Wehrpflicht statt Freiwilligkeit?

Die Situation in der Ukraine wirft mehr denn je Fragen über die Zukunft der deutschen Bundeswehr auf. Obwohl sich die regierenden Parteien eigentlich dagegen aussprechen, wird auch die Wiedereinführung der 2011 ausgesetzten Wehrpflicht diskutiert.

Dass der Krieg in der Ukraine an ganz Europa nicht spurlos vorbei geht, ist unverkennbar. Die Preise steigen, es gibt Friedensdemonstrationen, Kleidersammelaktionen für Geflüchtete und das Sicherheitsgefühl einer Generation, die bisher nur Frieden erlebt hat, verändert sich nachhaltig. In Deutschland nimmt zusätzlich eine immer wieder angeschnittene Debatte neuen Fahrtwind auf: Die Frage nach dem Zustand der Bundeswehr. Politiker der verschiedensten Parteien sind sich einig darin, dass hier etwas getan werden muss. Die Wehrfähigkeit soll nachhaltig gesteigert werden. Die genaue Umsetzung spaltet dabei allerdings die Meinungen der Parteien und der ganzen Bevölkerung. Dass auch die altbekannte Debatte um die Wiedereinführung der Wehrpflicht Einzug in die Diskussionen findet, sollte dabei wohl niemanden überraschen. Immerhin bietet diese Option die Möglichkeit, die Menge an dringend benötigten Soldaten schnell und langfristig aufzustocken. Wie sich ein vor über zehn Jahren abgeschafftes Modell ohne weiteres in die heutige Gesellschaft übertragen lassen soll, bleibt allerdings ungeklärt. Die regierenden Parteien SPD, FDP und Grüne sprechen sich bisher jedenfalls einheitlich gegen einen solchen Schritt aus. Stattdessen soll die Bundeswehr durch finanzielle Unterstützung gestärkt werden. Klar für eine Wiedereinführung plädiert auf politischer Seite bisher nur die AfD.

Die Wehrpflicht in Deutschland

Bis zum Juni 2011 wurden in Deutschland alle Männer ab 18 Jahren auf Basis des Artikel 12a des Grundgesetzes zum Wehrdienst verpflichtet.
Manuel Felten aus Salzgitter wurde 1992 eingezogen. Wie damals üblich erhielt er etwa ein Jahr vor seinem 18. Geburtstag einen Musterbescheid. Die Musterung erfolgte dann beim hiesigen Kreiswehreinsatzamt in Goslar und bestand aus einem theoretischen Test und einer medizinischen Untersuchung. Nach seinem Schulabschluss wurde er dann für zwölf Monate einberufen. „Ich habe im Mai mein Abitur gemacht und am 01.07. ging es dann direkt los.“, erinnert er sich. In den ersten drei Monaten erhielten alle Wehrpflichtigen eine Grundausbildung. Danach schlossen sich drei weitere Monate der Spezialausbildung im jeweiligen Einsatzbereich an. „Ich war damals in Braunschweig bei den Panzeraufklärern“, erklärt Manuel. Die letzten sechs Monate bestanden dann aus verschiedenen Übungen. Er selbst hatte mit dem Wehrdienst keine Probleme: „Es war eigentlich ganz interessant nach dem Abitur mal ein Jahr was ganz anderes zu machen“. Allerdings habe es in seinem Freundes- und Bekanntenkreis einige gegeben, die den Wehrdienst verweigerten. Die Möglichkeit zur Verweigerung wurde im zweiten Absatz des Artikels 12a GG geregelt und beinhaltete die Leistung eines Ersatzdienstes im zivilen Bereich. Wer keinen Wehrdienst leisten wollte, aber nicht darauf hoffen konnte ausgemustert zu werden, konnte einen Antrag aus Gewissensgründen stellen und wurde stattdessen ein Jahr lang in zivilen Einrichtungen wie Altersheimen eingesetzt.
Die Aussetzung der Wehrpflicht wurde in §2 des Wehrpflichtgesetzes geregelt. Nach diesem existiert Artikel 12a GG zwar weiterhin, findet aber keine Anwendung mehr, solange kein Spannungs- oder Verteidigungsfall besteht. Parallel wurde ein System des freiwilligen Wehrdienstes entwickelt. Dieses schloss – anders als zuvor – Frauen mit ein. Trotz dieser Entwicklungen hat das Thema in Deutschland nicht an Beliebtheit verloren. Immer wieder wird es von einzelnen Politikern eingeworfen – zuletzt 2018 durch die damalige Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer. Bisher wurden diese Vorstöße parteiübergreifend aber vor allem kritisiert und nicht weiterverfolgt.  Da die Wehrpflicht aber theoretisch weiterhin existiert, wäre es für den Gesetzgeber keine große Herausforderung, die Aussetzung zu beenden. Gerade vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine und der dadurch angespannten Lage zwischen Russland und Europa, könnte die Regierung eine Wiedereinführung durchaus rechtfertigen.

Die Suche nach Experten

Auch wenn die Debatte in ihrem Kern keine neue ist, nimmt sie vor dem Hintergrund des Krieges in Europa neue Ausmaße an. Die Wehrfähigkeit der deutschen Bundeswehr soll möglichst schnell und nachhaltig gesteigert werden, die Ukraine zeigt uns wie ein Staat, in dem eine Wehrpflicht besteht, sich selbst verteidigt. Dass die Diskussionen in diese Richtung verlockend sind, ist kein Wunder. Trotzdem vertreten die regierenden Parteien weiterhin eine entschieden ablehnende Haltung gegenüber einer Wiedereinführung. Die Gründe gehen dabei weit über das im Grundgesetz festgehaltene Wehrpflichtverbot für Frauen hinaus.
So sieht FDP-Politiker Max Weitemeier heute keine Rechtfertigung mehr für den Freiheitseingriff, den eine solche Dienstpflicht darstellen würde. Als Begründung führt er die zunehmende Cyberkriegsführung und die heutzutage oft hochkomplizierten Waffensysteme an. „Was die Bundeswehr braucht, sind gut ausgebildete Experten, die mit der modernen Technik umgehen können.“, betont er. Eine Wehrpflicht mache es aufgrund der kurzen Ausbildungs- und Dienstzeit unmöglich, das dringend gebrauchte, hochqualifizierte Personal auszubilden. Stattdessen müsse die Bundeswehr modernisiert und so zu einem attraktiveren Arbeitgeber werden. Darüber hinaus verweist er auf die hohen Kosten, die mit der Wiedereinführung einher gehen würden. Dem schließt sich auch Nico Söhnel, Mitglied der Grünen in Wolfenbüttel, an. „Das sind extreme Ausgaben, die der Bundeswehr auf lange Sicht ernsthaft schaden können.“, erklärt er. Sowohl FDP als auch Grüne machten sich bereits 2011 für die Aussetzung der Wehrpflicht stark. Auch unter Einbezug des Ukraine-Krieges halten die Parteien an ihrer ablehnenden Haltung fest. Max Weitemeier und Nico Söhnel nehmen war, dass in den letzten Monaten auf politischer Ebene mehr über das Thema gesprochen wird. Dennoch kommt es nach ihrer Wahrnehmung zu keinen wirklichen Meinungsverschiebungen. Nach Max Weitemeier bürgen die erneuten Diskussionen um eine Wiedereinführung der Wehrpflicht die Gefahr, eigentlich wichtigere Themen zu verdrängen:
„Es betrifft irgendwo jeden und deswegen ist es so ein unglaublich gutes Thema, wenn man von einer Debatte ablenken möchte.“ Seiner Meinung nach sollte der Fokus vielmehr auf der Modernisierung der Bundeswehr liegen, um die Wehrhaftigkeit nachhaltig steigern zu können. „Das ist die Debatte, die wir jetzt führen müssen.“, verdeutlicht er. Er geht außerdem auf den in Deutschland herrschenden Fachkräftemangel ein. Viele Unternehmen, so sagt er, seien momentan auf junge, engagierte Leute angewiesen. Da könne die Bundeswehr nicht einfach den Großteil für sich beanspruchen.

Das soziale Pflichtjahr

Als Alternative zu der Wehrpflicht, wie es sie früher gegeben hat, besteht die Idee eines sogenannten „sozialen Pflichtjahres“. Bereits 2011 galt sie als potenzieller Gegenvorschlag zur später entschiedenen Aussetzung. Dabei handelt es sich um ein verpflichtendes Jahr für alle jungen Erwachsenen, nicht mehr ausschließlich Männer. Ob sie dieses Jahr im Wehr- oder Zivildienst verbringen wollen, wäre ihnen selbst überlassen. Der Zivildienst ist in diesem Modell demnach keine Alternativlösung für Verweigerer, sondern steht gleichberechtigt neben dem Wehrdienst. Die Idee eines solchen Jahres hat nicht nur das Potenzial die Bundeswehr zu stärken, sondern auch den von Max Weitemeier beschriebenen Fachkräftemangel, vor allem in Pflegeberufen, aufzufangen Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat sich diesem Vorschlag gegenüber positiv geäußert. Er sieht in einer sozialen Pflichtzeit für Männer und Frauen die Chance den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken. Die Mehrheit der politischen Stimmen, darunter auch Familienministerin Paus, zeigen sich allerdings weiterhin skeptisch. Das dürfte zum einen daran liegen, dass die Einführung eines solchen Pflichtjahres ebenfalls mit hohen Kosten einher gehen würde. Der dringende Bedarf der Bundeswehr nach Experten, nicht nach vorrübergehenden Kräften, wird durch dieses Modell ebenfalls nicht gelöst. Auch wenn diese Argumente alle schlüssig und einleuchtend ist, darf ein anderer Punkt nicht vergessen werden: Was wollen die Betroffenen?

Wer darf hier entscheiden?

Eine Umfrage, die im März dieses Jahres in Deutschland durchgeführt wurde zeigt, dass mehr als die Hälfte der Befragten die Einführung eines sozialen Pflichtjahres für junge Erwachsene befürworten. Sieht man sich die Ergebnisse derselben Umfrage aber nach Altersgruppen sortiert an, zeichnet das ein ganz anderes Bild.
Danach bewerteten 82 Prozent der Befragten, die 65 und älter waren ein solches Jahr als positiv. Unter den 18-29-Jährigen sind es nur 44 Prozent. Klar dagegen sind mit 41 Prozent fast genauso viele. Die meisten Befürworter einer erneuten Dienstpflicht für junge Menschen sind in dieser Umfrage also Menschen, die im Falle einer Umsetzung selbst nicht betroffen wären.
Fakt ist: Niemandem, der nach der Schule freiwilligen Wehr- oder Zivildienst leisten möchte, wird es verboten. Aber ist es zu rechtfertigen den anderen, in dieser Umfrage fast gleichgroßen Teil dazu zu zwingen? Nico Söhnel beantwortet diese Frage mit einem klaren Nein. Er verweist darauf, dass junge Menschen schon durch die Klimakrise und die schwindenden Renten mehrere Steine in den Weg gelegt bekommen. Insbesondere geht er dabei auch auf die Corona-Pandemie ein: „Das ist ein riesiger Teil, der dieser ganzen Generation an Leben geraubt wurde.“ Mit einer Dienstpflicht, egal in welcher Form, jetzt noch ein weiteres Jahr dieses Lebens zu verplanen hält er für falsch. Auch Max Weitemeier positioniert sich klar gegen eine solche „Verstaatlichung von Lebensjahren“. Nach ihm vertritt die FDP die klare Ansicht, dass es nicht in den Aufgabenbereich des Staates fällt, jungen Menschen vorzuschreiben was sie zu tun haben. Dass es in Deutschland, auch vor dem Hintergrund des Ukraine Krieges, erneut zu einer Dienstpflicht kommen wird, hält er jedoch in Anbetracht aller Gegenargumente für unwahrscheinlich: „Ich glaube im Ergebnis wird man immer dazu kommen, dass es 2011 die richtige Entscheidung war die Wehrpflicht abzuschaffen.“

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