An Wochenenden stehen die Zeugen gerne in der Fußgängerzone oder klingeln an der Haustür – stets lächelnd und überaus freundlich. Grinsen, Fresse halten und Traktate überreichen. Der Rapper Benny Lemur erinnert sich nicht gerne an vieles aus seiner Zeit bei den Zeugen Jehovas in Wolfsburg zurück. Die Predigtdienste an den Haustüren begleitet er als kleiner Junge im Anzug und mit Kinderschlips. Leute öffnen eher eine Tür oder sind für ein Gespräch bereit, wenn da ein kleines Grinsekind steht, so der Rapper, der sich an manche „beschissene Situationen“ erinnert. „Wenn ich zum Beispiel bei Familien meiner Klassenkameraden klingeln musste. Dementsprechend mehr habe ich dann in der Schule auch auf die Fresse bekommen“, erzählt Benny. Er war das „doofe Jesuskind in der Schule“, das weder am Basteln für den Osterbasar in der Schule teilhaben durfte, noch bei den Geburtstagsfeiern der Mitschüler in der Klasse sitzen bleiben konnte. Die Zeugen Jehovas feiern schließlich keine christlichen Feiertage und lehnen Götzendienste“ wie Weihnachten und Ostern, wegen der heidnischen Wurzeln, ab. Stattdessen glauben sie an die Apokalypse – die Offenbarung des Johannes.
In monotheistischen Religionen glauben die Anhänger an einen einzigen Gott. Die Existenz und der Glaube an andere Götter ist grundsätzlich ausgeschlossen. So auch die Zeugen Jehovas, die ihr Leben vollends dem Dienst Gottes widmen. Sie orientieren sich streng an urchristlichen Vorbildern und ihrem Verständnis der Bibel. Geburtstage, Bluttransfusionen, Homosexualität – all das sind Verstöße gegen die Regeln der Zeugen. Mit der Anerkennung der Zeugen Jehovas als Körperschaft des öffentlichen Rechts 2017 sind sie den Kirchen gleichgestellt. Dies führt seither vor allem bei Aussteigern zu Sorgen und Protesten.
Viele Erwachsene, die als Kinder mit den Zeugen Jehovas groß wurden, an Versammlungen teilnahmen und von Haus zu Haus gingen, um Traktate zu verteilen, kämpfen ein Leben lang mit der von den Zeugen Jehovas propagierten Wahrheit.
Die Gemeinschaft wurde Ende des 19. Jahrhunderts in den USA gegründet und hat weltweit rund 8,6 Millionen Mitglieder. In Deutschland sind es mehr als 160.000 aktive Anhänger.
Die Wachtturm-Gesellschaft (WTG) wird seit 1971 von der Leitenden Körperschaft in New York gesteuert. Dort arbeiten rund 5.800 Zeugen für Publikationen wie Der Wachtturm und Erwachet!.
Das Ende der Welt, Harmagedon
Nach dem Glauben der Zeugen Jehovas, begann Jesus 1914 im Himmel zu herrschen und Satan wurde auf die Erde vertrieben. Die erste angekündigte Apokalypse fiel aus, wie die darauffolgenden auch. Die Zeugen hatten ein göttliches Großreinemachen erwartet, den Kampf zwischen Gut und Böse. Auf der gesamten Erde, wie es im letzten Buch des Neuen Testaments dargelegt ist. „Ich bin mit nichts anderem groß geworden, als dass ungefähr morgen die Apokalypse stattfindet“, so Benny.
„Ich träume von nichts anderem, immer noch.“
Die 144.000
Sie glauben daran, dass ein Gotteskrieg ausbrechen wird – Harmagedon. Nach der Lehre überleben nur die Anhänger, die sich ihren strengen Regeln unterwerfen. Alle Nicht-Mitglieder sterben. Ein erlesener Kreis von 144.000 Angehörigen darf nach dem Tod neben Jesus Christus im Himmel eine königliche Regierung führen. Die übrigen Glaubensbrüder erlangen ein ewiges Leben unter paradiesischen Zuständen auf der Erde.
In seinen Träumen durchlebt er seit seiner Kindheit jede Nacht den Weltuntergang. Benny: „Und die Leute, mit denen ich eigentlich eng bin im realen Leben, die im Traum dann auch vorkommen, die werden dann plötzlich zu Bösen, zu Satan sozusagen. Die sind dann von irgendwas besessen und wollen mich auch töten.“
Die Geschichte der zwei biblischen Städte Sodom und Gomorra, hat sich besonders bei dem Musiker als Kind eingebrannt. Sie endet damit, dass Gott Schwefel regnen lässt und alle Bewohner dieser Städte verbrennt, weil Hurerei betrieben wurde und die Menschen nicht an Gott glaubten. Benny: Und meine erste Frage als Kind war dann: aber auch die Tiere und auch die Kinder? Wirklich alle? – ja alle. Wieso denn? – Weil Gott uns liebt.
Die Lehre
Die Zeugen Jehovas glauben an die Bibel, die das Wort Gottes sei. Sie benutzen eine eigene Übersetzung, die Neue-Welt-Übersetzung der Heiligen Schrift, die von der Wachtturm-Gesellschaft herausgegeben wird. Sie sehen Jesus als einziges von Gott erschaffenes Geschöpf und dessen untergeordneten Sohn an. Ihre Lehre ist zudem von einem starken Dualismus zwischen Gut und Böse geprägt.
Benny: Die Zeugen Jehovas „[…] trennen in wir und die Welt, also wir die Guten und die Welt ist Satan in Person sozusagen, die versucht egal wie, wann und wo von dir Besitz zu ergreifen.“
„Hass und Gewalt wurden mit Liebe begründet“
Seine Kindheit war von ritualisierter Gewalt geprägt. Das Verständnis der Zeugen Jehovas von der Bibel sei dafür maßgebend gewesen. „[…] das wurde ja eins zu eins ins normale Leben übersetzt und das kriegt ein Kind natürlich nicht rein, wenn es gerade gefoltert wird und erklärt bekommt, das ist, weil wir dich schützen wollen und dich lieb haben“, erzählt Benny. Körperliche Züchtigung zählte zu den Maßnahmen der Erziehung, die die Zeugen der Bibel entnehmen. „Ich halte Gott immer noch für ein Monster. Ein böses strafendes Monster, das ewige Schmerzen verspricht. Irgendwann hat es bei mir dann knack gemacht“, so Benny.
Der Rapper sieht dies heute als einen Grund für seine Persönlichkeitsspaltung. Als junger Erwachsener zieht er von Zuhause direkt in die Psychiatrie. Viele BeraterInnen für Aussteiger empfehlen häufig eine Psychotherapie und die stationäre Aufnahme der Betroffenen in einer Psychiatrie, so auch Frau Hartung. Die Beraterin des Netzwerks Sektenausstieg e.V. beobachtet viele Parallelen in den Kindheitserzählungen der Aussteiger. Gewalt kommt dabei immer wieder vor. Vor allem Frauen berichten häufig über sexuelle Übergriffe, wenngleich dies nicht in allen Familien vorkomme, so die Beraterin, ist dies noch in zahlreichen Familien der Fall. Nicht selten begründen diese Familien ihre Handlungen mit Jehova, also Gott.
Drohungen am Telefon
Dass Gewalt mit Liebe begründet wurde, hat auch Conchita Barciaga erlebt. Sie ist eine Abtrünnige, so nennt man jene, die sich dazu entschließen, kein Zeuge mehr zu sein. Als junge Erwachsene gesteht sie damals vor dem Komitee, welches hierarchisch unter der leitenden Körperschaft steht und für die geistliche Belehrung in der Gemeinschaft zuständig ist, Sex mit einem Weltmenschen gehabt zu haben und bekommt die Höchststrafe der Zeugen Jehovas verhängt – Gemeinschaftsentzug. „Danach wurde ich auf Schritt und Tritt verfolgt“, erzählt Conchita. Es folgen Morddrohungen am Telefon und Stalking. Jedes Mal, wenn sie kurz davor war an einem weltlichen Leben zu scheitern, sahen die Zeugen Jehovas darin eine Möglichkeit, sie zurück zu gewinnen. Viele Jahre mussten nach ihrem Ausstieg vergehen, bis man sie in Ruhe ließ. Satan hat sie jedoch noch viel länger verfolgt. „Wenn du ungehorsam bist und du eine Strafe begehst, bestraft dich Satan. Das ist das Gegenstück von Jehova. Und dieser Satan war immer präsent“, so Conchita.
Satan
Jehovas Zeugen glauben, dass Satan eine reale Geistperson sei, die von Gott erschaffen wurde, sich jedoch gegen ihn aufgelehnt habe. Jeder der kein Zeuge ist, steht unter dem Einfluss Satans. Daher meiden sie den Kontakt zu der Welt und den Weltmenschen.
„Ich habe bis zu meinem 46. Lebensjahr jede Nacht geschrien.“
Vor ihrem Ausstieg sei die Angst vor Fehltritten ihr ständiger Begleiter gewesen, bis sie irgendwann anfing zu zweifeln. Sie habe sich die Welt außerhalb der Zeugen Jehovas schöner vorgestellt. „Ich war ja gefangen bei den Zeugen Jehovas, da gab es keine Chance für mich in irgendeiner Form auszubrechen, weil das sofort bestraft wurde“, erklärt Conchita. Mit 17 Jahren wurde sie das erste Mal gewaltsam Zuhause rausgeworfen, weil sie Kontakt zu Weltmenschen hatte. Danach versuchte ihre Mutter sie so schnell wie möglich mit einem Zeugen Jehovas zu verheiraten, damit Conchita ein Leben als gehorsame Zeugin führen konnte. Als sie sich dann entschloss auszusteigen, brach sie die Regeln der Zeugen Jehovas bis zum Erschöpfen. „Umso älter ich wurde, umso mehr habe ich das als Gefängnis empfunden“, so Conchita.
Bluttransfusionen
Conchita hatte mit 15 Jahren einen Blinddarmdurchbruch. Die Ärzte sagten, dass es schlecht um sie gestanden hätte. „Hätte ich da eine Bluttransfusion gebraucht, hätte mich meine Mutter sterben lassen. Das weiß ich.“ Ihre Mutter ist selbst, einige Jahre später, an den Folgen einer abgelehnten Bluttransfusion verstorben.
Die Zeugen Jehovas lehnen Bluttransfusionen gemäß ihrem Verständnis der Bibel ab, in der Blut als etwas Heiliges verstanden wird, welches mit Gehorsam gegenüber Gott und Respekt vor ihm als Lebengeber begründet wird.
Ihren ersten Mann lernt sie beim Tanzen kennen, ein Weltmensch. Die Heirat folgt schnell. Conchita gelingt der Austritt, als sie vor dem Komitee, einem reinen Männergremium, ihren Ungehorsam gestehen musste. „Dann wurde ich ausgefragt wann ich mich mit ihm getroffen hatte, wo ich mich mit ihm getroffen habe, wie oft ich beim Tanzen war, ob ich sexuellen Kontakt gehabt habe und wie der Sex gewesen sei, also bis ins kleinste Detail“, erzählt Conchita. Sie gibt damals keine Antwort, bis sie zum Schluss fälschlicherweise gesteht, Sex mit ihm gehabt zu haben. „Ich hatte damals nur ein Ziel: mit diesem Mann zusammen zu sein und dies zum Ausdruck zu bringen, damit ich dann von den Zeugen Jehovas wegkam“, so Conchita.
Sexualität ist bei den Versammlungen der Zeugen Jehovas ein immer wiederkehrendes Thema. In den Versammlungen und Publikationen, wie dem Wachtturm oder Erwachet, widmet man sich häufig Themen wie diesen. Kindern wird schon früh beigebracht, dass Sex nur innerhalb einer Ehegemeinschaft erlaubt sei und Masturbation Gott nicht gefallen würde. Nach Aussagen der WTG kann Masturbation sogar zur Homosexualität führen. Die Zeugen Jehovas raten zudem auf der offiziellen Homepage: „Auch Millionen von Heterosexuellen, die sich an den biblischen Maßstab halten wollen, üben Selbstbeherrschung, obwohl ihnen das oft nicht leicht gemacht wird. Das ist auch Menschen mit homosexuellen Neigungen möglich, wenn sie Gott wirklich gefallen möchten“. Unter der Rubrik Sexualität richten sich die Zeugen vor allem an Jugendliche. Sie hätten die Wahl: Entweder sie übernehmen die heutige verdrehte Ansicht über Sexualität, oder sie orientieren sich an der hohen biblischen Moral.
Besonders problematisch ist die Zwei-Zeugen Regel bei sexueller Gewalt, so die Beraterin Frau Hartung. Opfer, die sexuelle Gewalt erleben müssen, dürfen den Fall nicht den Behörden melden. Stattdessen wird im Kreis der Ältesten darüber beraten. Zwei Personen müssen bestätigen, dass sich der Missbrauch ereignet hat. So will es die Regel. Kann also niemand den Missbrauch bezeugen und die Tat wird abgestritten, wird nichts gegen den mutmaßlichen Täter unternommen. Nicht nur mit ihrer Haltung zu sexuellem Missbrauch lösen die Zeugen Jehovas immer wieder kontroverse Diskussionen, vor allem bei Aussteigern, aus.
„Der Wunsch auszubrechen wurde immer größer, aber ich wusste nicht wie.“
Der Gemeinschaftsentzug
Wer bei den Zeugen Jehovas aussteigt, verliert meist alle sozialen Kontakte – auch zu Familienangehörigen. Das Problem: „Die Zeugen Jehovas funktionieren nur so gut als in sich abgeschlossene abgekapselt Gemeinschaft, weil sie diese Abkapselung in jedem Lebensbereich durchziehen“, so Benny Lemur. Die Gemeinschaft pflegt Kontakte nur innerhalb der Glaubensgemeinschaft, was für einen Aussteiger automatisch mit einer sozialen Isolation endet. „Da wird dann halt kontrolliert, mit wem du dich triffst“, so der Rapper. „Irgendwann kennst du nur noch Zeugen Jehovas. Du hast einen Zeugen Jehovas Arzt zum Beispiel.“ Seine Mutter sei hinterher an den Folgen des Gemeinschaftsentzugs zerbrochen, erklärt er.
Conchita erlebt damals genau diese Art der Ablehnung, auch von ihren damaligen Freundinnen, die sie bei den Zeugen hatte. „Auf der Straße, wenn mich jemand gesehen hat, durfte keiner mit mir sprechen. Die haben alle einen großen Bogen um mich gemacht. Das ist alles weggebrochen“, erzählt sie. Obwohl sie unter der Ablehnung stark litt, beschreibt sie ihr Empfinden nach dem Ausstieg als ein Gefühl von Freiheit. Rückblickend betrachtet sie die Zeugen Jehovas als „eine ganz gefährliche Sekte“, so Conchita. „Wenn du einmal in die Fänge gerätst, dann kommst du da nicht mehr so einfach raus“, erzählt sie.
Viele Sektenexperten sehen das Problem von Außenstehenden vor allem im Mangel an Informationen über die Glaubensgemeinschaft, so auch Hugo Stamm. Der Sektenexperte beschäftigt sich seit den 70er Jahren mit Sekten und neureligiösen Bewegungen und sieht das Problem vor allem an der falschen Einschätzung der Glaubensgemeinschaft. „Da die Zeugen Jehovas ein christliches Fundament aufweisen, genießen sie in der christlich geprägten Öffentlichkeit viel Wohlwollen“, so Herr Stamm. Auch er sieht die Zeugen Jehovas als eine Sekte. Dies liege vor allem daran, dass sie „ein ausgeklügeltes Indoktrinationssystem anwenden. Dazu gehören die radikale Auslegung der Bibel, die enge soziale Kontrolle, das Operieren mit Sehnsucht und die Hoffnung auf ewige Erlösung“, erklärt Herr Stamm. Mit dem „[…] Untergraben des Selbstwertgefühls, das Heraufbeschwören apokalyptischer Furcht, die Verhaltensnormen usw.“, spricht er den Zeugen Jehovas somit den Status einer Sekte zu.
Mit der Anwendung von Indoktrinationsmethoden innerhalb der Gemeinschaft und der strikten Abkapselung von der Außenwelt, gelingt es den Zeugen Jehovas ihren Ruf als einfache Glaubensgemeinschaft aufrecht zu halten. Nicht nur für ehemalige Zeugen ist es daher schwer nachvollziehbar, wie sie den Status als Körperschaft des öffentlichen Rechts erlangen konnten.