“Was ich erleben musste, wünsche ich keinem”

Anas ist mit seinem Bruder aus Damaskus geflohen und hat es geschafft, sich in Deutschland eine Existenz aufzubauen: eigene Wohnung und Ausbildung. Mit Campus38 hat Anas über seine Flucht gesprochen.

„Man geht normal zur Arbeit und dann trifft die Bombe, einfach so.“ Anas tiefbraune Augen sind glasig und trüb. Der grade noch so fröhliche Syrer wird auf einmal ganz ernst. Seine Schultern versteifen sich, seine Haltung wird gebückt. Sein täglicher Weg zur Universität in Damaskus dauerte, wie er berichtet, fast zwei Stunden, da so viele Militärsperren passiert werden mussten. Immer mit der Angst, es könne etwas passieren: Bomben oder militärische Übergriffe.

Anfang 2015 fängt Anas Mutter an, eine Flucht für ihre beiden Söhne zu planen. Anas selbst ist anfangs dagegen. Er hat Angst, alles zurückzulassen, vor allem seine Mutter und seine kleine Schwester, denn für eine Flucht für vier Personen reicht ihr Geld nicht aus. Im September 2015 hält der Syrer den Druck und die ständige Angst vor dem Assad-Militär nicht mehr aus. Der damals 20-Jährige flieht zusammen mit seinem 15-jährigen Bruder aus Damaskus. „Mein Bruder war sehr klein und hatte viel Angst“, betont Anas immer wieder.

Eine totale Ungewissheit, die uns Angst machte“

Für eine Ausreise aus Damaskus brauchen die Brüder Reisepässe. Einfach beantragen kann Anas diese allerdings nicht, er hätte dabei vom Militär einberufen werden können. So muss ein Beamter geschmiert und die Pässe illegal besorgt werden. Mit diesen Pässen fliegen Anas und sein Bruder dann in die Türkei. Weiter geht es mit einem Schlauchboot nach Griechenland. Anas schildert, wie er dem Bootsführer helfen muss, den Weg durch die dunkle Nacht zu finden. Hohe, unberechenbare Wellen seien immer wieder gegen das völlig überfüllte Gummiboot geprallt, das deswegen bedrohlich schwankt: „Alle haben geschrien, alle hatten Angst. Ich habe, zusammen mit einem anderen Mann, versucht die Menschen zu beruhigen.“ Fast fällt Anas dabei selbst aus dem Boot. Allein, dass sein Bruder im Boot auf seinen Füßen sitzt, rettet ihm das Leben. Die Überfahrt dauert insgesamt vier Stunden. Nach aktuellen Schätzungen des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) sind seit 2015 circa 11.000 Flüchtlinge, bei dem Versuch das Mittelmeer per Boot zu überqueren, gestorben.

Der junge Syrer erzählt, dass sie in Griechenland angekommen völlig durchnässt am Strand schlafen mussten. Ohne Decke, ohne etwas zu essen. „Ich hatte mehr Angst um meinen Bruder, als um mich selbst.“ Über die sogenannte Balkanroute gelangen die Brüder nach Deutschland: Griechenland , Mazedonien, Serbien, Kroatien, Slowenien und Österreich bis nach Passau. In Passau wurden sie dann einer Notunterkunft zugewiesen: der Notunterkunft in Delligsen in Südostniedersachsen. „Ohne zu wissen, wo wir hingebracht werden, wurden wir in einen Bus gesteckt“, erzählt Anas. „Eine totale Ungewissheit, die uns Angst machte.“ Etwa 5.300 Kilometer legten die beiden zurück und mussten 5.000 US-Dollar, das gesamte Ersparte der Familie, dafür bezahlen.

Pippi Langstrumpf und Twilight als Deutschlektüre

In Deutschland bringt sich Anas selbst deutsch bei. „Wer in Deutschland etwas erreichen will, muss deutsch sprechen“, begründet er seinen Antrieb. Zum Lernen benutzt er vor allem Bücher wie „Deutsch als Fremdsprache“, las aber auch „Bis(s) zum Morgenrot“ oder „Pippi Langstrumpf“. Bei Deutschkursen, an denen er teilnimmt, übersetzt er für andere Geflüchtete. Im Gespräch fehlen dem Syrer immer wieder einzelne Worte. Er versucht, seine Emotionen und seine Situation perfekt zu beschreiben: fehlende Worte ärgern ihn, ähnliche Worte kommen für ihn nicht infrage.

„Anas, ist ein zielstrebiger Mensch, der von Anfang an wusste, was er wollte. Er hat so schnell Deutsch gelernt wie kein anderer“, sagt Ruth, eine Wegbegleiterin Anas, die sich ehrenamtlich für Geflüchtete einsetzt und ihnen hilft. Afif, ein Übersetzter des Landkreises Holzminden, beschreibt Anas als guten Kumpel, der hilfsbereit sei und offen für alle Möglichkeiten, die sich ihm bieten.

Inzwischen lebt Anas mit seinem Bruder in Göttingen in einer kleinen Wohnung. Er hat ein Jahr subsidiären Schutz in Deutschland. Das bedeutet, dass er zwar in Deutschland bleiben, aber seine Mutter und Schwester nicht nachholen darf. Außerdem macht der Syrer eine Ausbildung an der Universität Göttingen zum medizinischen Laboranten. Schon in Damaskus hatte Anas eine Ausbildung zum Laboranten abgeschlossen, allerdings konnte er hier in Deutschland die notwendigen Nachweise zur Anerkennung der Ausbildung nicht erbringen. „Ich bin froh, in Deutschland leben zu dürfen. Das, was ich erleben musste, wünsche ich niemandem und hoffe darum, dass auf der ganzen Welt Frieden einkehrt und niemand mehr aus seiner Heimat flüchten muss, so wie mein kleiner Bruder und ich es mussten.“

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