Hoffnung für einen neuen Tag

Jonny Boucher sagt: „It’s ok not to be ok.” Der Konzertveranstalter aus Chicago engagiert sich im Rahmen seiner Non-Profit-Organisation Hope For The Day für die Suizidprävention vor allem in der Musikszene.

2010 nimmt sich Jonnys damaliger Chef und Mentor das Leben. Ab diesem Tag realisiert Jonny Boucher, er muss etwas dafür tun, dass andere Menschen nicht dasselbe durchleben müssen. Mit 14 Jahren sammelt Boucher erste Erfahrungen als Konzertveranstalter. 2009 schließt er seinen Bachelor of Arts in Marketing am Columbia College in Chicago ab, steht danach zwei Jahre als Marketing- und Werbeleiter bei einem Konzertveranstalter unter Vertrag. Musik ist ein fester Bestandteil seines Lebens. Schnell erkennt er, durch die Arbeit in vielen Musikgenres, dass es in jedem Publikum immer Leute gibt, die psychisch leiden. Gerade in dem Einstiegsbereich der Punk- und Hardcore-Musik sieht er, dass viele der jungen Leute im Publikum die typischen Außenseiter sind und sie die Musik nutzen, um eine Flucht aus dem Alltag zu suchen.

Als sein Chef Suizid begeht, verliert Jonny die erste Person, die Vertrauen in ihn steckt. Er hatte ihm zugetraut, riesige Festivals und große Gigs zu planen. Nach außen zeigt sein Chef Mike die Dämonen nie, die in Ihm gesteckt haben müssen. Als Jonny den Anruf bekommt, dass Mike vom Balkon seines Appartements gesprungen ist, wird ihm klar, er muss auch etwas an seinem eigenen Leben ändern. Boucher fängt an, nach und nach die Puzzleteile zu sammeln, welche zu Hope For The Day, kurz HFTD, werden sollen. Er nutzt die Kontakte und Schlüsselpersonen, welche er in der Musikindustrie durch seine Beschäftigung als Konzertveranstalter kennengelernt hat, um sich ein Netzwerk von Menschen aufzubauen, die ihn dabei unterstützen können, das Tabuthema Depression zum Gesprächsthema zu machen.

Du kannst nicht jeden retten“

Somit schließen sich diverse Bands, Clubs, Plattenlabels und sogar Musikzeitschriften wie „Alternative Press“ als wichtige Kooperationspartner mit HFTD zusammen. So wird schnell aus einer Organisation die es sich zum Ziel macht, proaktiv gegen Suizid zu wirken, ein Mindset, welches sich langsam aber sicher durch die Musikszene schleicht. Durch Prävention versucht Jonny mit HFTD eine Plattform zu schaffen, die sich als Vermittler von Informationen, Ressourcen und einer Verbindung zu professioneller Hilfe versteht. Oder aber auch einfach nur als offenes Ohr für eine Person, die jemanden zum Reden braucht.

 

Suizid

Suizid ist die zweithäufigste Todesursache bei Menschen zwischen 15 und 34 Jahren. Sie ist laut WHO auf Platz zehn der weltweiten Todesursachen in Industrieländern. Täglich nehmen sich allein in den Vereinigten Staaten 121 Menschen das Leben. Das ist vermeidbar, wenn Menschen Hilfe annehmen.

„Meine Mutter hat mir vor einer langen Zeit mal gesagt, ich kann nicht jeden retten. Dann meinte ich nur zu ihr ‚Warum denn nicht? Ich will es versuchen.’ Das war extrem scheiße für mich, zu wissen, dass sie recht hat“, sagt Boucher, fügt allerdings auch an: „Wenn man jeden Tag diese Geschichten von den Kids hört, kann man nicht anders als zu denken, fuck, denen geht es gerade einfach nur scheiße. Ich finde in solchen Momenten ist es wichtig, dass man den Menschen Aufmerksamkeit und Zeit schenkt, sie wissen zu lassen, dass das, was sie gerade durchmachen, nur temporär ist und dass es okay ist, nicht okay zu sein. Es ist verdammt wichtig, das zu machen.” Klar wird, dass für den 32-Jährigen das Reden, die direkte und offene Kommunikation zwischen zwei Personen, einen Großteil der proaktiven Prävention ausmacht.

Jonny erzählt, dass er sein Leben neu ausbalancieren muss, um mit den großen Belastungen, die aus den täglichen Interaktionen mit Menschen hervorgehen, klar zu kommen. Er mag wie viele Bücher, Yoga und natürlich Musik.

Ehemals Suizidgefährdete als Ansprechpartner


Das Team, das über die Jahre um ihn herum entstanden ist, ist sehr familiär geprägt. Für Jonny ist es wichtig, dass auch wenn er mal mehrere Wochen mit einer Band auf Tour ist und zwischen den Songs zum Publikum spricht, er, wenn er wiederkommt, mit allen redet. Nach seinem Empfinden kann man in E-Mails und Kurznachrichten viel zu viel hinein interpretieren, was unter Umständen zu Missverständnissen führen kann. Er versucht nicht nur Arbeit zu delegieren, sondern fordert Input, fragt nach neuen Ideen und Vorschlägen, sodass jeder etwas einbringen kann. Auf die Frage, wie er sein Team aufgestellt hat, sagte er: „Mir ist es wichtig, die Menschen hinter den Gesichtern zu kennen. Ich möchte genau wissen, was jeder kann, wo die Stärken und Schwächen liegen. Das ist wichtig, denn nur so kann man ein versatiles und starkes Team aufbauen.“

Jonny Boucher (Quelle: www.instagram.com/jonnyboucher/)

Authentizität spielt für Boucher eine große Rolle. Er möchte keine Organisation aufbauen, die nur oberflächlich den Anschein erweckt, etwas mit dem Umfeld, mit dem sie arbeitet, zu tun zu haben. Sondern vielmehr Menschen zu haben, die sozusagen „aus den eigenen Reihen“ der Betroffenen kommen, um die bestmögliche Hilfestellung zu gewährleisten. So kann es sein, dass der Junge oder das Mädchen, welches vor einem halben Jahr selbst am kämpfen war, heute hinter einem der Stände steht.

Vorerst möchte Jonny Boucher versuchen, HFTD als Non-Profit-Organisation von der UN anerkennen zu lassen. Dies würde weitaus größere Projekte und Kampagnen ermöglichen, auch über die US-Grenzen hinaus. Bisher ist HFTD ausschließlich auf Spenden und Merchandise-Verkäufe angewiesen. Boucher ergänzt: „So wie wir mit der Musikindustrie zusammenarbeiten, möchten wir auch mit Athleten, Schauspielern oder der Gastronomie zusammenarbeiten.“ Das gesamte Interview hält Jonny in einem ernsten, aber zugleich lockeren Ton. Man merkt, dass ihm das Thema unter die Haut geht, er sich dennoch nicht von diesem düsteren Thema unterkriegen lässt: „Ich denke, es ist wichtig zu verstehen, dass psychische Gesundheit überall ist und jeden betrifft. Wir sind alle gleich, wir sind alle gefährdet und es ist wichtig, so viele Gemeinschaften wie nur möglich einzubinden. Nur so können wir die Leben von Menschen retten und das ist das wichtigste überhaupt.“

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