„Ihr Herz schlägt nicht mehr“ – fünf einfache Wörter. Fünf Wörter, die schmerzhafter nicht sein könnten. Noch vor ihrer Geburt hat Tilda sich zu den Sternen aufgemacht. Zurück auf der Erde ließ sie ihre Eltern: Jessica, 24 und Christopher, 27.
Raus. Atmen. Das stumme Entsetzen und die vollkommene Leere. „Es gab einfach gar keine Anzeichen.“ Es war ein kühler Donnerstagmorgen im Mai, im achten Monat. Sie hatten einen Termin zur Schwangerschaftsanerkennung. Jessica erinnert sich noch genau. „Christopher kam mit drei Rosen, weil wir an dem Tag offiziell eine Familie werden würden.“ Denn rechtlich gesehen, ist man nur Vater, wenn dieser mit der Mutter des Kindes verheiratet ist. Ist dies nicht der Fall, muss die Vaterschaft anerkannt oder gerichtlich festgestellt werden. „Wir waren noch den Montag davor bei der Hebamme, sie hat auch ein CTG gemacht und da war alles super.“ Noch auf dem Amt spürte Jessica die letzten, kräftigen Tritte ihrer Tochter. Danach wurde es still. Keine Bewegung mehr – auch am nächsten Morgen nicht. Daraufhin fuhr das Paar beunruhigt zum Arzt. Die schreckliche Bestätigung: kein Herzschlag, keine Bewegung vorhanden. „Und dann sind alle Dämme gebrochen“, erzählt Christopher mit erstickter Stimme. Wie in einer Blase, vollkommen mechanisch fuhren sie erst nach Hause und dann weiter ins Krankenhaus. Denn das „Würmchen“, wie sie liebevoll von ihren Eltern genannt wurde, musste tot geboren werden.
Sternen-, Schmetterlings- oder Engelskind werden diese Babys, die durch eine „stille Geburt“ tot auf die Welt kommen und über 500 Gramm wiegen, genannt. Ihre zurückbleibenden Mütter werden als verwaiste Mütter bezeichnet. 3.003 von ihnen gab es laut dem statistischen Bundesamt alleine im Jahr 2017 in Deutschland.
Obduktion? Tilda nach der Geburt sehen? Die Zeit schien still zu stehen und trotzdem mussten diese Entscheidungen gefällt werden. Beides Nein! So entschieden Jessica und Christopher im ersten Moment. Die Chance herauszubekommen, was zum Herzstillstand geführt hat, ist sehr gering. „Für uns war es nicht relevant woran es lag. Da haben wir uns nicht mehr groß Gedanken drüber gemacht. Denn es hätte eh nichts geändert. Uns war klar, dass uns das noch mehr kaputt machen würde“, gesteht Christopher und streicht sich mit der Hand durchs braune Haar. Jessica fügt mit einem Blick auf ihren Mann hinzu: „Es kam ziemlich schnell der Gedanke, dass Tilda das für sich entschieden hat. Wie kann ich meinem eigenen Kind böse sein, wenn es diesen Weg für sich gewählt hat? Deswegen kam nie die Überlegung nach Schuld und Gründen.“
Dann war es Zeit ihren Familien Bescheid zu geben. Jessica rief ihre Eltern an. „Das war hart. Das war fast mit das Härteste, diese Tatsache einmal anderen gegenüber auszusprechen und gerade unseren Eltern.“ Ihre Stimme bricht und die Tränen kommen.
Nach einer langen Nacht war Tilda plötzlich da. „Dann hat die Hebamme nochmal gefragt, ob ich sie doch sehen und auf den Arm nehmen möchte und ich habe sofort ganz intuitiv ja gesagt und meine vorherigen Zweifel waren wie weggeblasen“, erinnert sich Jessica mit einem Leuchten in den Augen und schaut ihren Mann an. Klein, runzelig, als würde sie schlafen. „Du hast angefangen zu weinen und ich war eigentlich nur glücklich. Denn Tilda ist mein Kind und wird es immer sein.“
Tildas Tot ist mittlerweile ein Jahr her. Jessica streicht sich über den gerundeten Bauch, denn sie ist wieder im sechsten Monat schwanger. Mit kleinen Tritten versucht die ungeborene Schwester ihre Mutter zu beruhigen. Lächelnd schaut sie hinab und sagt: „Oh sie ist gerade richtig aktiv, das ist sie immer, wenn sie merkt, dass ich aufgewühlt bin!“
In unserer Gesellschaft wird selten über Sternenkinder gesprochen. Zu groß sind die Betroffenheit und die Angst diesen Verlust selbst zu erleben, sodass es einfacher ist, dem Thema aus dem Weg zu gehen. Doch gerade das Sprechen darüber, ist für viele Eltern wichtig, um trauern zu können: „Ich habe es sogar meiner Friseurin erzählt“, gesteht Jessica. „Ich musste einfach darüber sprechen…“
„Jessica und Christopher verarbeiten ihre Trauer aktiv, verbunden miteinander und ihren Freunden und Familien. Dadurch ist es trotzdem nicht weg, aber die beiden durchleben die Trauer in all ihren Facetten“, beschreibt ihre Hebamme Verena Grüber den Trauerprozess des Paares. Doch so geht es nicht allen: „Uns war bewusst, dass unter der Belastung unsere Beziehung auch kaputt gehen könnte“, gesteht Christopher. Sie hatten von einem Ehepaar gehört, die dasselbe Schicksal erlebten. Die Eltern hatten zwei unterschiedliche Arten zu trauern. Er wollte raus und darüber reden, sie verschloss sich vollkommen, bis ihre Ehe fast in die Brüche ging und sie sich psychologische Hilfe holten.
Christopher und Jessica haben mittlerweile geheiratet und freuen sich jetzt auf ihr zweites Kind. Und immer wenn die Sonne durch die Wolken scheint, haben sie das Gefühl, das Tilda auf sie herunterschaut und jeden ihrer Schritte begleitet.