Nebeneinander statt zusammen: Multikulti Salzgitter

Die Arbeiterstadt Salzgitter ist seit jeher multikulti – seit der sogenannten Flüchtlingswelle 2015 umso mehr. Martha Johannsmeier hört sich bei alten und jungen Salzgitteranern um: Wie funktioniert das Zusammenleben?

In dem Haus in Bad, in das ich zum Studieren in Salzgitter gezogen bin, gibt es 40 Wohnungen. Der erste Blick auf das Klingelschild mit türkischen, arabischen, deutschen und anderen Familiennamen spiegelt eine bunte Mischung von Bewohnern wider. An der Tür begrüßt mich freundlich ein junger Südländer. Im nächsten Moment helfe ich einem gebrechlichen älteren Herrn in den Fahrstuhl. Auf dem Weg durch das Treppenhaus zu meiner Wohnung im vierten Stock treffe ich eine ältere Frau. „Hallo, schönes Wetter heute“, dann geht jeder seines Weges. Aus einer Wohnung ertönen Kinderschreie. Während ich die Wohnungstür öffne, verlässt eine gleichaltrige Studentin ihre Wohnung gegenüber und grüßt.

Die Frage, wo man studiert, mit Salzgitter zu antworten, löst oft negative Reaktionen aus. Die Leute denken an den Zuzugsstopp von Flüchtlingen und auffällige Wahlergebnisse bei der Bundestagswahl. „In Salzgitter ist doch nichts!“ oder „Da leben doch nur Ausländer!“ – mit solchen Aussagen wurde ich als neu Hergezogene häufig konfrontiert. Die große Zunahme des Ausländeranteils bewegt und sorgt die Menschen. Man fragt sich: Wie verstehen sich die heterogenen Bevölkerungsgruppen untereinander und wie funktioniert ein solches Multikulti-Leben in Salzgitter?

Die Studierenden in meinem Haus nehmen das Leben eher als ruhig wahr. Sie stammen nicht aus Salzgitter und fahren an den Wochenenden nach Hause. Das Umfeld wirkt auf sie anonym, jeder lebt für sich. Mit den verschiedenen Kulturen im Haus haben sie keine Probleme. Ein Student mit türkischen Wurzeln beschreibt das Zusammentreffen der verschiedenen Kulturen als „durchweg positiv“. Man grüße einander, halte sich gegenseitig die Tür auf. Aber großer Kontakt bestehe generell nicht. Ab und zu spreche er mit seiner älteren Nachbarin, bei Problemen komme man direkt aufeinander zu. Eine 72-jährige Bewohnerin sieht das viel kritischer: „Man sieht fast nur noch ausländische Gesichter, vor allem in Lebenstedt“, kritisiert sie. Salzgitter ist starke Veränderungen gewohnt. Bei Gründung der Stadt seien viele Arbeiter aus dem Westen und Osten gekommen und jetzt viele Flüchtlinge. „Das ist hier sehr zusammengewürfelt. Es lässt sich hier gut leben, wenn man keine hohen kulturellen Anforderungen hat“, findet sie.

Türken und Syrer sind die am stärksten vertretenen Ausländer

Ende 2017 leben in Salzgitter offiziell rund 107.000 Menschen, 18.344 davon haben einen ausländischen Pass. Das sind 17,1 Prozent der Bevölkerung und rund 10 Prozent mehr als noch 2016. Mit knapp 28 Prozent und knapp 22 Prozent sind die Türkei und Syrien am stärksten als Herkunftsländer vertreten. Insgesamt sind in Salzgitter über 120 Nationen vertreten. In Bad liegt der Ausländeranteil bei 13,9 Prozent, in Lebenstedt bei gut einem Viertel. Insgesamt sind in Salzgitter über 120 Nationen vertreten. „Die Vielfalt an den Kulturen, Lebensstilen, Religionen und Sprachen ist Chance und Herausforderung zugleich“, heißt es in einer Bilanz der Stadt. Salzgitter stellt unter anderem. Integrationslotsen, richtet jährlich eine interkulturelle Woche aus und startete 2009 die Initiative „Respekt! Kein Platz für Rassismus“. Von 2011 bis 2014 wurde in Kooperation mit der Ostfalia Hochschule ein Integrationskonzept erstellt.

Bereits in den 1960er Jahren sind viele Menschen mit Migrationshintergrund als Arbeiter an den Industriestandort Salzgitter gekommen. Ihre Kinder sind hier geboren und aufgewachsen. Aus dieser kulturellen Vielfalt entstand ein breites Angebot unterschiedlichster Gewerbebetriebe, von denen die gesamte Bevölkerung profitiert. Wenn ich meinen Einkauf im türkischen Supermarkt oder beim türkischen Bäcker um die Ecke erledige, treffe ich eher selten auf Deutsche. Die Gespräche werden hauptsächlich auf Türkisch geführt und die Verständigung mit den Angestellten trifft manchmal auf sprachliche Barrieren. Ein Salzgitteraner Paar mit türkischem Migrationshintergrund erlebt das Zusammentreffen der Kulturen in meinem Haus als „ganz neutral“. Auch zwischen den Generationen „werden keine Unterschiede gemacht“. Dass manchmal Unstimmigkeiten mit älteren Bewohnern entstehen, sehen sie nicht im Zusammenhang mit ihrer Herkunft, sondern im Altersunterschied und den damit verbundenen unterschiedlichen Prägungen und Bedürfnissen.

Zuzugsstopp als „Atempause“

Doch seit die Zahl der in Salzgitter gemeldeten Flüchtlinge immer weiter steigt, kippt die Stimmung. Aufgrund vieler günstiger und leerstehender Wohnungen ist Salzgitter ein attraktiver Wohnort für Flüchtlinge geworden. Drei Mal so viel Geflüchtete wie im Landesdurchschnitt leben hier, was die Integration deutlich erschwert. Unmut, der sich in den Wahlergebnissen niederschlägt. Die AfD erreicht in Salzgitter mit insgesamt 16,4 Prozent ein sehr hohes Ergebnis, im Stadtteil Lebenstedt sogar 20,5 Prozent. Im Oktober wurde ein Zuzugsstopp erlassen. Familienmitglieder bereits in Salzgitter lebender Einwanderer dürfen noch nachkommen, alle anderen werden nicht mehr aufgenommen. Oberbürgermeister Frank Klingebiel hielt diesen Schritt für eine dringend notwendige „Atempause“.

Eine 79-jährige, die seit fast zehn Jahren in meinem Haus lebt, nimmt das Aufeinandertreffen der verschiedenen Kulturen als schwierig wahr. „Bis zwei Uhr nachts gibt es laute, orientalische Feiern. Als ich sie gebeten habe leiser zu sein, sagen die nur: Ich bin nicht richtig im Kopf“. Aufgebracht äußert sie: „Man kann sich ja nicht gegen solche Leute wehren, Frechheit siegt.“ Grundlegend findet sie ein Zusammenleben mit Menschen unterschiedlichster Herkunft nicht generell problematisch.

Die Meinungen sind gemischt. Zwar sind viele Menschen mit der Situation nicht zufrieden – ein großes Problem stellt das Zusammen- und vor allem Nebeneinanderleben ohne viele Berührungspunkte der unterschiedlichen Kulturen indes nicht dar. Auch wenn man annehmen kann, dass aufgrund sozialer Erwünschtheit nicht alle ihre Meinung gänzlich offen äußern. Die Jungen tun sich offenbar etwas leichter mit dem Phänomen Multikulti als die Älteren.

Gelungene Integration setzt den Willen der zu Integrierenden wie auch die Unterstützung der schon immer hier Lebenden voraus. Wenn sich wie in Salzgitter mehr als 100 Kulturen und Lebensweisen treffen, ist dies in jeder Hinsicht eine große Herausforderung. Der Zuzugsstop könnte eine Chance sein, die Integration bestmöglich umzusetzen und damit wieder ein harmonischeres Zusammenleben der Menschen in Salzgitter zu fördern.

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