Über neue Freiheiten in bleiernen Zeiten

Und täglich grüßt das Murmeltier. Seit Tagen geht mir der Ohrwurm aus dem 90er-Kassenhit mit Bill Murray nicht aus dem Sinn: „I got you babe“.

„I got you babe“: Ich höre es, wenn ich mittags koche, wenn ich mich zum Homeschooling zu den Kindern setze und wenn ich die Videokonferenz zur Lehre einschalte. Ich sehe vor mir, wie das analoge Kalenderblatt umschlägt auf dem altmodischen Radiowecker im Hotelzimmer dieser One horse town irgendwo im Nirgendwo von Pennsylvania. Mitten im Winter soll der zynische TV-Wettermann dort prophetiebegabte Murmeltiere beobachten, deren Verhalten nahenden Frühling oder langen Winter anzeigen soll: „I got you babe“, trällern Sonny und Cher. Und es beginnt der immer gleiche Tag.

Die Zeichen stehen auf Winter – in „Groundhog Day“ und im wahren Leben. Und wie Bill Murray erleben auch wir den scheinbar immer gleichen Tag. Seit mehr als einem Jahr. Das Szenario erinnert mich an Bill Murray bei seinen Versuchen, die bezaubernde Andie MacDowell zu bezirzen. Ich sehe ihn plötzlich lossprinten, um den Jungen, der gleich aus dem Baum fallen wird, aufzufangen. Das ist witzig – und mit Humor müssen wir es wohl auch nehmen, dass das 3. Coronasemester angebrochen ist. Seit einem Jahr treffen sich Studis und Dozierende (fast nur) noch virtuell. Die Studis machen das großartig und bewahren vorbildlich die Haltung angesichts der erheblichen psychologischen Belastungen. Es fehlt das soziale Miteinander, all das was dem Studium die Würze gibt – Spontaneität und kleine unerwartete Begegnungen am Rande – all das ist im ewigen Winter wie eingefroren.

Doch schauen wir auch auf die Vorteile. Wie Wettermann Phil Connors den einzigen Tag, den er erlebt, auswendig kennt, haben wir mittlerweile Routine in der digitalen Lehre. Die Stoffpräsentation über die Lernplattform Moodle ist gegenüber StudIP eine Offenbarung, Lehre und Videokonferenzen funktionieren (meistens). Die Präsenz der Studis und ihr Interesse an den Lehrangeboten sind gut – die Motivation ungebrochen. Und es sind echte Entdeckungen dabei, von denen sich Dozierende und (manche) Studierende erhoffen, dass diese Pandemie womöglich überdauern mögen. Dazu ein paar Gedanken.

Bringt eine live gehaltene Vorlesung zur Wissensvermittlung den Studis wirklich Vorteile gegenüber einer asynchron verfügbaren Aufzeichnung und der Möglichkeit, die Prüfungsvorbereitung individueller zu gestalten und während der Kontaktzeit dennoch Fragen zu stellen? Die ‚Einschaltquoten‘ der Vorlesungen waren jedenfalls nie höher als online und auch die Prüfungsergebnisse waren zuvor schlechter. Nachhaltiger ist es zudem.

Auch die aus der Not geborene neue Prüfungsformen sind für mich eine Entdeckung. Mündliche Prüfungen statt Klausurformaten sind auch in didaktischer Hinsicht ein Gewinn. Und sie funktionieren bei uns im Großen und Ganzen auch online – unter anderen Rahmenbedingungen.

Schon die äußeren Umstände erzwingen es, den Studierenden die Benutzung der Vorbereitungsmaterialien zu gestatten muss, schon allein aufgrund begrenzter Kontrollmöglichkeiten. Die so genannten Open Book-Formate bieten Dozierenden und Studierenden erhebliche Vorteile: Weil nicht mehr nach sinnlos reproduziertem Auswendiglernstoff gefragt werden muss, kann der Schwerpunkt auf die echten Verstehensfragen gelegt werden. Denn Verstehen erweist sich erst in der Anwendung, im Transfer auf unbekannte Situationen. Hochschuldidaktiker sprechen dabei von den höheren Taxonomiestufen des Verstehens. Und genau das, nämlich dass die Studis etwas aus den Lehrveranstaltungen mitnehmen mögen, wünschen sich doch viele Dozierende. Aus meiner Sicht waren die mündlichen Prüfungsgespräche in der Gruppe jedenfalls bereichernd und erhellend. Auch die meisten Studis haben diese Situation als deutlich angenehmer beschrieben als die klassische Präsenzklausur. Ob ich dorthin nochmals zurückkehren werde, wenn es wieder möglich sein wird: eher nicht.  

Und so tut sich inmitten der Krise die Tür zu einem Möglichkeitsraum auf, der eine Fülle neuer Freiheiten birgt. Freiheiten, die das Potential haben, Lehre und Prüfungen positiv weiterzuentwickeln ganz im Ideal guter und zeitgemäßer Lehre. Vermutlich werden wir diesen Wert erst dann voll erkennen, wenn die neuen Möglichkeiten nicht mehr im Zeichen von außen oktroyierter Freiheitsbeschränkungen daherkommen, sondern als tatsächliche Wahloption.

Im Hollywoodstreifen erfährt der zynische Wettermann Phil Connors Erlösung nach seiner Läuterung. Ob wir alle erst bessere Dozierende werden müssen, bis Corona endet, scheint mir fraglich. Aber probieren können wir es ja mal.

Marc-Christian Ollrog ist Professor für Journalistik und Studiendekan für den Medienbereich an der Ostfalia in Calbecht.

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