Reiten gefördert. Durch das Reiten auf dem Tier wird außerdem die Motorik von Patienten angeregt. Patienten entwickeln ein besseres Gefühl für Gleichgewicht und lernen, Körperspannung zu halten.
Reiten als Sport für Menschen mit Behinderung ist im weitesten Sinne ein Fachbereich der Reittherapie. Im Vordergrund steht hier der Sport und nicht die Therapie an sich. Durch besondere Vorkehrungen, wie zum Beispiel speziell angefertigte Sättel, ist es auch für schwerbehinderte Menschen möglich, sich im Reitsport zu betätigen.
Das Pferd als Therapiepartner
Der Körper, die Bewegung und das Verhalten von Pferden bieten viele Möglichkeiten in der therapeutischen Arbeit. Die Wärme der Tiere, zusammen mit der Bewegung, wirken entspannend und lösend. Außerdem sind die Gangarten des Pferdes fördernd im motorischen Bereich. Auch das Wesen der Vierbeiner ist zuverlässig und fördert das Vertrauen der Patienten. Laut Daniela Mick-Spindler ist auch die Interaktion mit dem Therapiepartner emotional fördernd: „Das Pferd ist unvoreingenommen. Habe ich nur ein Bein, sitze ich im Rollstuhl, habe ich einen Tick und muss alles zweimal anfassen – Es nimmt einen so, wie man ist.“
Die wichtigste Grundlage für die Therapiepferde ist die Beziehung zu den Therapeuten. Da sich sowohl der Therapeut als auch das Therapietier komplett aufeinander verlassen müssen, muss das Vertrauen zueinander sehr groß sein. „Vertrauen ist ganz wichtig. Egal, was für ein Spielzeug kommt, egal, wer auf meinem Rücken sitzt, der Fels in der Brandung ist der Therapeut“, erklärt Mick-Spindler.
Es kommt bei Therapiepferden nicht auf eine bestimmte Rasse an. Vielmehr müssen die Charaktereigenschaften der individuellen Tiere stimmen, um für die Behandlung in Frage zu kommen. Therapiepferde müssen ein ruhiges, neugieriges und offenes Wesen haben. Sie sollten nicht schnell in Panik verfallen und länger stillstehen können. Um das Wesen der Tiere zu beeinflussen, spielt die Aufzucht eine große Rolle. So prägt die Sicht des Muttertiers schon oft die Art und Weise, wie ein Pferd zu Menschen steht. Auch Sozialkontakte und Haltungsbedingungen, sowie der Zeitpunkt des ersten Trainingsbeginns zählen zu wichtigen Faktoren, welche die Jungtiere prägen.
Damit ein Pferd als sicherer Therapiepartner gelten kann, ist eine Ausbildung notwendig, um die hohen Anforderungen der Therapie einzuhalten. Um sicher in der Therapie mitarbeiten zu können, müssen die Tiere desensibilisiert werden. Pferde sind Fluchttiere. Das bedeutet, dass sie in Paniksituationen instinktiv wegrennen. Therapiepferde dürfen sich so etwas nicht erlauben. „Ein Therapiepferd muss lernen, wenn es sich erschrickt, stehen zu bleiben“, so Mick-Spindler. Die Desensibilisierung trägt dazu bei, dass die Therapiepartner ruhig bleiben ohne ihre Neugier, Offenheit und Sensibilität zu verlieren. Damit dies geschieht, ist die Ausbildung der Tiere fortlaufend. Mick-Spindler erklärt: „Ein Therapiepferd ist nie fertig ausgebildet. Es muss immer wieder neu mit Herausforderungen konfrontiert werden.“
Ein weiterer Punkt, der ein gutes Therapiepferd ausmacht, ist die eigene Fitness des Tieres. Ein Therapiepferd muss ausgelassen und fit sein, da die körperliche und geistige Gesundheit der Tiere Hand in Hand gehen. Wenn das Pferd nicht genug bewegt wird, spannt es sich an. Und ein angespannter Therapiepartner kann nicht sicher seinen Aufgaben nachgehen.
Letzten Endes kommt es auch bei Therapiepferden auf die artgerechte Tierhaltung an. Ein Mindestmaß an Bewegung, das richtige Futter, ausreichend Wasser und artgerechte Schlafplätze gehören zu den Faktoren, die die Tierhaltung ausmachen. Ein weiterer Punkt, der bei der artgerechten Pferdehaltung von großer Priorität ist, ist der soziale Kontakt. Schließlich sind Pferde von Natur aus Herdentiere. „Für mich ist ganz wichtig, dass die Pferde in einer Herde leben, damit sie ein geregeltes Sozialverhalten ausleben können“, stimmt Mick-Spindler zu.
In Deutschland werden die Kosten für eine Reittherapie in der Regel nicht von den Krankenkassen übernommen. Das liegt daran, dass der therapeutische Nutzen der Therapie vom Bundesministerium für Gesundheit als nicht erwiesen betrachtet wird. Allerdings zeigen Studien durchaus, dass die Reittherapie positive Ergebnisse erzielen kann. Eine Studie der TU Braunschweig beweist beispielsweise, dass bei Kindern mit ADHS die Reittherapie einen positiven Effekt erzielt. Auch Daniela Mick-Spindler kann von der Wirkung der Therapie berichten: „Ich hatte eine Mutter mit einem dreijährigen Kind, das hatte chronische Verdauungsprobleme und hat nicht gesprochen. Nach einer Sitzung hat sich die Verdauung gelöst und das Kind sprach. Ich kann das medizinisch nicht erklären, aber finde das immer wieder erstaunlich.“ Angehörige schildern ebenso die positive Entwicklung, die die Patienten machen. Viele berichten von der Ausgeglichenheit und dem gesteigerten Selbstvertrauen der Patienten, seitdem sie die Therapie angefangen haben.
Dass die Reittherapie vielen Menschen hilft, ist mehr als deutlich. Die Aussagen der Therapeuten, Patienten und Angehörigen beweisen die Wirkung. Gerade sobald eine klare Verbesserung bei den Patienten vorzuweisen ist, sollten die Therapiekosten von der Krankenversicherung übernommen werden. Schließlich ist die Aufgabe der Krankenkassen, das Leben der Patienten durch Finanzierung von Krankheitsbehandlungen zu verbessern – und die Reittherapie ist eine Art, wie das Leben der Behandelten positiv beeinflusst werden kann.