Langsam bahnen sich die Jugendlichen ihren Weg durch die Wolfsburger Straßen. Die Polizei fährt mit Blaulicht voraus. Es ist kalt, aber die Stimmung ist aufgeheizt. Aus den Lautsprecherboxen tönt das Lied Ruhe vor dem Sturm von Irie Révolté. Es handelt von wütenden Menschen. Sie alle gehen auf die Straßen, um für ihren Traum zu kämpfen. Diese Zeilen sind heute nicht nur ein Liedtext. Heute sind diese Zeilen Realität. Und so schreien die Plakate laut: „There is no Planet B!“ Es riecht nach Revolution. In der ersten Reihe baut sich ein auffällig schwarz gekleideter Junge auf. Entschlossen reißt er das Megafon in die Luft und brüllt „Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr uns die Zukunft klaut“. Die Menge tobt.
Seit Monaten sind solche Szenen jeden Freitag in deutschen Großstädten zu beobachten. Über soziale Medien organisieren sich die Jugendlichen zum Streik für mehr Klimaschutz. Auch Jan ist heute nicht zum ersten Mal unter den Demonstranten. „Ich war so gut wie immer dabei“, erzählt er, während er sich eine Zigarette ansteckt. Seine schwarze Kleidung ist von oben bis unten mit Nieten übersäht. Eine nachtschwarze Sonnenbrille verdeckt sein ernstes Gesicht. An den Füßen trägt er löchrige Chucks. Wütend stampfen sie auf dem Asphalt.
Jan ist einer von Tausend jungen Menschen, die dem Aufruf der jungen Schwedin Greta Thunberg gefolgt sind. Im August 2018 hat das 16-jährige Mädchen das erste Mal für mehr Klimaschutz demonstriert. Während der Schulzeit verbrachte sie dazu täglich mehrere Stunden vor dem schwedischen Reichstagsgebäude in Stockholm. Später kündigt sie an, von nun an jeden Freitag zu streiken. So lange, bis Schwedens Klimapolitik den Grundzügen des Pariser Klimaabkommens entspreche.
Nach ihrem Vorbild demonstrieren SchülerInnen und StudentenInnen seitdem weltweit im Rahmen der Fridays for Future-Bewegung für mehr Klimaschutz. Sie kritisieren vor allem die unzureichenden Maßnahmen der Politik. Eine Politik, von der sie sich im Stich gelassen fühlen. Eine, die ihre Hausaufgaben nicht gemacht hat. Kohleausstieg bis 2030. Ausschließliche Verwendung erneuerbarer Energien bis 2035. Erreichen der „Nettonull“ beim Ausstoß von Treibhausgasen. Ebenfalls bis 2035, so lauten daher die konkreten Forderungen der Bewegung.
Auch Jan ist heute hier, um für eine lebenswerte Zukunft zu kämpfen: „Es kann doch nicht sein, dass man in der Schule alles lernt und dann trotzdem eine schlechte Zukunft hat, einfach weil man keine Lösungsansätze für die wirklich wichtigen Dinge, wie den Klimawandel bekommt“, sagt er kopfschüttelnd. Dann verschwindet er in der Menge, bis er schließlich nicht mehr zu sehen ist. Da sind nur noch seine lauten Rufe. Unaufhaltsam hallen seine Parolen durch die Innenstadt.
„Die Leute, die viel Macht haben, tun einfach nichts.“
Ebenfalls auf den Wolfsburger Straßen unterwegs ist die 13-jährige Emma. „Der Klimawandel muss gestoppt werden, aber die Leute, die viel Macht haben, tun einfach nichts“, klagt sie. In ihrer Hand hält sie ein buntes Plakat mit dem Planeten Erde. „Hot but not sexy“ steht darauf geschrieben. Ihre Message ist eindeutig. Emma ist fest davon überzeugt, dass jeder Einzelne etwas bewirken kann. Für mehr Klimaschutz fährt sie regelmäßig mit öffentlichen Verkehrsmitteln und kauft regionale Produkte. „Vor allem der viele Müll ist ein Problem. Man sollte daher Verpackungen so oft wie möglich umgehen“, rät sie. Jetzt, da Tausende auf die Straßen gehen, hofft sie endlich auch die Politiker davon überzeugen zu können. Jeder Einzelne kann etwas tun und jeder Einzelne muss etwas tun. Festentschlossen reißt Emma daher ihr selbstgemaltes Plakat in die Höhe. In die Schule geht sie an diesem Vormittag nicht. Der verpasste Stoff hat Zeit bis nach der Demo. Doch der Klimaschutz kann nicht warten.
Dass viele SchülerInnen im Zuge der Fridays for Future-Bewegung unentschuldigt im Unterricht fehlen, hat eine Reihe von Diskussionen angestoßen. Die Jugendlichen selbst setzen ein klares Statement: „Warum für eine Zukunft lernen, wenn es keine Zukunft gibt?“ Diese Frage stellen sich die DemonstrantInnen. Deshalb ziert sie ihre Pappschilder. Auch rechtfertigen Viele ihr Verhalten damit, dass die Bewegung an einem Samstag weniger Aufmerksamkeit bekäme. Zu lange blieben ihre verzweifelten Stimmen ungehört. In der Konfrontation sehen viele daher einen letzten Ausweg.
Auch für Jan ist gerade das Unterrichtsschwänzen die einzige Chance der Fridays for Future-Initiative. Die Politik habe beim Thema Klimaschutz lang genug weggeschaut, sagt er. Doch jetzt müssten endlich alle hinsehen. Er schiebt sich seine Sonnenbrille tief ins Gesicht und brüllt: „Streik in der Schule, Streik im Betrieb, das ist unsere Antwort auf eure Politik!“ Wenig später singen es alle. Der Demonstrationszug hat mittlerweile das Wolfsburger Ratsgymnasium erreicht. Dort herrscht normalerweise reges Treiben. Heute wirkt der Schulhof jedoch wie ausgestorben. Viele Klassenräume sind leer.
Nicht alle Schüler nehmen den Schulstreik ernst
Leer blieben zwei Wochen zuvor auch viele Stühle in Braunschweiger Schulen. SchülerInnen haben Mathe, Deutsch und Co. von ihrem Stundenplan gestrichen, um stattdessen für den Klimaschutz zu demonstrieren. Viele von ihnen sind an diesem vergangenen Freitagmorgen in der Straßenbahn der Linie 5 unterwegs. Sie wollen zum Schlossplatz. Ebenso ein älteres Ehepaar. Skeptisch mustert es die Jugendlichen von seinen Plätzen aus und wundert sich: „Nanu, schon Schulschluss?“. Es ist gerade einmal zehn Uhr. An der nächsten Haltestelle steigen weitere SchülerInnen dazu. Auch sie wollen zur Demonstration. Plakate haben sie nicht gemalt. Alles, was sie mit sich herumtragen, ist ein breites Grinsen im Gesicht. Ihre lautstarken Gespräche zeigen: Ihnen ist der ernste Hintergrund der Initiative nicht bewusst. Vielleicht sogar einfach nur egal. Sie scheinen schlichtweg Gefallen an der Rebellion zu haben. Klimawandel hin oder her.
Die Einstellung dieser SchülerInnen rechtfertigt die Sorge, dass manche die Bewegung zum Schuleschwänzen missbrauchen. Viele stehen der Glaubwürdigkeit der Jugendlichen daher eher skeptisch gegenüber. Sie plädieren für Demonstrationen an unterrichtsfreien Tagen. Andere hingegen sprechen den SchülerInnen zusätzlich jegliches Verständnis für den Klimaschutz ab. So kritisiert vor allem FDP-Chef Christian Lindner die Protestaktionen. Er finde das politische Engagement zwar toll, von Kindern und Jugendlichen könne man aber nicht erwarten, dass sie bereits alle globalen Zusammenhänge, das technisch Sinnvolle und das ökonomisch Machbare sehen. „Das ist eine Sache für Profis“, so Lindner. Auch die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer und der Kultusminister Alexander Lorz stehen dem unentschuldigten Fehlen der SchülerInnen kritisch gegenüber.
Trotz des Gegenwinds wird die Bewegung dennoch überwiegend positiv aufgenommen. Bundeskanzlerin Angela Merkel lobt die Schülerdemonstrationen in ihrem Video-Podcast. Auch unter dem Zusammenschluss Scientist for Future erhält sie Zuspruch von mehr als 23.000 Wissenschaftlern. „Diese jungen Klimademonstranten sind alles, was wir haben“, so der Physiker Peter Grassmann. Ebenso unterstützt das Netzwerk Parents for Future die Jugendlichen im Kampf gegen die bisher unzureichenden klimapolitischen Maßnahmen.
„Die nachwachsende Generation hat meiner Meinung nach allen Grund zum Optimismus“
Einer, der in der Verantwortung steht, diese Politik zu überarbeiten, ist der Bundestagsabgeordnete Carsten Müller (CDU). Ein großer Mann mit kräftigem Händedruck. Er empfängt in Anzug und Hemd. Klassischer Politikerauftritt. Entspannt lehnt er sich in seinem Bürostuhl zurück. Vor ihm auf dem Tisch stehen leere Coca-Cola Flaschen vom Vortermin. Hier, im Haus der CDU, spricht er regelmäßig über politische Anliegen. Heute soll er zu den Schülerdemonstrationen Stellung beziehen.
In den Fridays for Future-Demos sieht der CDU Politiker eine grundsätzlich positive Entwicklung. Zwar sei Bildung ein hohes Gut, aber durch das Schuleschwänzen erlange die Bewegung nun mal ihre Aufmerksamkeit. „So eine gewisse Provokation gehört eben dazu“, schmunzelt er. Ob die SchülerInnen etwas bewirken können? Er glaubt fest daran. „Wichtig ist, dass das Thema jetzt wieder diskutiert wird.“ Und er weiß selbst: „Wir können und müssen noch besser werden.“ Vorsichtig nippt er an seiner Kaffeetasse. Vor allem die zukünftige Entwicklung nachhaltiger Produkte und Verfahren stehe im Vordergrund. Noch sind allerdings nicht einmal die jetzigen Ziele realisierbar. Die Klimaziele 2020 sind nicht zu erreichen. Punkt. Auch die Klimaziele 2030 seien sehr anspruchsvoll, gesteht er. Er wirkt nervös. Spielt mit einem Flaschenöffner. Und trotzdem. Er hat Hoffnung. „Die nachwachsende Generation hat meiner Meinung nach allen Grund zum Optimismus“, so Carsten Müller.
Von Optimismus fehlt in den Gesichtern der Wolfsburger Demonstranten an diesem Freitag jedoch jede Spur. Die Schülerbewegung hat inzwischen ihren Endpunkt erreicht. Lautstark versammeln sich die Jugendlichen vor dem Rathausplatz. Über zwei Stunden waren sie unterwegs. Jetzt sind sie erschöpft. Ihr Gang ist schleppend. Ihre Augen müde. Und trotzdem. Die Plakate stehen hoch. Die Stimmen sind stark. Fordernd brüllen sie: „Hopp, Hopp Kohlestopp!“ Aufgeben? Keine Option. Auch Jan ist noch immer mit dabei. Solange die Politik nicht handelt, wird er weiter auf die Straßen gehen. Weiterkämpfen. Für den Traum einer lebenswerten, würdigen Zukunft. Es ist allerhöchste Zeit.