Der Kleiderschrank platzt aus allen Nähten, die GläubigerInnen sitzen ihr im Nacken und der Schuldenberg drückt auf das Gemüt. „Die Kaufsucht ist wie ein Krake, die ihre Arme nach der Ware ausstreckt und dich danach innerlich auffrisst“, gesteht Sieglinde Zimmer-Fiene. Die 66-Jährige leidet seit ihrer frühen Jugend an Kaufsucht und ist damit nicht allein. Der deutsche Lottoverband geht von mehr als vier Millionen kaufsuchtgefährdeten BürgerInnen aus. Damit stellt die Kaufsucht das zweitgrößte Suchtpotential kurz hinter dem Tabakkonsum dar. Schätzungsweise 800.000 BürgerInnen leiden 2021 akut unter der Krankheit. Die Dunkelziffer dürfte höher sein.
Was ist eine Kaufsucht und woran erkennt man sie?
Der Fachbegriff für Kaufsucht ist pathologisches Kaufen. „Betroffene verspüren einen starken Kaufdrang, durchleben eine gedankliche Vereinnahmung und leiden zudem unter Kontrollverlust“, weiß Nora Laskowski, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Medizinischen Hochschule Hannover. Allerdings ist allein das übermäßige Kaufen noch kein Indiz für eine Kaufsucht. Eine Person gilt als kaufsuchtgefährdet, wenn diese unter anderem über ihren Lebensstandard hinaus Geld für Dinge ausgibt, die sie nicht braucht. Dies geht häufig mit Verschuldung, privaten Konflikten und weiteren psychischen Erkrankungen einher.
Die genauen Ursachen für eine Kaufsucht sind bislang unklar. Viele Erkrankte haben laut Angaben der Krankenkasse AOK ein geringes Selbstwertgefühl oder leiden unter Ängsten und Depressionen und versuchen, die Negativität durch exzessives Kaufen zu kompensieren. Denn bei Menschen mit pathologischem Kaufen verändert sich das Belohnungssystem im Gehirn. Beim Konsumieren und Kaufen von Waren wird der Botenstoff Dopamin ausgeschüttet, welcher ein Glücksgefühl verursacht. Und genau diesen Kick und Rausch wollen die Erkrankten verspüren, um sich besser zu fühlen. Die innere Anspannung wird durch das Kaufen befriedigt, kurz danach setzen jedoch Reue und Schuldgefühle ein. Die Menschen mit pathologischem Kaufverhalten unterscheiden sich äußerlich kaum von anderen Käufern. Sie sind häufig stets gut bekleidet und verkörpern eine perfekte Illusion ihrer selbst.
Neuere Studien zeigen jedoch, dass das Alter ein Risikofaktor sein kann. „Je jünger die Person, umso anfälliger ist die Person für eine Kaufsucht“, stellt Laskowski fest. In den jüngeren Altersgruppen mag vor allem die materielle Werteorientierung ein Grund für eine höhere Anfälligkeit sein. Ein teures Auto, ein schickes Haus und hochwertige Kleidung seien Statussymbole der modernen Konsumgesellschaft. Zudem scheinen junge Frauen eher betroffen zu sein, als junge Männer. Die genauen Ursachen für die Geschlechterverteilung sind allerdings noch nicht abschließend geklärt. Doch auch Schlüsselereignisse wie der Todesfall eines nahen Angehörigen können eine Kaufsucht begünstigen.
Der tiefe Fall
Sieglinde Zimmer-Fiene war kaufsüchtig. Ihre Sucht steigerte sich allerdings mit der Zeit. Alles begann, als Sieglindes Mann und erste Jugendliebe an einem Gehirntumor erkrankte und stationäre Behandlung benötigte. In dieser Zeit kaufte sie vieles für ihn und überschüttete ihre Töchter mit Geschenken, um das Heile-Welt-Image aufrechtzuerhalten. „Ich habe mir mein Leben schön gekauft“, erinnert sich die 66-Jährige. Die Geschenke wurden mit Verlauf der Krankheit immer teurer. Von Haushaltswaren und Büchern, über Computer bis hin zu Designertaschen habe sie alles gekauft. „Wenn ich in einen Laden ging, war ich wie benebelt und alle Produkte waren meine Beute, die ich ergattern musste.“ In den 1990er Jahren – auf dem Höhepunkt ihrer Kaufsucht – kaufte sie täglich Waren im Wert von etwa 3.000 Mark. Nach einem Kauf fühlte sie sich leer und verspürte regelrechten Selbsthass. „Ich schaute in den Spiegel und sagte zu mir selbst, dass ich nichts wert bin“, schildert Sieglinde.
Als sie mit 29 Jahren zur Witwe wurde, war sie vollends im Teufelskreis des Kaufens gefangen. „Ich habe meinen Kindern, Verwandten und Freunden Unmengen an Geschenken gemacht und mir immer mehr Sachen zugelegt, um äußerliche Stärke zu zeigen“, sagt sie nachdenklich. In den Mittagspausen ihrer Arbeit sei sie teils in fünf verschiedene Läden gerannt, um nach dem nächsten Kick zu suchen. Die Schränke und Regale wurden voller und voller, teils verschenkte sie einige Dinge. Doch der Schuldenberg wuchs weiter bis auf stolze 65.000 Mark an, weshalb sie sich zwei Jahre nach dem Tod ihres Mannes wegen Betruges vor Gericht verantworten musste.
Der Rausch des Kaufens endete 1994 schließlich mit der Einweisung in ein psychiatrisch-forensisches Krankenhaus. Drei Jahre Aufenthalt stand auf ihrem Überweisungsbescheid. Doch aus drei Jahren wurden acht. Neben ZellenkollegInnen wie SexualstraftäterInnen und MörderInnen, führte Sieglinde ein trostloses Leben, auch wenn sie übers Wochenende nach Hause durfte. Der Besuch naher Angehöriger war ihr unangenehm. Besonders die Worte ihrer Mutter gehen ihr nicht aus dem Kopf: „Ich hätte mich hier schon längst erhängt.“ „Es war eine grausame und die einschneidendste Zeit meines Lebens“, erinnert sich die Ex-Gefangene. „Wenn ich sonntagabends nicht pünktlich in der Zelle gewesen wäre, hätte die Polizei ein Großaufgebot gestartet, um mich zu suchen.“ Sieglinde erinnert sich außerdem, dass sie während der Zeit in der Klinik starke Entzugserscheinungen und schlaflose Nächte hatte. Die Kaufsucht war omnipräsent und vor dem Schlafengehen überlegte sie, was sie am nächsten Tag kaufen könne.
Verschuldung, Vereinsamung und Selbsthass
Die Auswirkungen der Kaufsucht auf das Leben der Geplagten ist unterschiedlich. Nicht nur massive Verschuldung ist eine Folge, sondern in einigen Fällen auch der Verlust von Familie und Freunden. Das Ergebnis: Vereinsamung. Sieglinde hatte jahrelang keinen Kontakt zu ihren Töchtern und ihrem engsten Familienkreis. „Die Familie hat meine Sucht nie ganz verstanden und das wird sie auch nicht“, bedauert sie. Seit einem Jahr habe sie wieder mehr Kontakt zu ihren Töchtern und konnte auch ihre Enkelkinder kennenlernen. „Meine Töchter haben schon früh gemerkt, dass mit ihrer Mutter etwas nicht stimmt. Es tut mir im Herzen weh, dass ich sie anlügen musste.“ Das gesellschaftliche Verständnis und die Aufklärung seien miserabel und Erkrankte würden als verrückt erklärt werden. Besonders der Aspekt der Verschuldung oder betrügerische Taten bringen die Kaufsüchtigen in die Bredouille. Können Rechnungen abermals nicht bezahlt werden, greifen Geldstrafen bis hin zu Bewährungsstrafen, wobei es auf die Schwere der Taten ankommt.
Dabei gibt es Hilfsangebote für Betroffene, weiß die Strafrechtsanwältin Tanja Brettschneider: „Ich empfehle meinen KlientInnen Ratenzahlungen mit ihren GläubigerInnen zu vereinbaren und eine therapeutische Behandlung, um Wiederholungstaten zu minimieren.“ Antje Wagnerin, Schuldnerberaterin beim Deutschen Roten Kreuz (Kreisverband Braunschweig-Salzgitter) rät dazu, die Schuldnerberatung aufzusuchen, um wieder einen Überblick zu bekommen oder Schulden später zu bereinigen. Gemeinsam mit dem Ratsuchenden werde der Umgang mit der finanziellen Situation und den Schulden besprochen und ein Schuldenbereinigungsplan ausgearbeitet, wenn die akute Phase der Kaufsucht überstanden ist. „Es werden Ziele festgelegt, die auch in Kombination mit einer therapeutischen Beratung hilfreich sein können“, so Wagnerin. Es komme darauf an, zu welcher Phase sich die Ratsuchenden melden. In akuten Krisensituationen, wenn zum Beispiel finanzielle Mittel für die Existenzsicherung fehlen, kann es eine Sofortaufnahme zur Beratung geben. „Wir verstehen uns selbst als eine Art Wegbegleiter, der Betroffenen Beratung und Sicherheit im Lebensalltag trotz seiner Widrigkeiten geben kann“, resümiert Wangerin. Die MitarbeiterInnenzahl in der Schuldnerberatungsstelle Braunschweig-Salzgitter ist seit der Jahrtausendwende stetig gewachsen.
Um anderen Betroffenen zu helfen, kam Sieglinde Zimmer-Fiene auf die Idee, eine Selbsthilfegruppe zu gründen, in der sie Betroffenen Ratschläge gibt und zuhört. Seit 2002 besteht die anonyme Gruppe, die sich vor Ausbruch der Corona-Pandemie regelmäßig zu Gruppen- und Einzelgesprächen getroffen hat. Sieglinde bekommt regelmäßig Anrufe von Fußballspielern aus der Ersten Bundesliga und von hochrangigen PolitikerInnen. Sie hätten schon wieder drei Paar neue Sneaker gekauft oder ihr Konto überzogen, heiße es dann. Der Beratungsbedarf nehme stark zu.
Laut Dr. Nora Laskowski könne die Kaufsucht jeden treffen, vor allem weil das ganze Leben und die Wirtschaft auf Konsum ausgerichtet sei. Der eigene Antrieb zur aktiven Hilfe fehlt vielen Betroffenen, da das Schamgefühl sehr dominant sei. Erst äußere Reize wie etwa die Androhung einer Scheidung des Ehepartners würden Betroffene zu Beratungsangeboten drängen. Laskowski rät Angehörigen und Betroffenen, sich an Suchtberatungsstellen zu wenden.
Wo können Betroffene Hilfe suchen?
Auch wenn die Kaufsucht bislang keine anerkannte Sucht und Erkrankung in Deutschland ist, gibt es einige wenige Kliniken, die Therapieangebote bereitstellen. Die Salus Klinik Friedrichsdorf in Hürth hat sich unter anderem auf das pathologische Kaufen spezialisiert und bietet den Betroffenen eine individuelle Therapie an. Eine komplette Abstinenz des Kaufens sei jedoch nicht möglich, eher ist das Ziel ein angemessenes Kaufverhalten zu integrieren, teilte die Klinik auf Nachfrage mit. Eine Psychotherapie werde bei fortgeschrittener Krankheit angeordnet, um die Gedanken und Gefühle zu erkennen, die den Menschen in den Kaufwahn treiben. Aber auch eine Musik- oder Kunsttherapie kommen für manche Erkrankte infrage.
Zudem haben viele Betroffene ein verzerrtes Bild von den Behandlungsangeboten. „Mich haben Betroffene angerufen und gefragt, ob sie nach einer Sitzung geheilt wären“, sagt die Selbsthilfegruppenleiterin Sieglinde. Für die Kaufsucht gebe es keine Heilung. Die Sucht sei ein lebenslanger Prozess. Vor der Corona-Pandemie fuhr die 66-Jährige Rentnerin regelmäßig nach Berlin, um ÄrztInnen und TherapeutInnen mit dem Thema vertraut zu machen. Viele ÄrztInnen haben das Thema belächelt, einige waren überrascht und nur wenige waren interessiert“, wirft Sieglinde der Ärzteschaft vor: „Ein Arzt sagte mir, dass man dem Betroffenen die Kreditkarte sperren sollte, damit die Krankheit ein Ende hat. Hieran zeigt sich das Kernproblem. Die in Deutschland zweitschlimmste Sucht wird belächelt, nicht anerkannt und die gesellschaftliche Aufklärung fehlt bei weitem.“
Durch die Pandemie haben es Süchtige umso schwieriger
Besonders die Einschränkungen durch die Corona-Pandemie machen Betroffenen zu schaffen. „Im Internet kannst du alles kaufen. Die Kaufsüchtigen sitzen alleine und verzweifelt in der Ecke am Computer und kaufen bis die Finger glühen“, schildert Sieglinde. Zudem nehme die Bedeutung von personalisierter Werbung zu und wecke damit ständig neue Wünsche. Die andauernde Verfügbarkeit der Online-Shops und eine schier undurchschaubare Masse an Produkten können ein Suchtverstärker für Erkrankte sein. Zudem spiele der Aspekt der Anonymität eine Rolle, da die Betroffenen still und heimlich einkaufen können, ohne von anderen gesehen zu werden.
Auch heute noch plagen Sieglinde Zimmer-Fiene hin und wieder Kaufgelüste, die sie nun aber kontrollieren kann. „Schmeißen Fremde ihre eigenen Sachen weg oder verschenken diese, fühlt es sich so an, als würde dir jemand ein Stück Haut rausreißen“, erzählt sie schockiert. Ihr Dachboden steht immer noch voll und auch viele Schränke dienen als Stauraum. Sogar als ihre Mutter einmal 100 Euro fehlten, fühlte Sieglinde sich von Schuldgefühlen ertappt, obwohl sie nicht einmal etwas damit zu tun hatte.
Zur Info: Bin ich kaufsüchtig?
– Kreisen deine Gedanken während des Tages oft ums Einkaufen?
– Musst du einkaufen, solange noch Geld verfügbar ist?
– Fühlst du dich beim Einkaufen in Hochstimmung, überglücklich, befriedigt?
– Hast du nach dem Kauf ein schlechtes Gewissen?
– Kaufst du Dinge, die du schon hast oder nicht brauchst?
– Fühlst du oft einen unwiderstehlichen Drang einkaufen zu gehen?
– Ist der Kauf für dich wichtiger als der Gebrauch oder Besitz von Ware?
– Kaufst du oft Sonderangebote und ärgerst dich danach?
– Sind es immer bestimmte Situationen, die dich zum Kauf verleiten?
Bei mehr als zwei zutreffenden Punkten unbedingt Hilfe suchen!
(Quelle: Karin Kutz, Psychotherapeutin aus Schwanstetten)