Schon gehört? – Die Welt der unveröffentlichten Songs

Der Musik-Fan in mir ist ständig auf der Suche nach neuen Songs. So bin ich vor ein paar Jahren in eine Bubble geraten, die mich in ihren Bann zog: Unveröffentlichte Songs. Doch wo bin ich da eigentlich hineingeraten?

Welchem Fan geht es nicht so? Eigentlich könnte mal wieder ein Album der LieblingskünstlerInnen veröffentlicht werden. Doch was ist, wenn sich die Band längst aufgelöst hat oder KünstlerInnen verstorben sind? In etwa so erging es mir vor drei Jahren. Da bin ich durch Zufall und wohl dank des YouTube-Algorithmus auf ein Lied des verstorbenen schwedischen Musikproduzenten Avicii gestoßen, dessen Titel mich stutzig machte. Ein neues, posthum veröffentlichtes Lied? „Das kann doch nicht sein“, dachte ich mir und fing an zu recherchieren. Ich schaute in öffentlichen Foren, suchte nach Hinweisen und siehe da: Es handelte sich tatsächlich um einen Song von Avicii, der allerdings noch nicht veröffentlicht war. Nicht nur das habe ich damals herausgefunden, sondern auch, dass er noch viele weitere unveröffentlichte Songs und Demos in seiner Karriere produziert hatte. Zum Teil waren diese in Form von Livestreams aus dem Studio oder über Instagram-Stories zugänglich geworden.

Mittlerweile habe ich mir eine kleine Bibliothek angelegt, in der schon über 100 Demo-Versionen und kleine Lied-Schnipsel, sogenannte Snippets, enthalten sind – allein von Avicii. Und obwohl eigentlich jede und jeder darauf zugreifen kann, fühle ich mich einem ausgewählten Personenkreis zugehörig, der diese wahre Schatzgrube entdeckt hat. Abseits des Mainstreams oder der Erfolgsfans. Doch womit habe ich es hier zu tun?

Dass KünstlerInnen unveröffentlichte Songs haben, dürfte nichts Ungewöhnliches sein. Alle Stücke entstehen zunächst im kleinen Kämmerlein. Populär werden diese Lieder erst, wenn die Öffentlichkeit davon Wind bekommt. So reihen sich neben Avicii viele andere prominente KünstlerInnen wie die Rolling Stones, Queen oder David Bowie ein, die bereits Wirbel um ihre sogenannten „unreleased songs“ erzeugt haben. Die wohl erfolgreichste schwedische Band ABBA hat sogar einen eigenen Wikipedia-Artikel zu ihren unveröffentlichten Songs, die es nie auf ein Album geschafft haben. Während es allerdings vor einigen Jahrzehnten noch kaum möglich war, an diese Musikstücke zu kommen, hat die Digitalisierung eine massive Veränderung herbeigeführt. Zeitgenössische KünstlerInnen nutzen oftmals die Mittel der sozialen Medien, um ihre Arbeit zu dokumentieren oder Werbung für das bevorstehende Album zu machen. Fast alles entsteht digital, selbst analoge Instrumente werden in so manchem Studio nicht mehr benötigt, da deren Sounds auf dem Computer abgespielt werden können. So werden auch die Demos nicht mehr auf Tonbändern oder Kassetten gespeichert.

Diese Gegebenheit vereinfacht es Menschen, die illegal oder legal Zugang zu den Liedern haben, diese zu verbreiten – auch gegen Geld. In einer mir bekannten Gruppe auf Instagram ist immer wieder die Rede von sogenannten Leaks. Für diese Musikstücke, die illegal verbreitet werden, wird meistens eine drei- bis vierstellige Kaufsumme verlangt. Woher diese Leaks stammen, ist meist ungeklärt und VerkäuferInnen treten anonym auf. Die Frage, ob es dann noch legitim ist diese Songs zu hören oder gar zu kaufen, habe ich mir zu Beginn häufiger gestellt. Schließlich haben InterpretInnen die Songs ja absichtlich nicht veröffentlicht. Sie waren noch nicht fertiggestellt, waren ihnen nicht gut genug oder passten nicht zum Albumkonzept.

Diese Frage muss am Ende wohl jeder für sich selbst beantworten. Für mich kann ich sagen: Wenn die KünstlerInnen ihre Dateien nicht ordentlich schützen, ist das nicht mein Problem. Ich würde selbst nie kriminell dafür werden, aber wenn Titel öffentlich werden, höre ich sie mir schon gerne an. Obacht jedoch vor Etikettenschwindel! Die bekannte Binsenweisheit des Webs gilt auch hier: Glaube nicht alles, was im Internet steht. Häufig habe ich selbst erlebt, dass einfach behauptet wird, der Song stamme vom angegebenen Künstler oder der angegebenen Künstlerin. Nicht jeder angebliche „unreleased song“ ist tatsächlich unveröffentlicht. Für mich lohnt sich deshalb immer ein prüfender Blick in die Kommentare. Hier geben informierte UserInnen zum Teil Auskunft darüber, ob es sich um dreiste Falschinformationen handelt.

Einige Hobby-MusikerInnen und Fans sind jedoch nicht nur reine KonsumentInnen der entdeckten Songs. Sie erstellen ihre eigenen Versionen der Demo-Titel, erweitern kleine 30-sekündige Snippets zu ganzen Liedern im Stil der KünstlerInnen und veröffentlichen diese. Mittlerweile kommt es mir vor, als sei die Schwelle, ein Remake oder Remix der unveröffentlichten Songs zu erstellen, viel niedriger als bei veröffentlichten Titeln. Sie bieten den Hobby-MusikerInnen einfach viel mehr eigenen Spielraum, indem der Beat noch nicht in Gänze fertiggestellt ist oder die Melodie noch nicht ausgereift ist. Trotzdem tragen sie die Handschrift der KünstlerInnen.

Das ist die wahre Magie hinter den unveröffentlichten Songs. Sie inspirieren deutlich stärker, als starre Strukturen und gesetzte Melodien bereits veröffentlichter Songs. Allzu oft nehmen MusikerInnen an, ein makelloses Produkt auf den Markt bringen zu müssen. Perfektionismus anzustreben und eine Fassade der Unfehlbarkeit aufzubauen, das ist der falsche Weg. Für mich zählen Songs, die nicht glattgeschliffen sind, dafür aber über ihr eigenes Dasein hinaus inspirieren.

Total
0
Shares
Ähnliche Beiträge
Mehr lesen

Neuer Raum für Kreative

„Die H_lle“ ist eine alte Holzlagerhalle am Hauptgüterbahnhof in Braunschweig. Mit Café, Atelier und Veranstaltungsräumen sollen hier Freiräume für Kunst und Kultur entstehen. Inhaberin Henrike Wenzel erzählt Campus38 von ihrer Vision, Braunschweig mit dem neuen Kulturzentrum noch attraktiver für KünstlerInnen zu machen.
VON Finn Scheunert
Mehr lesen

Kind sein in den 90ern – Wisst ihr noch?

Wer erinnert sich nicht gerne an die Zeit zurück, in der das Leben noch unbeschwert und die größte Sorge war, wie man seine Eltern dazu bringen konnte, ein Happy Meal bei McDonalds zu kaufen. Denn die typische Antwort à la „Wir haben Essen zu Hause“, hat unser 10-jähriges Ich so gar nicht zufriedengestellt. Auch, wenn diese Antwort jetzt mit einem schlanken Studentenbudget sehr gut nachzuvollziehen ist.
VON Sandra Klopp