Stilvoll streiten

Das Debattieren gilt als Königsdisziplin der Rhetorik. Auch an deutschen Hochschulen gewinnt der vergessene Wettstreit mit Wörtern immer mehr an Bedeutung. Ein Besuch im Debattierclub Hannover.

Man erwartet, auf gut situierte Studierende der Rechts- oder Wirtschaftswissenschaften zu treffen, die dem Klischee entsprechend zurückgegelte Haare, Mittelscheitel, Hemd und schwere Uhren tragen. Doch genau das Gegenteil ist der Fall: Der Debattierclub Hannover besteht aus einer bunten Truppe junger Studierender, die eher leger mit Jeans, T-Shirt und Pullover bekleidet sind. „Im deutschen Raum gibt es keinen festen Dresscode, nicht einmal für Turniere. Lediglich bei größeren Finalreden oder internationalen Turnieren sieht man das klassische Business-Dress“, erklärt Marco Albers, Vorstand des Debattierclubs Hannover.

Überbleibsel vergangener Tage?

Im ersten Stock des Conti-Hochhauses haben sich zwölf Mitglieder des „Debattierclub Hannover“ eingefunden. Das Gebäude ist ein Überbleibsel aus den 1950er Jahren und war damals das höchste Hochhaus Deutschlands. Vom damaligen Glanz ist wenig übrig: Der Rollladen hängt schief und klappert, wenn der Wind pfeift. Die Tafel bekritzelt und verschmiert. Die Wände – bis auf ein paar Poster vergangener Veranstaltungen – kahl. Es ist stickig. Kreidegeruch hängt schwer in der Luft.

Laut Satzung ist der Zweck des Vereins die „Förderung der Bildung auf dem Gebiet sprachlicher und rhetorischer Fähigkeiten“. Das liest sich ähnlich verstaubt wie die Umgebung. Marco sagt: „Wir treffen uns hier, um unsere rhetorischen Fähigkeiten zu verbessern. Es geht um Inhalte, Relevanz von Argumenten, Mimik und Gestik.“

Heute wird eine sogenannte OPD geführt. Die offene, parlamentarische Debatte besteht aus einer Partei und einer Opposition. Also ein klassisches Aufeinandertreffen von Befürwortern und Gegnern. Jedes sogenannte Haus hat drei Mitglieder. Zusätzlich gibt es drei freie Redner, diese können nach der Debatte wählen, welche Seite sie unterstützen. Alle Argumente werden von einer Jury gehört.

Von der Antike zur Moderne

Das Debattieren ist eine jahrhundertealte Tradition, die aus der Antike stammt und untrennbar mit der Demokratie verbunden ist. In Deutschland erlebt die „Königsdisziplin der Rhetorik“ seit ungefähr 20 Jahren ein Comeback: 1991 wurde in Tübingen der erste studentische Debattierclub gegründet. Heute sind beim VDCH, dem „Verband der Debattierclubs an Hochschulen“, über 70 Clubs aus Deutschland, Österreich und der Schweiz eingetragen.

Zum Start der heutigen Debatte werden per Los die Rollen verteilt. Im Raum breitet sich gespannte Stille aus. Was wird das Thema der heutigen Diskussion? Marco schreibt langsam an die Tafel: „Dieses Haus bedauert die Entstehung einer Kostenloskultur im Internet“. Sofort folgt eifriges Gewusel im Raum, die Parteien treten zusammen und beginnen mit dem Brainstorming. Es werden Begriffe definiert, Argumente gesucht und Gegenargumente diskutiert. Eine Regel dabei: Keiner fällt dem anderen ins Wort und jeder darf ausreden. Dies erzeugt eine gewisse Ruhe in all dem Stimmgewirr. Die 15 Minuten Vorbereitungszeit vergehen wie im Flug und es ist schwer vorstellbar, dass aus den geschmierten Notizen und den schnell festgelegten Argumenten eine einstündige Debatte entstehen

kann. Die Teilnehmer nehmen ihre festen Plätze ein: Die Partei bekommt die linke Seite des Raumes, die Opposition die rechte Seite. In der Mitte platziert sich die Jury, dahinter die freien Redner. So wird nun auch optisch deren eher beobachtende Rolle sichtbar. Direkt vor der Tafel ist das Rednerpult platziert. Im Wechsel treten Mitglieder der Partei und Opposition vor und legen in jeweils siebenminütigen Reden ihre Positionen dar.

Rentner Helmut und Schüler Tim

Binayi Saley ist heute das erste Mal aktiv dabei. Man spürt ihre Anspannung, dennoch führt sie als erste Rednerin der Partei solide in das Thema ein, liefert Hintergrundinformationen und definiert zentrale Begriffe. Darauf kontert die erste Rednerin der Opposition und so geht es im Wechsel weiter. Dabei fällt auf, dass bestimmte Floskeln immer wieder verwendet werden, wie zum Beispiel: „Wir stimmen zu, dass…, aber …“. Marco erklärt später, dass es sich dabei um Einführungssätze handelt, die für den Aufbau der Argumentation elementar sind. Ein weiteres Stilelement, dass sich durch die Debatte zieht ist das Beispiel: „Stellen Sie sich vor, dass…“. So lernt man, aufseiten der Opposition, den Rentner Helmut kennen, der zwar keine kostenlosen Produkte im Netz konsumiert, diese aber trotzdem über erhöhte Kosten für Marketing mitfinanzieren muss. Auf der anderen Seite steht der wissbegierige Tim aus der Arbeiterschicht. Die Partei erklärt, dass er für ein Referat nach Informationen sucht. Das Ergebnis könne er allerdings nicht einordnen und bewerten, da im Internet eine Regulierungsinstanz fehle. Zusätzlich angeheizt wird die Debatte durch Zwischenrufe. Damit ist nicht plumpes „Reinschreien“ gemeint, wie man das aus der Schule kennt. Marco, in seiner Rolle als freier Redner, erhebt sich von seinem Platz und wartet, bis er aufgerufen wird. Dann stellt er seinen Sachverhalt dar und endet mit „Ist das nicht so?“. Die Art und Weise, wie der Redner die Frage beatwortet, fließt mit in die Bewertung ein.

„Sie sehen, wir haben es hier mit einem Haufen verliebter und verklärter Internetnutzer zu tun, die der Realität nicht ins Auge sehen wollen!“, fasst Marco die Argumentation der Opposition spitz zusammen. Es folgt lautes Klopfen der eigenen Partei auf den Tischen. Am Ende der Debatte, nachdem auch alle freien Redner ihre Argumente vorgetragen haben, liefert jede Partei ihre Zusammenfassung. Diese gibt einen Überblick, führt noch einmal die stärksten Argumente an und entkräftet die Gegenseite. Ruben Herrmann, der seit fast einem Jahr im Debattierclub Hannover ist, erklärt die Schwierigkeiten: „Während der gesamten Debatte müssen Argumente mitgeschrieben werden, Gegenargumente formuliert werden und das alles noch strukturiert und eigeordnet werden.“ Auch wenn die Clubdebatten sehr intensiv seien, bekomme er dadurch Routine und Gelassenheit. „Am Ende des Tages weiß man, was man geleistet hat“, resümiert er lachend. Marco ergänzt: „Turniere sind für uns anstrengend, manchmal kann ich auf Nachfrage nicht mal mehr das Thema von vor zwei Stunden wiedergeben“. Trotzdem ist der Ansporn hoch auf Turniere zu fahren: Geht das Team zuhause nett und freundschaftlich miteinander um, hat man hier eher die Wettkampfsituation. Es werden Listen geführt, in denen die besten Teams und Einzelredner aufgelistet sind. Zusätzliche Motivation ist die Ehrenjury: Diese besteht aus Politikern und Kulturschaffenden und kürt im Finale den besten Einzelredner oder die beste Einzelrednerin.

Bewertung und Austausch

Auch in Hannover hat die Jury zwischenzeitlich ihr Urteil gefällt. Gewichtet werden unterschiedliche Aspekte: Die Auswahl der Argumente der Redner bezieht sich auf die Stärke und die Nachvollziehbarkeit sowie die Struktur der Argumentation. Bei Mimik und Gestik wird auf einen festen Stand, Armbewegungen zur Untermalung, wechselnde Lautstärke, Tempi und eine feste Stimme geachtet. Beim Punkt Teamzusammenarbeit wird bewertet, wie gut das Team sich vorab abgestimmt und untereinander ergänzt hat. Der Punkt Kontern bezieht sich auf das Eingehen auf Zwischenrufe, ob diese angenommen wurden, wie präzise geantwortet wurde und wie stark das Argument war.

Draußen im Gang findet das sogenannte „Shake-Hands“ statt. Dort tauschen sich die Teilnehmer aus. Dabei fällt auf: Die Mehrzahl der Mitglieder besteht aus angehenden Naturwissenschaftlern und Ingenieuren. Dies ist verwunderlich, wird aber von Ruben folgendermaßen erklärt: „Für Rechts- und Wirtschaftswissenschaftler ist das Erlernen rhetorischer Fähigkeiten im Modulhandbuch festgelegt, da besteht weniger Bedarf.“ Für ihn ist das Debattieren der Ausgleich zum eher forschungsorientierten Studium. Mehr noch, es ändert seinen Blickwinkel: „Jeder hat im Kopf seine vorgefertigten Idealvorstellungen. Was man hier lernt, ist das Umgehen mit Gegenpositionen und das Einnehmen anderer Meinungen, als die eigene.“ Für Marco hat das auch Auswirkungen auf das private Leben: „Ich kann andere Menschen und deren Sichtweisen heute besser nachvollziehen und trete auch viel selbstreflektierter auf.“

Hilfreich ist dabei vor allem die Bewertung der Jury, die zwischenzeitlich ihr Urteil gefällt hat: „Die Debatte heute hat Spaß gemacht und wir haben gemerkt, dass auch ihr Spaß hattet. Das Niveau war durchgängig hoch, es gab kaum Wiederholungen und ihr seid gut aufeinander eingegangen“. Auch hier spürt man den freundschaftlichen Umgang im Team: Die Jury bringt für jeden Teilnehmer und jede Teilnehmerin Aspekte ein, die er oder sie gut oder besser als sonst gemacht hat, gibt aber auch konstruktive Kritik, angepasst an das Niveau.

Debattieren als Politikum

Der Debattierclub in Hannover besteht seit 2008. Grund für den Beitritt war für Ruben, dass er lernen wollte, souveräner aufzutreten. Eine Kompetenz, die in seinem Studium der Elektrotechnik nicht vermittelt wird. Für Marco ist es die Idealvorstellung, sich als mündiger Bürger in einen Wettstreit begeben zu können und für Themen und Ideen einzustehen. Er bezieht dies auch auf die Wahlen: Auch hier gibt der Bürger an der Wahlurne seine Stimme ab. „Ich habe ja dann nicht nur Artikel zu diesem Thema gelesen, sondern mich auch aktiv damit auseinandergesetzt“, erklärt er. Er reflektiert auch, dass er Print-Artikel heute anders liest: So sucht er sich eine Kernthese und wiegt in seinem Kopf Argumente gegeneinander ab.

Doch wie steht es denn nun um die deutsche Debattenkultur? Marco betrachtet auch hier beide Seiten: „Zwar gibt es einen Qualitätsjournalismus, in dem die Redakteure aufeinander eingehen und es gibt Bundestagsdebatten, bei denen Argumente diskutiert und aufeinander Stellung bezogen wird.“ Jedoch finden diese Debatten meist fernab von einem Massenpublikum statt, das eher Spiegel-Online-Kurzmeldungen liest und Talkshows konsumiert. „Hier werden konträre Positionen einander gegenübergesetzt und es geht nur ums Recht haben, sich anschreien und persönlich beleidigen.“ Genau deshalb findet er auch die Arbeit des Debattierclubs wichtig, mit tiefgehenden Argumentationen und Recherchen. Denn nach Marcos Meinung, führt eine steigende Allgemeinbildung auch zu einem besseren Überblick. Ruben knüpft mit dem Beispiel Trump an: „Populisten machen generell plakativ Stimmung über Gefühle, indem sie ein einfaches Weltbild erschaffen.“ Dies sei zwar nichts Neues und wurde auch früher schon oft auf Wahlplakaten transportiert, das Problem sieht er aber in der Reichweite. So hat heute über Twitter jeder die Möglichkeit, Slogans und gefährliches Halbwissen zu verbreiten. Beide sind sich einig, dass dies das demokratische System bedroht, aber andererseits die Demokratie so etwas auch aushalten müsste, resümiert er.

Verband der Debattierclubs an Hochschulen

Der „Verband der Debattierclubs an Hochschulen“ vernetzt alle Debattierclubs aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Gegründet wurde dieser 2001 in Münster und zählt inzwischen über 80 Clubs. Durch eine Kooperation mit der ZEIT entstand das Debattenformat „ZEIT-Debatte“. Diese wird jedes Jahr in einer anderen Stadt ausgerichtet. 2016 fand diese in Hannover statt und Teil der Ehrenjury war der Oberbürgermeister der Stadt, Stefan Schostock.

Total
0
Shares
Ähnliche Beiträge
Mehr lesen

Wenn 400 Millionen die Wahl haben

Die Bürger aus allen Mitgliedsstaaten der europäischen Union wählen vom 23. bis zum 26. Mai 2019 ihr Parlament. Die Wenigstens durchblicken die Wahl aber wirklich. Was ist das Parlament? Was genau wird entschieden? Campus38 hat nachgehakt.
VON Janina Meyer
Mehr lesen

Doping im Biathlon: Wie der Sport sein Gesicht verliert

Möge der Beste gewinnen, oder doch nur das Beste Dopingsystem? Seit den Olympischen Winterspielen 2014 stellen sich Fans und Athleten einer der beliebtesten Sportarten der Deutschen diese Frage. Staatlich organisiertes Doping, Vertuschung und Korruption lassen den Glauben an einen sauberen Sport immer weiter verblassen. Wie ist es möglich, dass systematisches Doping unentdeckt bleibt und ehemalige Dopingsünder zurückkehren?
VON Lara Trenkner
Mehr lesen

Die Schattenseiten von Instagram

Instagram löscht Bilder, von Menschen, die nicht dem allgemeinen Schönheitsideal entsprechen. Doch Beiträge, die rechte Parolen verbreiten, lässt die Plattform zu. Was also zählt für Instagram als nicht richtlinienkonform?
VON Pia Broders, Vanessa Neu