Musik für Gehörlose spürbar machen

Nicht hören zu können, ist für die meisten Menschen kaum vorstellbar – für knapp 80.000 Deutsche jedoch Realität. Ein Soundshirt soll es Gehörlosen ermöglichen, Musik zumindest physisch spürbar zu machen.

Laurelia* ist von Geburt an gehörlos. Mit Richard Wagners Ouvertüre „Zum fliegenden Holländer“ konnte sie daher bislang nur wenig anfangen. Das ändert sich an dem Tag, an dem sie das Soundshirt der Jungen Symphoniker Hamburg trägt. Ein Tag, der vieles verändert. „Das ist eine völlig neue Erfahrung für mich. Bis jetzt konnte ich bei Musik nur die Bässe durch die Füße spüren. Das ist wirklich aufregend“, erzählt sie kurz vor dem Konzert. Bis heute musste ihre Mutter Musik für sie übersetzen. Nun kann sie zum ersten Mal Klänge an ihrem eigenen Körper fühlen.

Mit der Erfindung des Soundshirts wird der Traum vieler Gehörlosen und hörbehinderten Menschen wahr. Die Idee stammt von der Hamburger Werbeagentur Jung von Matt, entstanden in Kooperation mit den Jungen Symphonikern Hamburg. Laut der Kreativdirektorin Francesca Rosella, soll vor allem die emotionale Seite der Musik über den Tastsinn erfahrbar gemacht werden. Und genau das tut das Hamburger Wundershirt. Aber wie?

Drahtlose Verbindung zur Konzertbühne

Damit Laurelia später während des Konzerts die einzelnen Klänge spüren kann, werden von Tontechnikern vorab acht Mikrofone auf der Konzertbühne in den verschiedenen Instrumenten-Bereichen installiert, die anschließend mit dem Soundshirt drahtlos verbunden sind. Dabei steuert jedes Mikrofon eine bestimmte Stelle des Shirts an, welche im Vorfeld mittels einer Software programmiert wurde. So kann Laurelia später beispielsweise die Streichinstrumente im Brustbereich vibrieren spüren.

Doch nur die acht Mikrofone alleine reichen nicht aus, um die Klänge in spürbare Impulse umzuwandeln. Hierfür sind 16 Feinmotoren an dem Soundshirt angebracht. Bei Wagners Ouvertüre „Zum fliegenden Holländer“ arbeiten die Feinmotoren auf Hochtouren. Die musikalische Darstellung der Naturgewalten bringt das Shirt förmlich zum Explodieren. Kaum eine Sekunde vergeht, in der Laurelia keine Impulse spüren kann. Dabei sieht das Soundshirt doch recht harmlos aus – wie eine Taucherjacke aus Neopren. Im Nacken laufen schließlich alle Drähte zusammen und empfangen kabellos die Informationen des Computers. Somit kann auch der gehörlosen Laurelia ein Musikerleben ermöglicht werden.

Eine Chance für Gehörlose, Musik ganz anders wahrzunehmen“

Bei René Scheuern, Akustikmeister für Hörgeräte aus Köln, macht sich allerdings Skepsis breit. „Ich glaube nicht, dass das mit einem Höreindruck zu vergleichen ist, weil einfach nur Vibrationen vermittelt werden. Vibrationen haben ja nichts mit dem Hören zu tun. Nur der Tastsinn wird angesprochen.“ Darüber hinaus betont er, dass es wichtig sei, die Instrumente visuell zu sehen – man sieht und spürt somit gleichzeitig, wenn beispielsweise der Musiker auf die Pauke schlägt.

Die 35-jährige Laurelia hatte großes Glück. Bislang existiert nur ein Prototyp, der von den Jungen Symphonikern Hamburg zu Testzwecken eingesetzt wird. Sie hat das Gewinnerlos für einen Konzertbesuch mit Soundshirt gezogen und darf es live in Hamburg testen. Die Konkurrenz war mit 400 Bewerbungen groß.

Schon der Applaus aus dem Publikum beim Heraufkommen der Musiker auf die Bühne ist ein erster starker Impuls für Laurelia. Das dynamische Stück lässt den Feinmotoren des Soundshirts keine ruhige Minute. „Die Pauke konnte ich spüren, die Streichergruppe habe ich durchgehend im Brustbereich gespürt. Ich würde das Shirt am liebsten mitnehmen“, sagt Laurelia später. Sie ist so begeistert, dass Ihre Gebärdendolmetscherin mit dem Übersetzen kaum hinterherkommt. „Das wäre eine Chance für Gehörlose, Musik ganz anders wahrzunehmen“, schwärmt sie mit der Hoffnung, das Soundshirt irgendwann auch mal in einem Geschäft käuflich erwerben zu können. Ihre Reaktion spricht auch ohne Worte. Für Laurelia hat sich eine neue Welt eröffnet – die Welt der Musik.

Reizüberflutung beim ersten Test

Auch Gabriela* darf das Soundshirt ausprobieren. Zum ersten Mal erlebt auch sie Musik mit ihren Sinnen. Schon bei der Anprobe spürt sie die Impulse des Shirts deutlich. „Es ist schon jetzt ein ungewohntes Gefühl, anders als mit Hörgeräten, ganz anders, das so am Körper zu spüren“, äußert sie sich gegenüber ihrer Gebärdendolmetscherin. Die Hamburgerin versteht nun auch, wieso das Shirt individuell einstellbar ist. „Ich kann mir gut vorstellen, dass einem von den ständigen Impulsen schlecht werden könnte und man die Intensität nochmal neu einstellen muss.“ Auch sie ist schon bereits vom anfänglichen Applaus der Zuschauer überwältigt. Für Gabriela ist das Konzert eine intensive Erfahrung. Nach 45 Minuten ist die hörbehinderte Frau begeistert und zugleich erschöpft – aufgrund der vielen Eindrücke und Reize. „Es braucht am Anfang ein bisschen Zeit, sich daran zu gewöhnen, bis man weiß, wo die verschiedenen Instrumentengruppen sitzen. Am Anfang war ich ein bisschen durcheinander“, erzählt sie.

Selbst der Tontechniker ist von der Erfindung so sehr begeistert, dass er, obwohl er ganz normal hören kann, es sich nicht nehmen lässt, das Soundshirt auszuprobieren. Während einer Konzertprobe kommt auch er aus dem Schwärmen gar nicht mehr heraus: „Es vibriert und kribbelt alles und das mit der Musik zusammen ist großartig! Vor allen Dingen bei Wagner, wo es dann so laut wird. Dann fliegst du aus der Jacke“, berichtet er.

Serienreife noch unklar

Vor allem im Internet stößt das Soundshirt bei gehörlosen und hörbehinderten Menschen auf große Resonanz. Viele, wie auch Laurelia und Gabriela, wünschen sich, dass solch ein Hilfsmittel in Zukunft bei großen Konzerten für die gehörlosen und hörbehinderten Menschen bereit liegt, damit sich auch ihnen die Möglichkeit ergibt, aktiv am Konzert teilzunehmen und in einer gewissen Art und Weise mitzufiebern. Schließlich weiß man ja nie so genau, welche Instrumente wie und in welcher Lautstärke an welcher Stelle einsetzen.

„Unsere Vision ist eigentlich, den gehörlosen Menschen die Möglichkeit zu geben, Musik zu erfahren. Vielleicht auch gerade denjenigen, die später ertaubt sind, noch Musik gehört haben und denen diese fehlt“, sagt Annika Bresser von den Jungen Symphonikern Hamburg. Ob und wann das Soundshirt serienreif wird, ist noch unklar. Momentan sind die Kosten im Wert von 20.000 Euro viel zu hoch, um es in einem Shop an Privatpersonen verkaufen zu können. „Daher hoffen wir, dass wir nach der derzeitigen Testphase Sponsoren und Spender für eine Weiterentwicklung des Soundshirts finden werden.“ Zumindest anfangs würde es ausreichen, wenn nicht einzelne Personen das Shirt kaufen, sondern die Konzerthäuser.

„Ich finde es super, wenn in großen Konzerthäusern, wie beispielsweise der Elbphilharmonie, diese Soundshirts dann zukünftig platziert werden“, meint eine weitere Stimme der jungen Symphoniker Hamburg. Vielleicht wäre ein nächster Schritt, auch auf die Krankenkassen zuzugehen. „Ich spiele selbst in einem Orchester, weil ich von der Schönheit und dem Facettenreichtum der symphonischen Musik begeistert bin“, erläutert Annika Bresser. „Diese Begeisterung möchte ich teilen und weitergeben. Mit dem Soundshirt wird dies ein Stück weit Realität, denn durch das Shirt kann ich Menschen auf eine ganz eigene Art und Weise für symphonische Musik begeistern.“ Eines sei klar, sagt Bresser: „Durch das Soundshirt werden Gehörlose und Hörbehinderte nicht hörend. Aber sie können symphonische Musik auf eine andere Art und Weise erfahren – auf ihre eigene Art.“

*Name von der Redaktion geändert

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