Hongkong 2019 – Warum sich die Jugend radikalisierte

Die seit Sommer 2019 laufenden Demonstrationen in der chinesischen Sonderverwaltungszone Hongkong sind die größten seit der Regenschirm-Bewegung von 2014. Während der Massenproteste kam es immer wieder zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Polizei und Demonstranten. Wie ist es so weit gekommen?

Im Grunde hat der Aktivismus der Studenten schon lange eine wichtige Rolle in den politischen Entwicklungen gespielt. Ein Beispiel hierfür ist die Regenschirm-Bewegung, bei der sich die Organisationen „Hongkong Föderation der Studenten“ (HKFS) und „Scholarism“, beides Studentenbewegungen, maßgeblich beteiligten. Der aktuelle Anstieg des Jugend-Radikalismus ist besonders auf den langwierigen Prozess der Demokratisierung Hongkongs zurückzuführen. Denn 1997 kehrte Hongkong als einstig englische Kolonie unter Beibehaltung der freien Marktwirtschaft und innerer Selbstbestimmung zur kommunistischen Volksrepublik China zurück. Unter den Studenten und jungen Menschen machten sich Frustration und Enttäuschung breit, die durch das Versagen der Regenschirm-Bewegung nur noch verstärkt wurden.

In der jungen Bevölkerung verbreitete sich schnell eine weitreichende Anti-China Einstellung, die als Lokalismus verstanden wird. Die autoritäre Ein-Parteien-Politik des Festlandes wird als schädlich für Hongkongs moralische Standards und seine Freiheit angesehen. Der zunehmende Eingriff der chinesischen Regierung in Hongkongs Angelegenheiten lässt die Angst vor einem Verlust der so geschätzten Selbstbestimmung wachsen. Viele Jugendliche sehen Gewalt daher als letzte Chance, ihre Freiheit und damit Unabhängigkeit vom Festland zu erhalten. Für sie ist es das Mittel des Widerstandes, mit dem sie Hongkongs Kultur, seine Werte und den ganz eigenen Lifestyle unbedingt erhalten wollen.

Dieser Drang nach Selbstbestimmung liegt vor allem in der Sonderrolle Hongkongs begründet: Lange war der Metropole als „Tor zum Rest der Welt“ eine besondere Bedeutung für Chinas Wirtschaft zugekommen. Die im Jahr 2008 von der Regierung festgelegte Verschmelzung der neun Städte im Perlflussdelta, besonders Shenzhen, hat jedoch zunehmend Hongkongs Rang geschwächt. Der Ballungsraum im Delta, einstiger Standort für billige Industrieproduktion, hat sich durch den Ausbau in ein globales Innovationszentrum für Hochtechnologie entwickelt. Wo früher noch der Zug durch Reisfelder fuhr, verlaufen heute eine Hochgeschwindigkeitsstraße sowie Autobahnen an zahlreichen Werkhallen, Apartmentgebäuden und Hochhäusern vorbei. Die Region zählt zu den vier größten Zentren für Wirtschaft, Finanzen und Technologie weltweit.

Doch mit dem Ausbau der Perlflussregion ging auch die weitere Anbindung Hongkongs an das Festland einher. Nach neun Jahren Bauzeit wurde im Oktober 2018 die längste Seebrücke der Welt eröffnet, die Hongkong, Macau und Zhuhai miteinander verbindet. Das Projekt selbst war wegen tödlichen Unfällen von Bauarbeitern, dem Vorwurf der Korruption sowie dem massiven Eingriff in die Natur von der Bevölkerung stark kritisiert worden. Darüber hinaus schwächt es weiter die wirtschaftliche Stellung Hongkongs und könnte damit bald seinen Untergang bedeuten. Die Einwohner und vor allem junge Menschen kämpfen zunehmend mit einer wachsenden sozialen Ungleichheit: Geld vom Festland drückt die Wohnungspreise nach oben und die Konkurrenz um Jobs wächst. Ihnen wird scheinbar die Existenzgrundlage genommen.

Hinzu kommt, dass 2047 die Unabhängigkeitsrechte Hongkongs auslaufen werden. Spätestens dann scheint die vollständige Eingliederung zu China unausweichlich. Womöglich ist es auch genau diese Zukunftsaussicht, bekräftigt durch die aktuellen Entwicklungen im Perlflussdelta, die die Hongkonger Jugend gewaltsam auf die Straßen treibt. Klar ist jedoch, dass die führungslosen Proteste bisher zu keiner Durchsetzung ihrer Forderungen geführt haben. Das resultierende Chaos in diesem Jahr hat Hongkongs Beitrag zum Wirtschaftswachstum praktisch nicht existent werden lassen.

Die Geschichte lehrt uns jedoch, dass alle erfolgreichen Bewegungen eine Führung haben, die eine Einheit und strategische Planung überhaupt erst ermöglicht. Das zerstreute Vorgehen der Studenten hat zwar den Vorteil, dass niemand als Anführer der Proteste zur Verantwortung gezogen und verhaftet werden kann, doch können unterschiedliche Ziele und Forderungen eine nachhaltige und erfolgreiche Bewegung behindern. Ob sie sich also selbst im Weg stehen oder ihre Bemühungen doch noch Erfolg bringen werden, bleibt abzuwarten.

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