Michael Bauer hat es sich zur Aufgabe gemacht, dicke Bretter zu bohren. Aufgrund seiner nichtreligiösen Weltanschauung sieht er sich in Deutschland benachteiligt. Zwar sichert das Grundgesetz Glaubensfreiheit im Sinne eines Benachteiligungsverbots (Art. 3) zu, doch das reicht dem Politologen nicht: Zwar müssen sich die wenigsten Menschen Sorgen um ihr Leben machen, wenn sie Gotteslästerung vollziehen. Aber wer in Deutschland „öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften den Inhalt des religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses anderer in einer Weise beschimpft, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören“, muss nach Paragraph 166 des Strafgesetzbuches mit bis zu drei Jahren Haft rechnen. Freilich gilt dieser Paragraph auch für fanatische Gläubige, die Nicht-Gläubige beschimpfen. Bauer ist bekennender Humanist und Vorstand der Humanistischen Vereinigung, einer Weltanschauungsgemeinschaft, die 1848 gegründet wurde und für die Interessen Nicht-Gläubiger steht.
Für Bauer ist Deutschland, was den Status von Humanisten und Nicht-Religiösen angeht, ein Entwicklungsland. Tatsächlich rangiert die Bundesrepublik im Bericht der Internationalen Humanistischen und Ethischen Union (IHEU) nur auf Rang 145 von 197 untersuchten Staaten. „Das hat mehrere Gründe“, sagt Bauer: „Vor allem die starke Verflechtung von Staat und der katholischen und evangelischen Kirchen sowie das geltende Blasphemiegesetz, auf dessen Grundlage auch regelmäßig Verurteilungen stattfinden.“
„2016 wurde ein ehemaliger Lehrer in Nordrhein-Westfalen wegen eines spöttischen Autoaufklebers zu einer Geldstrafe verurteilt. So etwas kommt in Europa nur noch selten vor, ist aber eben in Deutschland der Fall“ (Michael Bauer)
In Baden-Württemberg, Bayern, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und im Saarland, wird als oberstes Ziel die Furcht vor Gott in der Bildung genannt. Diese gesetzlichen Anforderungen stehen laut des Reports in einem klaren Gegensatz zum Modell eines ideologisch neutralen Staates. Außerdem gibt es in Deutschland eine Seelsorge für Soldaten, die vom Staat vorgeschrieben ist und von der Kirche betreut und durchgeführt wird. Bauer versucht seit mittlerweile zehn Jahren für den Teil der Soldaten (über 40%), die keiner Konfession angehören eine humanistische Seelsorge einführen zu lassen. Vergebens.
Rund 51 Millionen Menschen gehören hierzulande einer Konfession an. 31,4 Millionen Menschen gehören keiner Glaubensgemeinschaft an. Weltweit ist ihre Zahl deutlich niedriger: Im „The Oxford handbook of atheism“ findet sich die Schätzzahl von weltweit 450 bis 500 Millionen Menschen, die nicht an Gott glauben. Doch nicht religiös zu sein bedeutet nicht automatisch, dass man Atheist ist. Gottlose, Nichtreligiöse, Konfessionsfreie oder auch Atheisten werden sie genannt. Für strenggläubige Christen im Mittelalter sind sie einfach nur Ungläubige. Menschen, die keiner Religion angehören, gibt es viele und doch sind sie weltweit in der Minderheit. Das wären circa 6,5 Prozent der Menschheit. Die meisten davon leben in den wohlhabenden Industrieländern.
Zahlen weisen darauf hin, dass man sich Nicht-Glauben leisten können muss. So weisen die Länder mit einem guten Gesundheitssystem, Lebensmittelversorgung und geringer Armut auch eine hohe Anzahl an Atheisten auf. Schweden, Dänemark, Norwegen oder auch Deutschland rangieren im Ländervergleich weit oben auf der Liste mit den meisten Gottlosen – Länder, in denen die europäische Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts zu einer „kritischen Auseinandersetzung“ mit den herkömmlichen Glaubensformen geführt hat, wie der evangelische Theologe Michael Pietsch erläutert. „Eine solche aufklärerische Transformation der Religion und ihrer Institutionen ist beispielsweise in der islamischen Welt oder im globalen Süden bisher nicht in gleicher Intensität und Breite erfolgt“, so der Theologe.
Auch Bildung scheint zu mehr Religionsskepsis beizutragen. In Ghana, Nigeria oder Armenien hingegen gibt es nur wenig Atheisten in der Bevölkerung. In Staaten, in denen das Leben unsicherer ist, sei der Glaube zunehmend stärker vertreten.
Konfessionsfreie gehören grundlegend keiner Glaubensgemeinschaft an. Ein Atheist hingegen verneint offensiv die Existenz einer Gottheit. Agnostiker berufen sich wiederum darauf, dass die Menschheit die Existenz eines Gottes weder beweisen noch widerlegen können. Dem gegenüber steht das Heidentum, das keine dualistische Trennung von Gottheit und Welt vornimmt.
Gegenpol zur Kirche
Natürlich sei die Stellung der Nicht-Gläubigen in Deutschland nicht vergleichbar mit Ländern, in denen Menschen wegen ihrer Religion verfolgt oder bedroht werden. „In Deutschland ist die Benachteiligung differenziert und subtil, aber dennoch wirksam und vorhanden“, findet der Politologe Michael Bauer. Die Vielzahl der Nicht-Religiösen werden hierzulande durch Gemeinschaften wie der Humanistischen Vereinigung und dem Internationalen Bund der Konfessionslosen und Atheisten (IBKA) vertreten. Wenn man so will, sind sie die Kirche der Nichtkirchenanhänger. Fragt man den IBKA, dann spielen die Glaubensgemeinschaften in Deutschland eine zu große Rolle in der Gesellschaft im Vergleich zu dem Bevölkerungsteil in Deutschland, der keiner Konfession angehört. Verständlich, so sind Kirchenvertreter in wesentlichen gesellschaftlichen Gremien am Prozess der politischen Willensbildung repräsentiert und der Staat zieht für die anerkannten Religionsgemeinschaften Kirchensteuer ein. Dem IBKA ist dies ein Dorn im Auge. Und mehr als das.
Die Forderungen des IBKA erstrecken sich von kirchlichen Privilegien über Erziehung bis hin zur Arbeit und Selbstbestimmung. Daher verlangt die Gemeinschaft beispielsweise Änderungen im deutschen Mediensektor: In einem zu weltanschaulicher Neutralität verpflichteten Staat (Land, Gemeinden) haben kirchliche Vertreter in Kontrollinstanzen wie Rundfunkräten, Bundesprüfstellen, Schul-, Jugend- und Sozialausschüssen, die auch nur mittelbar öffentliche Gewalt ausüben, nichts zu suchen. Selbst der evangelische Theologieprofessor Michael Pietsch sieht einzelne Probleme: „Ein gewisses Problem bilden kirchliche Anstellungsträger (besonders in diakonischen Berufsfeldern), die eine Kirchenmitgliedschaft ihrer Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen verlangen“, räumt er ein und spielt damit auf verschiedene anhängige Klagen gegen die Kirche als Arbeitgeber wegen der Diskriminierung von Nichtkirchenangehörigen an.
Machtfaktor Wirtschaftskraft
Insbesondere in wirtschaftlicher Hinsicht sind Kirchen ein Machtfaktor: „Die Kirche ist – Stand heute – immer noch einer der größten Arbeitgeber und damit allein schon aus rein wirtschaftlicher Sicht ein immens wichtiger und stabilisierender Faktor für die deutsche Gesellschaft“, sagt der Braunschweiger Propst Lars Dedekind.
Im messbaren Status ist eine herausgehobene Rolle der Kirchen zu notieren, in Gremien, in Privilegien – etwa in der Erziehung und Bildungsarbeit. Doch in gesellschaftlicher Hinsicht befindet sie sich im Sinkflug. „Es stimmt aber auch, dass in unserer stark individualistisch ausgeprägten Gesellschaft alle Institutionen verlässlicher Gemeinschaftsbildung Mitgliederschwund verzeichnen – Parteien, Vereine, Verbände und auch die Kirchen“, räumt Dedekind ein. Auch der Jesuitenpater und frühere Radio Vatikan-Journalist Bernd Hagenkord wird deutlich: „Kirchen sind nicht mehr systemrelevant.“ In Steingarts Morning Briefing entwarf er unlängst ein dystopisches Szenario: Die Kirchen sprängen durch die Coronazeit zehn Jahre in die Zukunft – in eine Zeit, in der es keine Priester und Gläubigen mehr gäbe und in der sich niemand mehr für das interessiere, was die Kirchen zu sagen hätten. „Da stehen wir ein Stück weit vor unserer Bedeutungslosigkeit als Institution“, befürchtet er.
Doch viele hohe Ämter werden trotz der rückläufigen Entwicklung weiterhin an Glaubensvertreter vergeben. Die Forderungen nach Änderungen sind schon seit etlichen Jahren da, aber es finden bisher keine Veränderungen statt. Nur das Land Niedersachsen hat einen Staatsvertrag mit den nichtreligiösen Verbänden auf Landesebene für politische und finanzielle Angelegenheiten geschlossen – eine Ausnahme. Eine ungleichmäßige Verteilung in den öffentlichen Gremien sieht der Propst nicht.
Hagenkord betont: Wenn die Kirchen weiter eine Rolle spielen und gehört werden wollen, müssten sie auf die großen Fragen des Lebens, wie die nach Hoffnung oder Solidarität, christliche Antworten zu geben wissen. Der Propst wünschte sich einen „offenen Dialog über Sinn und Ziel eines jeden individuellen Lebens“ zwischen den verschiedenen Weltanschauungen und Philosophien, um der ganzen Gesellschaft zu helfen.
Die Humanisten wünschen sich dagegen eher eine Abwertung der Stellung der Kirchen, dürften damit aber kurzfristig nicht viel Erfolg haben. Die Kirchen werden um ihre herausgehobene Stellung kämpfen. Dabei könnten sie der Gesellschaft den aus ihrer Arbeit resultierenden gesellschaftlichen Mehrwert aufzeigen, um verloren gegangenes Vertrauen aus den Missbrauchsskandalen in der katholischen Kirche vergessen zu machen – etwa aus der Arbeit in der Erziehung und Ausbildung. Just dies ist den Humanisten, denen dies verwehrt ist, ein rotes Tuch. So gesehen scheinen die Privilegien der Kirche noch sicher. Zumindest für eine Weile. Vielleicht sind es wirklich nur noch zehn Jahre, wie Jesuitenpater Hagenkord glaubt. Oder die Kirche findet raus aus der Bequemlichkeit.