„Den ersten großen Einsatz habe ich ‘97 ausgelöst bei der Polizei, da sind sie mit drei Bussen, drei Wagen und drei Hunden gekommen. Das war auf dem Altstadtfest. Da habe ich den Leuten diese großen Steine, die sie draußen verlegen, hinterhergeworfen. Völlig auf Koks.“
Gianluca Calabrese sitzt in seinem Büro in der Reppnerschen Straße 39. Eine kleine Zweizimmerwohnung in Salzgitter-Lebenstedt. 55 Quadratmeter mitten im Brennpunkt. Gianluca hat tiefe Augenringe und muss oft gähnen. „Wir sind rund um die Uhr erreichbar. Ich habe 670 Gesprächsminuten allein in den letzten beiden Tagen.“ Seit Oktober 2018 ist hier sein Sucht- und Präventionshilfeverein SuPer-Salzgitter e.V. ansässig – für den Gründer mittlerweile ein Vollzeitjob. Auch, weil er seinem Ausbildungsberuf Koch der
Gesundheit wegen nicht mehr nachgehen kann.
Von außen präsentiert sich der Verein sehr unscheinbar. Die Wohnung liegt am Ende einer der ellenlangen Häuserreihen, die das Stadtbild Lebenstedts prägen. Nur zwei kleine Schilder weisen auf das hin, was sich im Inneren verbirgt. Lichtdurchflutet, helle Ledercouches finden sich innen, auch ein großer Esstisch und sogar Fernseher und Balkon. In der Luft liegt Kaffeegeruch. Die Räumlichkeiten erinnern eher an ein Wohn- als ein Beratungszimmer. Es ist nicht der einzige Unterschied zu üblichen Suchtberatungsstellen. „Mir geht es nicht um Fördergelder. Mir geht es um den Menschen, der das Problem hat. Mehr interessiert mich nicht.“ Er will die Betroffenen, die zu ihm kommen, teilhaben lassen an seinem Wissen über Gefahren in der Szene, über Dealer und was es bedeutet, in Haft zu sitzen. „Suchtprävention erfolgreich realisieren.“ Kostenlos. Dafür steht der Name. Und das Projekt findet Zuspruch. Bereits in den ersten acht Tagen nach der Eröffnung kamen 32 Betroffene zu Gianluca und seinen Kollegen und baten um Hilfe. Im November waren es sogar 95. Nicht alle sind drogenabhängig. Oft sind es auch Angehörige, Eltern, besorgte Freunde. Obdachlose kommen, um frische, saubere Kleidung zu bekommen. Oder alleinerziehende Mütter, die zum Wäschewaschen vorbeikommen, weil ihre Maschine kaputt ist und es vom Jobcenter zu wenig Geld gibt, um eine neue anzuschaffen. Doch die meisten sind Suchtkranke. „Wir können uns in die Probleme hereindenken und hereinfühlen. Wir wollen mit den Leuten deutsch reden und nicht pädagogisch.“
Es ist keine zehn Jahre her, da war Gianluca selbst drogenabhängig. Mehr als 20 Jahre ist er in diesen Kreisen unterwegs. Zuerst nur als Konsument, später auch als Dealer. Alles beginnt mit dem ersten Joint mit 13. Der erste Kokain
konsum folgt als 16-Jähriger. „Das erste Mal ist immer ein schöner Moment, die Atmosphäre passt. Beim zweiten Mal ist man dann in voller Erwartung, dass es wieder so wird, aber es passt nicht. Und man versucht mit jedem Mal, den ersten Rausch wieder zu erleben, es wird aber nur schlimmer.“ Er macht seinen Realschulabschluss und absolviert eine Ausbildung als Koch, doch von den Drogen kommt er nicht mehr los. Gerade auch wegen seines Jobs. „Viele konsumieren, um zu funktionieren. Das ist Gastronomie. Dass das auch für andere Jobs gilt, weiß ich aus meiner Zeit als Dealer.“
Oft ist er sechs Tage in der Woche am Stück wach gewesen.
Tagsüber bis spät in die Nacht die Arbeit in der Küche, danach Drogengeschäfte vorbereiten und abwickeln. Sonntags muss ihn sein Chef über ein Jahr lang wecken. Warum Gianluca immer so schläfrig ist, das weiß sein Chef damals nicht. Er bemerkt auch nicht, dass er kiloweise Drogen in den Kühltruhen auf der Arbeit versteckt sind. Kokain, Amphetamin, Cannabis. Während der Arbeitszeit zieht er damals still und heimlich seine Deals durch. Niemand bemerkt sein Geheimnis, die Drogensucht.
Das erste Mal ins Gefängnis muss er mit 25. Schlägereien, Urkundenfälschung. Es soll der erste von insgesamt fünf Aufenthalten werden. Insgesamt acht Jahre sitzt er über die Zeit in Haft. „Ich war ein echtes Arschloch“ steht über dem ersten Artikel, den Gianluca 2016 über sich schreiben ließ. Neben vielen anderen Berichten über sich und die Arbeit von SuPer hängt dieser eingerahmt an der Wand, vor der er sitzt. In Gesprächen mit Betroffenen fällt deren Blick sofort auf diese Artikel. „Das hängt da nicht, damit ich mich profilieren kann. Die Ausschnitte sollen den Abhängigen zeigen, dass man seine Ziele erreichen kann, wenn man sich welche setzt.“
Sein Lebensweg ist immer wieder von Rückschlägen geprägt.
Der Vater stirbt, als Gianluca ein junger Erwachsener ist. Die ersten beiden Ehen scheitern. Weil er in den Knast muss oder zu sehr mit der Arbeit beschäftigt ist, sagt er. Zu einer seiner Töchter hat der vierfache Vater seit zehn Jahren keinen Kontakt mehr. Diese Rückschläge lassen Gianluca immer tiefer ins Milieu abstürzen. „Dann habe ich mir gesagt: Jetzt scheißt du drauf, gibst richtig Gas.“ Jeden Tag raue Mengen an Kokain, auch Cannabis, Ecstasy, LSD. Die ganze Palette durch, außer Heroin. „Dafür liebe ich mein Leben viel zu sehr, als dass ich es so wegschmeiße.“ Heute gehören auch Heroinabhängige zu denen, die den Verein aufsuchen. Hier gibt es saubere Spritzen für den Konsum. Das sei zu Beginn des Projekts „böse nach hinten losgegangen“, sagt Gianluca. Der Verein provoziere damit den Konsum, halten ihm Kritiker entgegen. „Das müsste man dann aber auch Apotheken vorwerfen. Und diese Spritzen können Leben retten.“
Gianluca sieht seinen Verein in Konkurrenz gegenüber den behördlichen Suchthilfestellen in Salzgitter. Schuld
sei daran vor allem seine Vergangenheit. Darüber ärgert er sich. Trotzdem kommt selbst in solchen Situationen die sarkastische Ader durch, die er bei sich selbst sieht. „Ich bin nicht der typische Junkie. Ich bin der Junkie, der auch noch reden kann. Sich äußern kann in Wort und Schrift.“ Tatsächlich merkt man seinem Auftreten nicht an, dass er zwei Jahrzehnte exzessiv Drogen konsumiert hat. Kein Lallen oder lange Pausen in seinen Sätzen. Er spricht klar und laut. Generell unterscheidet sich seine Art, mit dem Gegenüber zu reden, stark von denen der behördlichen Suchtberatung.
Gianlucas bester Freund Patrick hilft im Verein mit. Seit zehn Jahren kennen sich die beiden jetzt schon. „Ich habe selbst nie Drogen genommen, habe nie was davon gehalten. Aber wir sind alle nur Menschen und nur weil du irgendwas konsumierst, bist du ja nichts Schlimmeres. Und so fing diese Freundschaft dann an, man hat sich halt gut verstanden. Ich war dann auch für ihn da“, sagt Patrick. Damals durchlebt Gianluca seine schwerste Zeit.
Massig Drogen – jeden Tag
„Da waren die Tische dann nicht mehr schwarz, sondern meistens weiß.“ Die beiden verbringen ab 2009 bis zu Gianlucas Inhaftierung 2011 die meiste Zeit miteinander. „Ich habe ihn oft ein bisschen auffangen müssen in gewissen Situationen, weil er schon aufbrausend war. Ich war der einzige, der ihn beruhigen konnte. Die Leute können von der einen Sekunde auf die andere von brav auf aggressiv wechseln, sind unberechenbar und schon ein kleiner Funke kann da reichen. Gianluca war früher wirklich ein Pitbull.“ Heute scheint er dagegen viel entspannter und nur schwer aus der Ruhe zu bringen. Mit Kaffee und Zigarette verzieht er sich gern auf den Balkon der kleinen Wohnung und führt nicht selten stundenlang Telefonate. Oft müssen seine Frau und Patrick ihm und seinem Tatendrang deshalb einen Riegel vorschieben. „Manche Fälle nehmen Gianluca wirklich mit. Aber mein Familienleben ist mir heilig und ich stehe gar nicht drauf, wenn das zu kurz kommt“, sagt seine Frau, ebenfalls Gründungsmitglied des Vereins.
„Das war so meine Absturzzeit. Das war 2009.“ Gianluca schaut durch seine Facebook-Galerie. „Krass, wie schnell die Zeit vergeht.“ Die Fotos von damals zeigen einen äußerlich ganz anders wirkenden Menschen. Nur das markante breite Gesicht lässt erahnen, dass da Gianluca Calabrese zu sehen ist. Heute trägt er Vollbart und der Haaransatz ist lichter geworden. Tiefe Augenringe zieren sein Gesicht. Vor allem aber ist er nicht mehr so abgemagert wie damals, als er vom Konsum gezeichnet war. Der 42-Jährige ist mittlerweile kräftig gebaut. Sein Gang ist etwas schwerfällig.
„Als meine Frau schwanger war, bin ich mit ihr schwanger geworden und bin es bis heute“, merkt er beim Blick durch die Galerie ironisch an. 2015, da ist Gianluca seit einem Jahr zurück in der Freiheit, lernen sie sich in Salzgitter kennen und heiraten schnell. Ein Jahr später kommt ihr Sohn zur Welt.
„Man denkt immer, Liebe auf den ersten Blick gäbe es nur im Film, aber bei uns war es eben genau so. Es sollte einfach so kommen. Ohne ihn würde ich heute nicht hier sitzen“, sagt seine Frau Bea über Gianluca. Sein hoher Bekannt
heitsgrad in Salzgitter habe Leute am Anfang dazu gebracht, Bea vor Gianluca zu warnen und ihr ihre Hilfe anzubieten. „Ich wusste gar nicht, was die alle von mir wollen. Die reden doch da nicht von meinem Mann. Zu mir war er nie so.“ Dennoch verraten die Geschichten viel über seine Vergangenheit.
2011 wandert er zum letzten Mal ein. Vier Jahre Haft wegen nationalem Drogenhandel. Ein Stück weit, so sagt er, wünscht er sich damals, erwischt zu werden. Er will raus aus diesem Leben, dem Teufelskreis.
„Der beste Weg, um sich aus so einer Szene zu lösen, ist Gefängnis.“ Viele seiner Mitinhaftierten pumpen sich mit Schmerzmitteln voll, „einfach nur um verballert zu sein.“ Im Gefängnis sei es kein Problem, an Drogen und Alkohol zu kommen. „Keine Mauer ist zu hoch, um nichts darüber zu werfen. Viele Wärter werden korrupt, weil sie am Monatsende nur 1300 Euro mit nach Hause nehmen.“ Aber der Anblick der anderen löst ein Umdenken in Gianluca aus.
Nach drei Jahren wird er 2014 entlassen. Im Rahmen der Bewährungshilfe nimmt er an einem Projekt teil, dass Präventionsarbeit an Schulen leisten soll. Er bietet Erfahrungswerte. Und er merkt, dass es gut ankommt.
Als er bald erfährt, dass das Projekt 2016 beendet werden soll, keimt in ihm der Gedanke auf, ein eigenes auf die Beine zu stellen. Er tut sich mit Bekannten zusammen, manche von ihnen kennt er schon Jahrzehnte, auch Bea und Patrick sind dabei. Zunächst bauen sie die Selbsthilfegruppe „Junkies“ auf einem Kleingartengrundstück in Salzgitter auf. Aber Gianluca hat Größeres im Sinn.
Das vielleicht härteste Stück Arbeit: Er braucht ein mietfreies Domizil für den Verein, bittet Wohnungsgesellschaften um Unterstützung. Schlussendlich hat er Erfolg. Dennoch nagt die fehlende Spendenbereitschaft für den Verein an ihm. „Die Leute verstehen nicht, dass Süchtige auch krank sind. Und für jeden Suchtauslöser gibt es einen Grund. Leider wirst du als Suchtkranker schnell abgestempelt.“ Er ist ein Mann der deutlichen Worte. Redet über alles, das ihn bewegt. Hier bleibt er ernst, sonst ist er sehr humorvoll. Viele Geschichten aus der damaligen Zeit und auch der letzten Jahre sollen Beispiele sein, für Suchtkranke und auch Jugendliche. Er erzählt über besserwissende „Mini-Bushidos“ in Schulen, Hausdurchsuchungen und Polizeiverhören, in denen er völlig narkotisiert war. Heute kann er viel über Geschehenes lachen, über seine Absturzzeit, die „wilden Jahre“.
Gianluca bezieht Krankengeld. Als Koch kann er nämlich aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr arbeiten. Heute gilt sein Fokus dem Ehrenamt. Und seine Arbeit findet Anerkennung. 2018 kommt er bei der Wahl zum Salzgitteraner des Jahres auf den zweiten Platz. Die Urkunde hängt über der Tür zu seinem Büro. Ihn freut das. Es zeigt ihm, dass sein Engagement geschätzt wird. Auch von unerwarteter Seite kommt Lob.
„Vor zwei Jahren habe ich mit einem Polizisten aus Salzgitter-Bad gesprochen. Der meinte dann, dass ich früher ein doppelköpfiger Pitbull war und heute ein Chihuahua bin.“ Er spricht im Namen seines Reviers Respekt an Gianluca aus. Calabrese ist sprichwörtlich ein bunter Hund in seiner Heimatstadt. Er liebt sie, sagt er. Am Hals trägt er ein Tattoo mit dem Schriftzug „Salzghetto“. „Das ist in einer Partynacht passiert, am nächsten Morgen hatte ich das Ding am Hals.“ Über die Jahre kommt Gianluca viel herum, arbeitet zwischenzeitlich sogar in der Küche eines Salzburger Luxushotels. Und doch verschlägt es ihn immer wieder in sein „Ghetto“.
Die Präventionsarbeit vom Verein SuPer geht aber mittlerweile über die Stadtgrenzen hinaus. Gianluca und der Verein halten Vorträge an immer mehr Schulen im Umkreis. Der Salzgitteraner findet das dringend nötig. Soziale Medien, Fernsehen und Rapmusik würden die Jugendlichen verrohen, Drogen und Gewalt würden glorifiziert und Gefängnis verharmlost. „Mediale Verblödung“ nennt er das. „Wenn du bei der Polizei bist, dann kommt nicht wie bei ‚CSI‘ der smarte Anwalt um die Ecke und nimmt dich mit. Du gehst nach Hause oder du gehst in U-Haft. Nichts dazwischen. Mein letztes Verhör ging über zwölf Stunden. Und das kapieren .
die nicht.“ Neben den Schulen plant der Verein jetzt aber eben auch bei denen anzusetzen, die diese Erfahrung bereits machen mussten. Häftlinge sollen auf ihre Zeit in der Freiheit vorbereitet und vor Rückfällen bewahrt werden.
Auch sonst feilt Gianluca bereits an der Zukunft. Für den Verein sollen neuere, größere Räumlichkeiten her. Die seit diesem Jahr monatlich stattfindenden kostenlosen Suppenausgaben in der Innenstadt sollen fortgesetzt werden. Und auch für sich selbst hat Gianluca klare Pläne. „Ich möchte mich im sozialen Bereich weiterbilden.“ Und auch einem Engagement in der Politik ist der Salzgitteraner nicht abgeneigt. Er plant, eine eigene Partei zu gründen und sich bei der nächsten Kommunalwahl im Jahr 2021 aufstellen zu lassen. Als Koch, so wie früher, will er nicht wieder arbeiten. Die Spu
ren des Alten tauchen aber auch heute noch dann und wann auf. Zurzeit steckt er noch in einem Privatinsolvenzverfahren, hofft, dass der Prozess bald abgeschlossen ist. Zu den Ursachen gefragt, reagiert er schmallippig.
Acht Jahre ist Gianluca Calabrese nun mittlerweile clean, nachweislich, so sagt er. Einmal, vor vier Jahren, wird ihm noch einmal Koks angeboten, als er noch in Therapie ist. „Entweder du bist ein Mann und hältst das durch oder du bist `ne Muschi und ziehst.“ Der Satz seines damaligen Gegenübers hängt Gianluca bis heute nach. Dieser Satz motiviert ihn, weiterzumachen. Von den Drogen hat er sich abgewendet. Abschließen kann oder will er mit seinem alten Ich aber nicht. Seine Geschichte soll Menschen ein Beispiel sein.