Das Spektakel beginnt – 0:30 Uhr und die Löwen schleichen durch die Manege. Dann ein lautes Brüllen, ihre Köpfe schnellen nach oben. Auf einem Podest genau in der Mitte des großen Zirkuszelts steht ihr Dompteur. In rotem Frack, mit Zylinder hebt er langsam die Hände, die Meute folgt seinen Kommandos, abgerichtet, scheinbar willenlos. Sie bewegen sich wie zu einer Choreografie, immer dem Takt und seinen Anweisungen folgend. Über dem Direktor fliegen Seilakrobaten durch die Luft, zeigen ihre Salti und Pirouetten. Zwischen den Löwen, mitten in der Manege, werfen Jongleure Flaschen in den Himmel – immer in der Angst, die Löwen könnten ihrem Instinkt folgen.
Wenn Tanja am frühen Abend im Zirkuszelt direkt hinter dem Deich die Augen schließt und tief einatmet, spürt sie diese Magie immer noch, riecht fast den typischen Sägespänenduft. Zwar treten hier schon seit Jahrzehnten keine Raubtiere und Gaukler mehr auf, das Kribbeln und der Ruf nach Abenteuer sind aber geblieben. Heute, am Eröffnungsabend des 34. Musikzirkus werden bis zu 3.000 Partylöwen in der Manege stehen. Abgerichtet auf die Beats des DJs, der immer noch auf einem Podest in der Mitte der Manege steht wie einst die Löwenbändiger. Statt gestaunt wird getanzt, anstelle der Zuckerwatte gibt es Drinks. Und ein bisschen Zirkusduft liegt immer noch in der Luft.
Augen auf, keine Zeit zu träumen. Tanjas Schicht beginnt. Wenn sie um 21:30 Uhr im Zelt ankommt, hat sie etwa 30 Minuten, bis es Manege frei heißt. Viel zu tun, wenig Zeit. Sie hat blondes, langes Haar und Sommersprossen, die in solch langen Nächten unter ausfälligem Make-up verschwinden. Tanja ist Ende 20 und arbeitet neben dem Studium hier und auch früher schon während der Schulzeit. Noch trägt sie über ihrem T-Shirt einen dicken Pullover, für den es spätestens mit den ersten Gästen zu warm wird.
Ihre „kleine Bühne“, wie sie den Tresen verschmitzt nennt, muss bereit sein. Für alles, was in den nächsten acht Stunden passieren könnte. „Erst mal will ich auf alles vorbereitet sein, also auf ´ne volle Bude. Wenn’s dann weniger wird, als erwartet, kann man immer noch zurückrudern, andersrum wird’s schwierig.“ Konzentriert zapft sie das erste Probebier an. Nach vier Jahren „Musikzirkus“ weiß sie, wie wichtig gute Vorbereitung ist. Tanja ist für einen der sieben Tresen verantwortlich, die die Partygäste an diesem Abend mit ausreichend Getränken versorgen sollen. Kistenweise Cola steht schon bereit. Der Alkohol ist unter einem Tisch verstaut, gut versteckt vor durstigen Gästen. Tanja zaubert mit routinierten Griffen von jeder Sorte eine Flasche auf den Tisch, schraubt die Deckel ab und pfriemelt kleine Ausgießer auf die Flaschenhälse. Sie stellt die Flaschen klirrend zusammen, vom Orangensaft kleckert beim Öffnen etwas daneben. Die Oberfläche ihres Tresens beginnt schon jetzt etwas zu kleben, wenn man mit dem Finger darüberfährt. Die Musik setzt ein, Tanja verschanzt sich hinter dem Tresen. Ihr Schutz vor den Raubtieren, also etlichen Feiernden. Richtige Unfälle gab es im Musikzirkus (MuZi) bisher nicht. Hier macht sich vor allem die Größe der Location bezahlt: ganze 16 Meter hoch und ein Durchmesser von 40 Metern. Da verläuft sich der Stress, oder die Streithähne sehen sich im Rundlauf um die Manege nie wieder.
An diesem Freitag sind fast 2.000 von ihnen hier. Angereist mit Bussen, die stündlich vom nächstgelegenen Bahnhof fahren oder von Muttitaxis abgeliefert. So nennt Tanja es fast liebevoll, wenn aus einer Opel-Familienkutsche wieder vier Teenager aussteigen. Sie versichern, dass sie pünktlich um zwei Uhr wieder draußen stehen. Alle viel zu betrunken und viel zu jung, um den Abend legal in einem Club verbringen zu dürfen.
Jung sind sie zwar, aber bis null Uhr dürfen auch die unter 18-Jährigen ganz offiziell im riesigen Zelt von der MuZi-Magie mitreißen lassen. An der Kasse kann man sie sofort von den volljährigen Partygängern unterscheiden. Wie Pernod von Jägermeister, der ein kleines bisschen langsamer aus den Flaschen läuft und einen müh heller ist. Vor allem daran, dass sie die Allerersten sind, die den hellen Scheinwerfern am dunklen Himmel gefolgt sind. Über Feldwege, um enge Kurven, immer dicht am Graben entlang bis in den Christianskoog. Ihren Eintrittschip bekommen die Kiddies am Eingang aber trotzdem. So nennt Hartmut Böhe die jüngsten Besucher seines Musikzirkus.
Immer über den 1. Mai, für eine Zeitspanne von vier Wochen, zieht er das Zelt in die Luft. Zehn Männer hauen riesige Anker in den matschigen Boden und spannen die Plane mit reiner Muskelkraft. Bis die gelbblauen Wände stehen, so fest, dass nicht mal der raue Nordseewind sie stürzen kann. Nacheinander rollen Lkws hinter dem Deich entlang, beladen mit Boden- platten, Bühnenteilen und Garderobenständern. Und natürlich literweise Spirituosen und nicht alkoholischen Getränken. Auch nach so vielen Jahren ist die Zeit, die dann anfängt, besonders aufregend für den Zirkuschef.
An vier Wochenenden, in diesem Jahr vom 26. April bis 18. Mai, lädt der MuZi zu sechs Partys. Das Programm ist gemischt, es soll für jeden etwas dabei sein. Von Mallorcamusik über elektronische Klänge – das funktioniert schon seit 1985. Selbstverständlich ist das nicht. Das Partyleben, gerade auf dem Land, werde von Jahr zu Jahr schwieriger. Löhne werden höher, Einkaufspreise der Getränke happiger. „Und dann sind die jungen Leute immer weniger bereit zu zahlen. Entweder betrinken sie sich zu Hause so, dass sie bei uns nur noch mit dem Gesicht auf dem Tresen hängen, oder sie gehen gar nicht mehr los. Das war vor 30 Jahren noch anders, da wurde noch richtig gefeiert. Da schreit einer `eisgekühlter Bommerlunder‘ und 3.000 machen mit.“
Damals übernahm Böhe von seinem Vater eine verschuldete Gastwirtschaft. Als Student, der mit Windsurfen Geld verdient hatte, setzte er dann alles auf eine Karte und rettete das Familienunternehmen mit Partys, Caterings und Großveranstal-tungen. „Zu der Zeit hab‘ ich wirklich alles mitgenommen. Gearbeitet wie ein Bekloppter und 50 Stunden nicht geschlafen, wenn wir Veranstaltungen hatten. Nur zu einem Rolling Stones-Konzert in den 80ern habe ich mal nein gesagt. Heute beiße ich mir dafür in den Arsch.“ Das war der Ausschlag für alle kommenden Veranstaltungen: In den 80ern gab es, vor allem auf dem Land, kaum Möglichkeiten für junge Leute weg zu gehen. Der Zirkuszauber faszinierte ihn immer, den wollte er nutzen. Böhe lieh sich ein Zelt in Hannover, das kurzfristig nicht geliefert werden konnte. Karten waren schon verkauft, alles war geplant. Also kaufte er kurzer Hand ein eigenes Chapiteau, um die Veranstaltung zu retten. Seitdem steht das Zweitzelt von Zirkuskrone in Schleswig-Holstein.
Zu seinen besten Zeiten war der MuZi mit bis zu 3.500 Besuchern pro Abend so voll, dass kein Zirkuspony mehr hineingepasst hätte. In Nächten, in denen Social-Media-Star Jan Leyk, Mallorcasternchen Jürgen Drews oder Hape Kerkeling auftraten, war ab drei Uhr morgens der Alkohol aufgekauft und kein Durchkommen für Nachschub möglich. „Wir hatten eigentlich alles, was Rang und Namen hat.“ Dass es am morgigen Samstag, wenn Jan Leyk seinen nächsten Auftritt haben wird, anders sein soll, weiß Hartmut Böhe heute noch nicht. Noch sitzt er in einem der Bauwagen, der als Kasse vor dem Zelteingang steht. Er verteilt zu jedem Chip eine Tüte Gummibärchen – das ist Tradition, schon seit 34 Jahren. Um ein wenig den bunten Zirkusflairs zu erhalten. Das nämlich brachte ihn damals erst auf den „Musikzirkus“. Weg von Flatrate-Saufen und Ein-Euro-Partys, auch wenn das einen Teil der Gäste kostete. „Eine Amplitude, also Schwankungen auf und ab, hast du immer. Aber am Ende muss was überbleiben, sonst würden wir das nicht machen. Auch wenn eine riesige Portion Nostalgie dranhängt. Und ich hab‘ meine ganze Familie infiziert.“ Der Clubbesitzer hilft nur in den Stoßzeiten noch aus, dann verschwindet er wieder in den Backstagebereich. Von hier läuft die gesamte Koordination und taschenweise Scheine aus den Tresen werden durch die Zählmaschine gejagt. Und eine Menge Scheine braucht es für das Riesenprojekt. Schließlich wird eine komplette Infrastruktur für die Location aufgebaut: Stromaggregate, Parkplätze, Kühlwagen. Dazu DLRG, Securities, Einweiser, Garderoben- und Barpersonal.
Zwischendurch steht Hartmut Böhe am Eingang seines Zirkus, fast so wie es wohl vor Jahren der Direktor gemacht hätte. Ruhig, fast nachdenklich und eigentlich immer mit Handy am Ohr. Manchmal funkt er seine Hochseilakrobaten – in diesem Fall Techniker Philipp – an, wenn es irgendwo hakt. Er findet immer etwas zu delegieren. Oder er will die aktuellen Zahlen durchgegeben haben. Im Blick hat er alles, auch, wenn’s schiefläuft. So, wie bei Barkeeperin Tanja heute Abend: Das Bier will immer noch nicht. Dann steht der Chef selber noch hinter dem Tresen, dreht an kleinen Rädchen und tastet am tropfkalten Zapfhahn. Fluchend zieht und klopft er, bis das Elixir der Feierwütigen wieder läuft – sonst bleiben die Löwen an diesem Abend hungrig „Getränke sind das, was den Kohl fett macht, der Eintritt deckt nicht mal die Fixkosten.“
Am anderen Ende des Zelts befindet sich das Reich von Hanni. Wer durch den kleinen Seitenausgang tritt, sich an der engen Stelle, an der Menschen rein und raus wollen vorbeischiebt und die vor Schweiß nasse Zeltplane zur Seite rückt, steht vor vier Klowagen mit jeweils sechs Toiletten – drei für Männer, drei für Frauen. Unter freiem Himmel versammeln sich hier alle, die sich in der Manege verloren haben, Beziehungskrisen bewältigen, eine Zigarette rauchen oder nur das stille Örtchen besuchen wollen. Still vielleicht auch, weil außerhalb des Zelts die Musik nicht mehr dröhnt, bis die Ohren klingeln.
Auch so manche Prügelei hat Hanni schon mitbekommen, meistens zu später Stunde und immer dann, wenn das Wetter am schlechtesten war, daran erinnert sie sich kopfschüttelnd. „Erlebt hab ́ ich schon fast alles. Von abgetrennten Au- genbrauen, zerrissenen Kleidern oder ganzen Haarbüscheln, die dann im Waschbecken landen. Und die Mädchen meistens schlimmer, als die Jungs, da wird’s echt brutal.“ In eine dicke Jacke eingehüllt und mit rotem Schal, der bis unters Kinn gezogen ist, steht sie im größten der vier Wagen. Ihre Schultern vor Kälte bis zu den Ohren gezogen und die Hände immer in den Taschen. Die 48-Jährige hat kurze blonde Haare und ihr Gesicht ist von tiefen Falten gezeichnet. Vielleicht von zu vielen Nächten, die sie durchgearbeitet hat. Neben ihr ein Walkie-Talkie und ein weißer Teller mit Kleingeld. Außer ein paar Münzen ist noch nichts drauf. Das komme erst zu späterer Stunde, wenn die Köpfe nicht mehr klar und Geld nicht mehr so wichtig sei. Am interessantesten fände Hanni es, alle zu beobachten. Wenn ihre Gäste meist nur im T-Shirt durchgeschwitzt aus dem Zelt kommen, in dem bis zu 30 Grad herrschen und Schweiß von der Decke tropft. Dann werden auch die lallenden Diskussionen hitziger und die Gäste zu Zirkusclowns.
Für viele ist es spätestens dann Zeit nach Hause zu gehen. Wenn das große Deckenlicht die Tanzfläche beleuchtet. Die, die bis zum Ende durchgehalten haben, liegen sich in den Armen und grölen Robbie Williams Angels als letzten Song. Auch für Tanja und Hanni heißt das Feierabend. Beide schnappen sich am MuZi-eigenen Imbiss noch eine Currywurst. Das muss am Wochenende oft als Frühstück herhalten, erklärt Tanja mit vollem Mund und noch etwas Ketchup in den Mundwinkeln. Einen heißen Kaffee dazu, das reicht, um genug Energie für die Heimfahrt zu tanken. Die Füße kreisen, die Beine strecken. Hanni lässt sich ächzend auf den Beifahrersitz fallen. „Ich steck die Nächte nicht mehr so weg wie früher.“ Langsam, über kleine Feldwege, durch Pfützen und tiefe Schlaglöcher fährt das Auto um 6:30 Uhr mit dem Sonnenaufgang Richtung Bett. Gleichzeitig gehen im Rückspiegel die Himmelsstrahler aus. Morgen geht das Spektakel von vorne los.