Unterschätzte Gefahr

Hinter Essstörungen steckt oft mehr als nur das Streben nach dem idealen Körperbild. Campus38 spricht mit einer Psychotherapeutin über die Gefahren, Ursachen und Formen der Erkrankung.

Vom Laufsteg in die Klinik. Kera Rachel Cook hat es am eigenen Leib miterlebt. Die heute 30-Jährige war 2010 Kandidatin bei der deutschen Castingshow „Germanys Next Topmodel“ und hatte den sehnlichen Wunsch, als erfolgreiches Model durchzustarten. Leider zerplatzte ihr Traum als sie in den Top 20 ausschied. Der Grund: Ihre Figur sei schwierig. Die Folge: Sie erlitt eine Essstörung.

Essstörung – ein totgeschwiegenes Gesellschaftsproblem, welches doch so offensichtlich ist, aber dennoch immer wieder ein Tabuthema darstellt. Sei es Magersucht, Bulimie oder aber Binge Eating (Fresssucht), alle drei Begriffe werden unter der Massenkrankheit Orthorexia nervosa zusammengefasst. Die meisten Menschen assoziieren damit zunächst abgemagerte junge Mädchen, die versuchen unrealistischen Idealen zu entsprechen. Sofort tauchen Bilder von dürren Models im Kopf auf, die nur aus Haut und Knochen bestehen und sich von nicht viel mehr als Reiswaffeln ernähren. Dass es bei einer Essstörung aber nicht nur in die Richtung Hungern bis zum Tode geht, unterschätzen viele. Insbesondere das sogenannte Binge Eating zählt zu einer der drei Formen, bei der sich die Erkrankung nicht auf den ersten Blick erkennen lässt.

 

Zwischen Magersucht, Bulimie und Fresssucht

Die Übergänge zwischen den drei Arten sind schwer zu unterscheiden. So spricht man bei der Magersucht von einer streng kontrollierten Nahrungsaufnahme in Verbindung mit absichtlichem Erbrechen, exzessivem Sport und Medikamentenmissbrauch. Das Hungergefühl wird ausgeblendet oder aber gar unterdrückt, sodass die Betroffenen absichtlich stark untergewichtig sind. Menschen, die an Bulimie erkranken, sind von Außenstehenden oftmals nicht sofort zu erkennen. Um die Gewichtszunahme zu verhindern, greifen sie auf Abführmittel und Entwässerungsmedikamente zurück. Dagegen leiden Betroffene des Binge Eatings an unkontrollierten Essattacken, bei denen sie jegliche Kontrolle über ein normales Essverhalten verlieren und weder ein Hunger- noch ein Sättigungsgefühl verspüren.

Laut einer Studie der Universität Jena leiden rund 29 Prozent der Frauen und 13 Prozent der Männer zwischen 12 und 32 Jahren an einer Essstörung.

Auch das Ex-Model Kera Rachel Cook hatte mit den fließenden Übergängen der Krankheit zu kämpfen. Nachdem Modelagenturen ihr, unter der Bedingung abzunehmen, den großen Erfolg versprachen, bestimmten strenge Ernährungspläne sowie tägliche Sportprogramme ihren Alltag. Es folgte ein Wechselspiel von Fressattacken und Null-Diäten sowie der Anfang einer qualvollen Reise durch die Bulimie und das Binge Eating.

Doch wann spricht man von einer Essstörung?

Laut Jessica Bäumer, Heilpraktikerin für Psychotherapie, sprechen Experten ab dem Zeitpunkt von einer Erkrankung, wo der Mensch zu leiden beginnt. Leiden, weil er Verhaltensmuster an den Tag legt, die nicht der Norm entsprechen. Allein dieser Leidensdruck ist Grund genug, um zu sagen, da ist etwas! Eins ist klar: Die Essstörung entsteht nicht über Nacht. Bei beinah allen Patienten ist ein jahrelanger, schleichender Prozess vorausgegangen.

„Diese Menschen rufen nie zu früh bei mir an!“

 Jessica Bäumer, Psychotherapeutin für Essstörungen

Essstörung als Modekrankheit der Nation?

Laut Experten nehmen nicht erst seit gestern die Zahlen der Patienten extrem zu. So stieg zwischen 2011 und 2015 die Anzahl der Erkrankten bundesweit um etwa 13 Prozent. Aber wieso erklären Menschen ihrem eigenen Körper den Krieg? Den einzig wahren Grund gibt es dafür nicht. Wie bei allen psychischen Krankheiten, ist auch die Ursache für eine Essstörung multifaktoriell. Bei manchen ist es anlagebedingt, bei anderen ein Stück angelernt.

Viele Ursprünge sind bereits in der Kindheit zu erkennen. Von Problemen im Elternhaus über Mobbing in der Schule bis hin zum Anderssein und nicht den Idealen entsprechen. Jessica Bäumer betont, dass der zunehmende gesellschaftliche Druck einen großen Faktor darstellt. Stress in der Schule, Stress im Studium, Stress auf der Arbeit: der Leistungsdruck perfekt zu sein. Ein Grund, den auch Kera Rachel Cook zu gut kennt. Um den beruflichen Anforderungen und Modelmaßen zu entsprechen, nahm sie innerhalb von neun Monaten 20 Kilo ab. Da der Leistungsdruck zunehmend früher beginnt, sind auch betroffene Personen immer jünger. Insbesondere die junge Generation in der Berufsausbildung sind potentiell Gefährdete, die schnell die Kontrolle über das normale Essverhalten verlieren. Eine Gruppe, zu denen auch Studierende gehören. Mit Beginn des Studiums lernen junge Menschen zu funktionieren. Die Leistung wird nicht mehr nur erwartet, sondern vorausgesetzt, was einen enormen psychischen Druck aufbaut!

Der neue Gegner

Psychotherapeutin Jessica Bäumer stellt heutzutage immer wieder fest, dass die Orthorexia nervosa im deutlichen Wandel steht und sich das menschliche Denken dem Ganzen anpasst. Haben vor Jahren die Erkrankten noch mit Abführmitteln, Erbrechen und Heißhungerattacken gekämpft, kommt heutzutage noch ein weiterer Gegner hinzu: der exzessive Sport. Sport ist heute nicht mehr nur ein schöner Alltagsausgleich und eine Freizeitbeschäftigung, sondern bei vielen Menschen zu einem regelrechten Zwang geworden. Insbesondere Bulimie und Binge Eating Patienten tendieren zu einem unausgewogenen Sportrhythmus, bei dem jegliche Kontrolle über den eigenen Körper verloren geht. Bäumer erklärt, dass unsere Gesellschaft regelrecht in diese Richtung gedrillt wird: „Machst du keinen Sport, bist du nichts!“. Begleitet von einer verzerrten Selbstwahrnehmung, zunehmender Vereinsamung, persönlichen Problemen und dem Hass auf den eigenen Körper, wird der Alltag der Erkrankten immer mehr gesteuert. Der Körper soll perfekt sein, weil alles andere es nicht ist. Eng verknüpft mit der Psyche tritt die Essstörung auf. Bäumer warnt: „Sobald der Körper reagiert, ist es eigentlich schon zu spät“. Auch das Ex-Model Kera Rachel Cook bestrafte sich nach ihren Fressanfällen immer wieder mit exzessivem Sport und radikalen Null-Diäten. Der Sport half ihr, die Fressattacken zu kompensieren, sodass Cook an manchen Tagen bis zu fünf Stunden im Fitnessstudio verbrachte.

Die nicht unmittelbaren Folgen

Viele Essgestörte erkennen erst Jahre später, was sie sich selbst angetan habenDie körperlichen, psychischen aber auch sozialen Langzeitfolgen sollten keinesfalls unterschätzt werden. Kera Rachel Cook betont, dass Essgestörten durchaus bewusst ist, dass sie ihrem eigenen Köper schaden, aber sie es in dem Moment nicht ändern können und auch nicht wollen. Hinzu kommt, dass die Erkrankung oftmals mit Depressionen und Angstzuständen einhergeht. Ängste und das mangelnde Selbstbewusstsein sowie die falsche Selbstwahrnehmung sind hierbei eng miteinander verknüpft und so sprechen Experten auch von einer Körperschemawahrnehmungsstörung.

Laut der niedersächsischen Ärztekammer endet eine Essstörung bei rund 16,8 Prozent der Betroffenen tödlich!

Psychotherapeutin Bäumer betont, die Bereitschaft eine Therapie zu beginnen sei heutzutage um ein Vielfaches gestiegen. Erkrankte schämen sich nicht mehr so wie früher Hilfe in Anspruch zu nehmen und Patienten haben schneller die Einsicht: „Ich kann es alleine nicht schaffen.“ So auch bei dem deutschen Ex-Model Cook. Als sie ihre Mutter an den Fressattacken teilhaben ließ und ihren Hausarzt um Hilfe bat, entschied sie sich für eine ambulante Behandlung.

Kein Ende in Sicht

Jessica Bäumer weist darauf hin, dass Betroffene niemals als vollends geheilt bezeichnet werden können. Sie lernen lediglich mit der Krankheit umzugehen, aber es wird dennoch immer eine Empfindlichkeit gegenüber Nahrungsmitteln vorhanden sein. Essen ist und bleibt ein sensibles Thema für diese Menschen und sie werden ein Leben lang darauf achten und mit den Hürden und den Herausforderungen im Alltag kämpfen müssen. Kera Rachel Cook vergleicht ihre Essstörung oft mit einer Drogen- oder Alkoholabhängigkeit: „Steckt man erst einmal in dieser Sucht, ist es schwierig dort alleine wieder heraus zu kommen. Bei Drogen und Alkohol kann man versuchen, die Suchtmittel aus seinem Leben auszugrenzen. Essen muss man jedoch jeden Tag wieder aufs Neue und das macht es um ein Vielfaches schwieriger!“

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