Wann dürfen Menschen sterben?

Unheilbar Kranke erleiden Tag für Tag Qualen – eine schwere Zerreißprobe für Betroffene und ihre Angehörigen. Befürworter der Sterbehilfe fordern seit Jahren mehr Freiheitsrechte für Patienten. Nun kommt ihnen Karlsruhe entgegen.

Viele unheilbar kranke Menschen und ihre Angehörigen haben am 26. Februar aufgeatmet. An dem Tag hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe den Sterbehilfe-Paragraph im Strafgesetzbuch für nichtig erklärt. Selbstbestimmtes Sterben ist in Deutschland nun nicht mehr verfassungswidrig. Für viele Betroffene ist die Aussicht auf ein selbstbestimmtes Sterben eine Erlösung, auch wenn die Schmerzmittel heutzutage so wirksam sind, dass Betroffene keine Schmerzen mehr erleiden müssen. Will ich so weiterleben? Was können Ärzte und Pflegepersonal überhaupt noch tun? Solche Fragen stellen sich unheilbar Kranke und ihre Familien.

Ein Fall aus der Palliativmedizin: Ein 65-jähriger Diplomchemiker litt an einem Mundbodenkarzinom. Das Schlucken war äußerst schmerzhaft für ihn. Atemnot und Übelkeit quälten ihn. Bei Dignitas in der Schweiz hatte der Mann bereits eine Suizidhilfe organisiert. Aus Liebe zu seiner Frau, die ihm das Reisen verbat, blieb er auf der Palliativstation. Den Ärzten gelang es, die Schmerzen, die Übelkeit und auch die Erstickungsnot des Mannes durch starke Schmerzmittel und andere Medikamente zu lindern. Der Geruch und die zunehmende Entstellung durch den Tumor im Halsbereich waren für ihn jedoch sehr entwürdigend. Mit einer Gasflasche im Nachtschränkchen wollte er sich friedvoll vergasen, wie es ein Palliativmediziner beschreibt. Die Gasflasche wurde dem Mann abgenommen und entsorgt, aus Sorge er könne sich und seine Familie damit töten. Einige Tage später fand man ihn tot in seinem Bett. Er ist eines natürlichen Todes gestorben. Sein Körper gab den Kampf auf. Ein Gedanke bleibt: Den Mann hat die Krankheit so sehr belastet, dass er bereit war, sich das Leben zu nehmen. Wann ist es dann noch gerechtfertigt sterben zu wollen?

Ein Fall aus der Neurologie: In Udine, einer Stadt in Italien, starb am 9. Februar 2009 die 28-jährige Italienerin Eluana Englaro, zwei Tage nachdem ihre künstliche Ernährung eingestellt wurde. Sie lag seit einem Autounfall 1992 im Wachkoma. Sie atmete und ihr Herz schlug aus eigener Kraft. Doch das Gehirn der 28-Jährigen war seitdem zerstört. Fast zehn Jahre hatte der Vater der jungen Frau darum gekämpft, seine Tochter sterben lassen zu dürfen. Das oberste italienische Berufsgericht hatte im November 2008 in letzter Instanz entschieden, dass die künstliche Ernährung eingestellt werden kann. Die Familie der jungen Frau durchlebte ein unbeschreibliches Leid. Sein eigenes Kind in einem solch hilflosen Zustand sehen zu müssen und nichts dagegen tun zu können, ist wohl das Schlimmste, was sich ein Elternteil nur vorstellen kann. Die Behandlung durch die Schmerztherapie reiche völlig aus, würden Gegner der Sterbehilfe hierbei anführen. Für die Gegner ist es unklar, warum die junge Frau sterben muss. Physische Schmerzen lassen sich durch Schmerzmittel behandeln, aber ein großer Faktor in solchen Situationen ist die Psyche eines Menschen und die der Angehörigen. Ist es ethisch nachvollziehbar, dass die Eltern einen Weg suchten, um die Situation, von der sie selbst am meisten betroffen sind, nicht mehr ertragen zu müssen? Über einen längeren Zeitraum hinweg durchgehen die Angehörigen, als auch die Betroffene selbst, einen schweren, sich immer wiederholenden Prozess von Hoffnung, Enttäuschung und Frustration. Man versucht stark zu bleiben und lernt damit umzugehen, aber irgendwann fehlt einem die Kraft.

Das Bundesverfassungsgericht hat das Verbot der Selbsttötung in Deutschland für verfassungswidrig und somit für nichtig erklärt. Das Gesetz umfasse dem Gericht nach zufolge das allgemeine Persönlichkeitsrecht in Verbindung mit der Menschenwürde. In Paragraf 217 des Strafgesetzbuches macht das Verbot es dem „Suizidwilligen faktisch unmöglich, die von ihnen gewählte, geschäftsmäßige angebotene Suizidhilfe in Anspruch zu nehmen“, so, „dass dem Einzelnen faktisch kein Raum zur Wahrnehmung seiner verfassungsrechtlich geschützten Freiheit verbleibt“, betont Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle. Auch geschäftsmäßige Hilfe soll dem Gericht zufolge künftig unter strengen Voraussetzungen möglich sein, die der Gesetzgeber festlegen kann.

 

Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zielt auf die Betonung der Autonomie des Menschen ab.

In seiner Urteilsbegründung sagte Ex-Gerichtspräsident Voßkuhle, der Gesetzgeber könne Suizidpräventionen betreiben und palliativmedizinische Angebote ausbauen. Seine Entscheidungen zur Selbsttötung könne der Einzelne ohne Dritte jedoch nicht umsetzen. Vor allem rechtlich müsse dies möglich sein. Es gebe dennoch keinen Anspruch auf Sterbehilfe, da das Urteil keinen Arzt verpflichtet, gegen seine Überzeugung Sterbehilfe zu leisten.

Es werden drei verschiedene Arten von Sterbehilfe unterschieden. Bei der aktiven Sterbehilfe führt eine andere Person den Tod des Patienten herbei. Indem eine Person dem Kranken beispielsweise eine Überdosis eines Schmerz- oder Narkosemittels verabreicht, greift diese in den Prozess aktiv ein. Obwohl dabei ausdrücklich nach dem Wunsch des Patienten gehandelt wird, spricht man von aktiver Sterbehilfe. Bei der indirekten Sterbehilfe geht es vor allem darum, dass die Schmerzen des Patienten gelindert werden. Der Arzt geht dabei das Risiko ein, dass der Patient möglicherweise schneller stirbt, weil er dem Patienten starke Schmerzmittel in hoher Dosis verabreicht. Man spricht von Beihilfe zum Suizid, wenn Ärzte oder andere Personen einem Patienten ermöglichen, sich durch von ihnen verschriebene oder zur Verfügung gestellte Maßnahmen selbst zu töten. Bei der passiven Sterbehilfe wird darauf verzichtet, das Leben eines Patienten künstlich zu verlängern. Es werden demnach zum Beispiel eine Beatmung, Bluttransfusion oder eine künstliche Ernährung nicht verabreicht. Alle Varianten, mit unterschiedlicher Einflussnahme auf den Tod der erkrankten beziehungsweise sterbewilligen Person, sind in Deutschland nun erlaubt. Wie sieht es in anderen Ländern aus?

Sowohl Befürworter als auch Gegner der Sterbehilfe beharren auf ihren Argumenten. Es sei nicht rechtens, über Leben und Tod zu entscheiden, führen die Gegner der Sterbehilfe an. Der hippokratische Eid der Ärzte verbiete es ihnen, Sterbehilfe zu leisten. Die Schmerztherapie sei mittlerweile sehr wirkungsvoll, sodass der oder die PatientIn bis zum natürlichen Lebensende nicht leiden müsse. Das wird als ein Argument gegen Sterbehilfe immer wieder genannt. Die Befürworter hingegen sind der Meinung, dass jeder Mensch das Recht haben sollte, über seinen eigenen Todeszeitpunkt und die Todesart selbst zu entscheiden. Eine klare rechtliche Regelung, die die Sterbehilfe erlaubt und somit eine verlässliche Grundlage für die Mediziner bildet, würde demzufolge der Allgemeinheit helfen. Die Mediziner können somit die entsprechenden Medikamente straffrei verschreiben. Damit würde das Leiden durch unheilbare Krankheiten oder von unheilbar kranken Menschen verkürzt werden, so das Argument der Befürworter.

Das selbstbestimmte Sterben bietet dem Menschen die Möglichkeit, über sich selbst bestimmen zu können. Das ist wichtig. Welche Qual will man erleiden, welche nicht und wie lange möchte man das Leid ertragen? Wie können andere für einen selbst entscheiden, die das Leid nicht durchleben müssen? Den Angehörigen eines Betroffenen wird seelischer Schmerz erspart. Der betroffenen Person wird eine Erlösung geboten, die weder durch Schmerzmittel, noch psychiatrische Hilfe erreicht werden kann.

Sterbehilfe in anderen Ländern

Niederlande: Sämtliche Arten der Sterbehilfe sind straffrei. Der Arzt muss bestimmte Vorgaben erfüllen. Er muss zu dem Entschluss kommen, dass der Patient aus eigenem Antrieb und nach reiflicher Überlegung sterben möchte. Ein Arzt muss definitiv feststellen, dass der Sterbewillige keine Aussicht auf Besserung seines Zustandes hat und dass dieser das Leid kaum noch erträgt. Ein zweiter Arzt muss hierbei zustimmen.

Schweiz:Aktive Sterbehilfe ist strafbar. Die indirekte und die passive Sterbehilfe sowie der assistierte Suizid sind hingegen erlaubt.

Österreich: Passive und indirekte Sterbehilfe sind erlaubt, sofern sie den Wunsch des Sterbenden widerspiegeln. Es können in Österreich Patientenverfügungen verfasst werden, deren Erklärungen bindend sind. Die aktive Sterbehilfe ist strafbar. Die Beihilfe zum Suizid ist ausdrücklich verboten und wird wie eine aktive Sterbehilfe bestraft.

USA: Aktive Sterbehilfe ist in keinem Staat der USA erlaubt, nur wenige Staaten tolerieren die Beihilfe zum Suizid.

Total
0
Shares
Ähnliche Beiträge
Mehr lesen

Der Harz – Hotspot für Adrenalinjunkies

Wie viel Nervenkitzel bietet der Harz? Die zwei Studierenden Felix und Paula testen für Campus38 einige der spektakulärsten Stationen im Nationalpark und jagen ihren Puls an Gigaswing, Megazipline und im Hochseilpark so richtig in die Höhe.
VON Elena Blume
Mehr lesen

Die Pille und ihre Nebenwirkungen

Kopfschmerzen, Übelkeit, depressive Verstimmungen – das sind nur wenige der zahlreichen Nebenwirkungen, die die Pille verursachen kann. Seit den letzten Jahren gibt es immer mehr Kontroverse um das Verhütungsmittel, viele Frauen sehen mögliche Risiken und verzichten darauf.
VON Lara Kurrle
Mehr lesen

Vom Gamer zum CEO

Die ehemalige Tapetenfabrik in Osnabrück wurde 2018 zu einer der wichtigsten Anlaufstellen für den deutschen und internationalen E-Sport umgebaut. Wie die Idee dazu kam und welche Entwicklungen der Geschäftsführer Marvin Roman dafür machen musste, erklärt er im Interview.
VON Clemens Brinker
Mehr lesen

(Gute) Alternativen zu herkömmlichen Prüfungen – Was denken Dozierende und Studierende über Open Book, mündliche Prüfungen und Co.?

Durch die Corona-Pandemie konnten viele Studierenden seit dem Sommersemester keine normalen Klausuren an der Hochschule schreiben. Von Open-Book bis Essay, einiges wurde auf den Kopf gestellt. Wo neue Prüfungsformen entstehen, entstehen neue Probleme, aber auch Chancen. Doch wie finden Studierende und Dozierende diese Veränderungen und könnten sie für die Zukunft übernommen werden?
VON Alina Breust