Edina Müller sitzt in ihrem Rollstuhl, der muskulöse Oberkörper ist angespannt. Ihre Beine stehen ruhig auf dem Trittbrett. Mit kräftigen Zügen zieht sie an den Griffen des Seilzugs 35 Kilogramm. Ihr Blick ist konzentriert. Das Training im Olympiastützpunkt in Hamburg ist für sie nichts Neues: Drei bis vier Mal die Woche trainiert sie im Kraftbereich, um sich für die paralympischen Spiele im Kajakfahren vorzubereiten. „Am Anfang war es schon sehr deprimierend. Man stellt sich vor, was man nun alles nicht mehr machen kann“, sagt die heute 34-jährige Diplom-Sporttherapeutin in einer Pause zwischen den Sätzen am Seilzug.
Mit 16 Jahren hätte sie wohl nie gedacht, dass sie eine international erfolgreiche Spitzensportlerin im Rollstuhlbasketball und Kajakfahren werden würde. Denn von einem Tag auf den anderen ist sie nach einem fehlerhaften Einrenken ihrer Rückenwirbel des Orthopäden auf zwei Räder mit integriertem Sitz angewiesen. Die Diagnose: Querschnittslähmung. Von den Zehen bis zur Hüfte spürt sie nichts mehr. „Besonders Angst hatte ich vor der Frage, ob ich medizinisch trotzdem in der Lage sein werde, Kinder zu bekommen. Doch zum Glück ist organisch alles in Ordnung.“
„Jeder Mensch geht mit der Diagnose unterschiedlich um“
Mit Hilfe ihrer Familie und Freunden lässt sie sich niemals unterkriegen, kämpft sich ins Leben zurück und absolviert an ihrer Schule das Abitur, nachdem alle Gebäude rollstuhlgerecht ausbaut sind. Doch einen Prozess gegen den Orthopäden gibt es nicht: „Wir konnten es nicht eindeutig beweisen, dass es wirklich ein Kunstfehler war. Meine Eltern haben auf eine Klage verzichtet. Der Prozess hätte womöglich Jahre gedauert und wir hatten keine Rechtschutzversicherung“, sagt sie ohne große Emotionen zu zeigen. Ihre pragmatische Art scheint ihr durch viele schwierige Situationen geholfen zu haben. „Mit 16 wäre ich gerne Meeresforscherin geworden. Doch die Rehabilitation im Krankenhaus fand ich damals so toll, dass ich mich entschieden habe, in diesen Bereich zu gehen“, erzählt sie mit ruhiger Stimme. Mit den Händen unterstreicht sie ihre Wortwahl. Die Anstrengung bei der Kraftübung merkt man ihr kaum an.
Mittlerweile unterstützt Edina unter anderem Rollstuhlneulinge und hat auch den einen oder anderen Rat zu bieten: „Jeder Mensch geht unterschiedlich mit der Diagnose um. Um die Tragödie zu verarbeiten braucht es einen Trauerprozess. Wichtig ist es aber anschließend nach vorne zu schauen und Dinge zu finden, die einem Spaß bringen.“ Allen Betroffenen rät sie, sich auszuprobieren und alle Angebote mitzunehmen. „Mittlerweile kann man sogar Paragliding oder Surfen als Querschnittsgelähmter“, erzählt sie schmunzelnd. „Sport wurde zu meinem Medium, um mit dem ganzen klar zu kommen. Ich habe mich ganz neu kennengelernt und festgestellt, dass es gar nicht so schlimm ist im Rollstuhl zu sitzen.“ Denn die Technik sei mittlerweile so gut, dass sie ein ganz normales Leben führen könne, ohne ständig auf die Hilfe anderer Menschen angewiesen zu sein.
In den USA klappt die Gleichstellung besser
Ihr einziger großer Feind sind Treppen. Besonders, wenn diese zur Bahn führen und die Fahrstühle nicht intakt oder gar nicht erst vorhanden sind. „Da kann ich schon echt wütend werden! Letztens war mein Auto in der Werkstatt, sodass ich mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit fahren musste. Das war echt der Horror“, Edina Müller macht eine Pause und fährt sich mit den Händen über den Kopf, „ich wollte hoch zum Bahnsteig, jedoch gab es keinen Aufzug oder eine Rolltreppe. Als ich einen zuständigen Bahnmitarbeiter fand, meinte dieser nur verlegen, dass ich da wohl eine Haltestelle zurückmüsste. Das hat mich sehr wütend gemacht. Denn ich arbeite genauso wie alle anderen und möchte pünktlich sein.“
Genau dies beeindruckt sie besonders an der Integration körperlich eingeschränkter Menschen in den USA. „Deutschland kann sich da wirklich einiges abgucken“, sagt sie und blickt durch den Kraftraum, in dem noch zwei andere Sportler trainieren. „Ich würde mir hier mehr Gleich- und keine Sonderstellung wünschen. In Deutschland ist man als Rollstuhlfahrerin immer etwas außen vor.“ Damit meint sie beispielweise die öffentlichen Toiletten: In den USA gäbe es keine extra Unisex-Behindertentoiletten. Dort wären ein bis zwei Kabinen einfach größer, sodass eine Frau im Rollstuhl auch auf die Damentoiletten gehen könne. Außerdem wären die Städte rollstuhlgerechter ausgebaut. Hierzulande verbietet oft der Denkmalschutz den Um- oder Ausbau alter Gebäude.
Wenn Sie nachts träumt, holt sie das Laufen nicht mehr ein. Inzwischen ist der Rollstuhl ihr Freund geworden. Den nächsten Paralympics 2020 fiebert sie entgegen. „Mein Lebensmotto, alle sagten das geht nicht, da kam einer, der wusste das nicht und hat es einfach gemacht, ist inzwischen mein stetiger Begleiter geworden“, und zwinkert mit ihren strahlend blauen Augen.