Spagat zwischen Unterhaltung und Sicherheit

Im klassischen Fernsehen gelten klare Jugendschutzregeln. Vor Streamingdiensten wie Netflix scheinen sie jedoch Halt zu machen. Schafft es die Plattform trotzdem, Jugendschutzstandards sicherzustellen?

„Nimm dir was zu knabbern und mach’s dir gemütlich. Denn ich werde dir jetzt die Geschichte meines Lebens erzählen. Genauer gesagt, warum mein Leben ein Ende fand.“ Mit diesen Worten beginnt eine der wohl meist diskutierten Netflix-Serien der Zeit – Tote Mädchen lügen nicht. Im Mittelpunkt steht der Suizid der High-School-Schülerin Hannah Baker. Sie hinterlässt Kassetten, auf denen sie Mitschülern und Freunden ausführlich erklärt, warum sie Mitschuld an ihrem Selbstmord tragen. Der Zuschauer begleitet sie durch ihr schwieriges High-School-Leben und muss am Ende sogar hilflos mit ansehen, wie sie sich das Leben nimmt. Eine Serie, die polarisiert, aber dennoch ein wichtiges Thema anspricht.  Trotzdem ist sie ganz bestimmt nicht für jeden geeignet. Doch wer aber bei Inhalten wie diesem nach dem Symbol der Freiwilligen Selbstkontrolle (FSK) sucht oder auf den Jugendschutz vertraut, ist bei Netflix fehl am Platz.

Eltern- und Ärzteverbände waren sich nach der ersten Staffel einig: Die Serie ist gefährlich. Nicht nur wegen der fehlenden Altersempfehlung. Man befürchte den sogenannten Werther-Effekt bei suizidgefährdeten Jugendlichen. Demnach könnten diese nach dem Verfolgen der Serie den Suizid als Ausweg aus ihrer Situation wählen. Kurz nach der Veröffentlichung soll es sogar einige Fälle von Suizid gegeben haben. Daraufhin hat die Universität Michigan die mögliche Verbindung der Serie zu der Steigerung des Suizidrisikos untersucht.  „Die Studie beweist, dass wir uns definitiv Sorgen darüber machen sollten, wie die Sendung sich auf leicht beeindruckbare und verletzliche Teenager auswirkt“, schlussfolgert Victor Hong, der Studienleiter der Universität. Mit dem Streamingdienst Netflix werde der Jugendschutz „noch absurder, als er ohnehin schon ist“, so Joachim von Gottberg, der Geschäftsführer der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF). Denn bei DVDs, im Kino und im Fernsehen ist der Jugendschutz klar geregelt: Die FSK prüft Inhalte und gibt Altersfreigaben vor, die bindend sind. Bei Netflix sieht die Situation jedoch anders aus. Das Portal hat sich nicht für die FSK verpflichtet, prüft die Inhalte hinter geschlossenen Türen selbst. Bei bereits von der FSK geprüften Filmen und Serien muss der Anbieter die Altersfreigabe allerdings übernehmen und gut sichtbar anzeigen.  

Das klassische Fernsehen, welches von Jugendlichen kaum noch genutzt wird, sei also weiterhin hoch reguliert. „Der Bereich hingegen, in dem sie sich regelmäßig aufhalten, unterliegt nur der Selbsteinschätzung“, kritisiert von Gottberg. Auch Serien wie Stranger Things und The Walking Dead unterliegen nur dieser Selbsteinschätzung. Jedoch zeigen auch sie beängstigende und brutale Szenen, vor denen Minderjährige geschützt werden sollten.

In kleinen Schritten Richtung Jugendschutz

Um Kinder und Jugendliche zu schützen, gibt Netflix dem Hauptnutzer zwei Möglichkeiten vor: Die Erstellung eines Kinderprofils oder die Festlegung einer PIN, die vor der Wiedergabe von Filmen oder Serien erfragt wird. Mit altersspezifischen Einstellungen der Eltern soll so verhindert werden, dass jüngere Zuschauer für sie nicht geeignete Inhalte sehen. Jedoch weist der Anmeldeprozess Lücken auf, die die Schutzmaßnahmen nutzlos machen können. Hier ein paar Angaben, dort ein paar Häkchen – wie am Schnürchen wird man durch den Registrierungsprozess geleitet. Da der Netflix-Nutzer laut Datenschutzrichtlinien volljährig sein muss, dürfen dabei die Altersangaben und ein Zahlungsmittel natürlich nicht fehlen. So weit, so gut. Doch wie eine Probeanmeldung zeigt, ist es gar nicht so schwer, das System in die Irre zu führen. So hat eine 15-jährige Testperson versucht, sich mit gefälschtem Geburtsdatum anzumelden. Zuerst wurde dazu aufgefordert, den Prozess zu wiederholen. Gesagt, getan. Der zweite Versuch glückte tatsächlich. Ohne weitere Kontrolle war nun ein Minderjähriger Hauptnutzer von Netflix. Die Erstellung eines Kinderprofils oder einer PIN wird damit aus Sicht des Jugendschutzes zwecklos.

Nach der Debatte um Tote Mädchen lügen nicht zeigt sich der Anbieter jedoch verantwortungsbewusster. So führte der Streamingdienst die Anzeige eigener Altersempfehlungen ein, die es vorher auf der Plattform gar nicht gab. Diese wird in einem Warnhinweis von Netflix sogar begründet. Die zweite Staffel von Tote Mädchen lügen nicht wurde außerdem mit einem Disclaimer eingeleitet. In diesem raten die Darsteller dazu, sich die Serie in Begleitung anzuschauen und bei psychischen Problemen Hilfe aufzusuchen. Mit kleinen Schritten in die richtige Richtung. Eigene Altersempfehlungen bei Streamingdiensten sind zwar nicht verpflichtend wie die FSK bei Kinofilmen, aber immerhin ein Anfang. So bemüht sich Netflix, ein sicheres Konstrukt für die jüngere Generation zu sein. Aber gerade wegen Produktionen wie Tote Mädchen lügen nicht, Stranger Things oder The Walking Dead sollten die Eltern noch ein Auge auf den Konsum ihrer Kinder haben. Denn Kinder und Teenager können nicht immer Fiktionales von der Realität unterscheiden. Eigeninitiative der Erziehungsberechtigten wird also ein Stück weit vom Anbieter vorausgesetzt.

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