Zerstörung zu sehen, wurde einfach normal

Am 24. Februar marschierten russische Truppen in die Ukraine ein. Was von der russischen Seite als „militärische Spezialoperation“ bezeichnet wird, ist in Wirklichkeit ein Angriffskrieg auf die Ukraine. Ibrahim Naber war seit Kriegsbeginn zwei Monate vor Ort und ließ Menschen an den verschiedenen Schicksalen aus der Ukraine teilhaben. In diesem Interview gibt er Einblicke in die Arbeit eines Kriegsreporters.

Ibrahim Naber (30) hat seine Leidenschaft zum Beruf gemacht. Schon als Jugendlicher sammelte er erste Erfahrungen bei einer Lokalzeitung. Er studierte Kommunikationswissenschaft, Politik und Russisch in Bamberg. Daraufhin folgte eine crossmediale Redakteursausbildung an der Axel-Springer-Akademie. 2020 wurde er unter den „Top30 bis 30“ JournalistInnen in Deutschland ausgezeichnet. Seit 2017 arbeitet er als Reporter für WELT, WELT TV & WELT AM SONNTAG und ist ein festes Mitglied für das Ressort Investigation und Reportage. Eine Beförderung zum Chefreporter folgte im April 2022.

War es dein erster Einsatz in einem Kriegsgebiet?
Ja, es war das erste Mal für mich im Krieg. Ich habe davor noch nie einen Krieg erlebt und es gleich als Reporter vor Ort zu erleben, war eine doppelt neue und auch krasse Erfahrung. Sobald der Krieg begonnen hatte, spürte ich das Verlangen, darüber berichten zu wollen. Am 25. Februar habe ich mit einem Filmemacher telefoniert, mit dem ich schon mehrere Dokumentationen gedreht habe. Wir haben uns in seinen VW-Bulli gesetzt und sind gleich am nächsten Tag Richtung polnisch-ukrainische Grenze losgefahren. So hat alles angefangen.

Das heißt, es war deine freiwillige Entscheidung, in die Ukraine zu reisen?
Ich bin zwar Reporter bei WELT, aber es gab am Anfang keine konkrete Absprache für eine Reise in die Ukraine. In dieser Anfangszeit war ich einer der wenigen, der so früh an der polnischen Grenze war. Der Bahnhof wurde unmittelbar zuvor zu einer Flüchtlingsunterkunft umfunktioniert und täglich kamen tausende Ukrainer an. Zu diesem Zeitpunkt war sie für Medien noch frei zugänglich. Nach ein paar Tagen hat sich das aber geändert und der Medienauflauf wurde sehr groß. Daher war es für uns journalistisch sehr wertvoll. Wir hatten die Gelegenheit, mit Menschen zu sprechen, deren Eindrücke noch ganz frisch waren. Ich schaute in Gesichter mit tiefen Augenringen, sie waren leer. Die Menschen haben gerade ihre Heimat verloren und wussten nicht, was passiert.

Was treibt dich an?
Ich bin einfach für mein Leben gerne Reporter und das schon seitdem ich 15 Jahre alt bin und als Lokalreporter meine ersten Erfahrungen sammeln durfte. Und das bin ich heute immer noch. Ich will so lange berichten, wie ich den Antrieb spüre und es gerne mache. Reporter zu sein ist eine Lebensentscheidung! Man entscheidet sich dafür und verzichtet gleichzeitig auch auf viel. Ich habe viele Festivals oder Hochzeiten verpasst. Dafür bin ich in den USA und bin mit verrückten Trump-Anhängern unterwegs oder in der Ukraine und das gibt mir auch viel und das treibt mich, glaube ich, an. Ich versuche in meiner Berichterstattung so nah wie möglich am Menschen zu sein, jeden gleich zu behandeln und immer auf Augenhöhe zu sprechen. Und was wirklich wichtig ist: Ich habe ein ehrliches Interesse an den Menschen und das merken sie. Ich bekomme schnell Zugänge zu ihnen und das liegt allein daran, dass ich mich für sie interessiere.

Gibt es Länder oder Situationen, wo du absagen würdest?
Das kommt auf die Situation an. Spontan würde ich sagen, ich wüsste nicht, ob ich nach Somalia gehen würde. Wir wissen einfach viel zu wenig, zudem gibt es kaum Infrastruktur. Da müsste ich mich stark informieren, wie die Sicherheitslage vor Ort ist. Im Vergleich dazu ist die Ukraine, von ihren Voraussetzungen und der Infrastruktur, unserem Leben sehr ähnlich. Ich konnte selbst in Städten wie Odessa abends normal Burger essen gehen, obwohl es schon ein paar Stunden später Raketenangriffe gab. Man konnte dort trotz allem recht normal Leben.

Wie reagiert dein persönliches Umfeld, wenn du erzählst, dass du in ein Kriegsgebiet reist? 
Natürlich machen sie sich Sorgen, aber auf der anderen Seite verfolgen sie es mit Interesse, dass sie jemanden kennen, der dort ist und darüber berichtet. Natürlich höre ich Sätze wie „Pass auf dich auf“. Aber sie vertrauen mir und wissen, dass ich mit einem Team vor Ort bin und auch Sicherheitsvorkehrungen treffe.

Verdienst du mehr, wenn du aus Konflikt- und Krisengebieten berichtest?
Die Tage, die ich mehr gearbeitet habe, bekomme ich bezahlt. Aber es ist nicht so, dass man dadurch reich wird.

Wie bereitest du dich vor? 
Zum einem gibt es die journalistische Vorbereitung, wobei man sagen muss, dass man sich auf vieles im Krieg nicht vorbereiten kann. Wir haben oft gesagt, wir fahren in die Frontregion und schauen von Checkpoint zu Checkpoint, wie weit wir kommen und wie die Lage ist. Daher: losfahren, gucken, finden, hinfahren und mit so vielen Menschen wie möglich sprechen. Zum anderen gibt es auch noch die Sicherheitsvorkehrungen, auf die man sich gut vorbereiten kann. Ich habe eine Schutzausrüstung wie Schutzhelm, Schutzweste, GPS-Tracker, Lebensmittelpaket für mindestens sieben Tage sowie sehr viel Cash und Gasmasken dabeigehabt, für den Fall, dass mit chemischen Waffen hantiert wird.

Fahrt in die Frontregion im Südosten. (Foto: Ibrahim Naber)

Aus wie vielen Personen besteht dein Team?
Beim ersten Mal bestand mein Team lange nur aus dem Filmemacher und mir. Wenn man im Krieg unterwegs ist, arbeiten Journalisten oft mit sogenannten Fixern zusammen. Fixer sind Menschen aus dem jeweiligen Land, welche vor Ort helfen, Sachen zu organisieren, übersetzen und zu Terminen mitkommen. Bei meiner zweiten Reise hatte ich ein festes Team, das aus einem Filmemacher, einem Sicherheitsmann und mir, einem Reporter, bestand. Zum Teil haben wir uns auch einige Wochen von einem Fixer begleiten lassen.

Wer trägt die Verantwortung für Euer Team?
Die Entscheidung, wie es weitergeht, treffe ich. Das war für mich eine neue Situation, aber schließlich habe ich die Verantwortung, dass es funktioniert. Mithilfe von Apps, welche aktuelle Frontverläufe verzeichnen, konnten wir unser weiteres Vorgehen planen. Unser Sicherheitsmann, der schon Erfahrungen in Kriegsgebieten mitbringt, musste letztlich das Go geben, ob wir etwas machen können oder es zu brenzlich wird. Zudem gab es auch noch die Redaktion, die wir informieren mussten, sobald es weiter Richtung Front ging.

Kannst du deinen Tagesablauf beschreiben?
Man geht schlafen und wacht mindestens einmal, wenn nicht sogar drei- oder viermal in der Nacht auf, weil der Luftalarm auf dem Smartphone …eine spezielle App alarmiert Zivilist*innen in Echtzeit über Warnungen vor Luftangriffen in der Ukraine… losgeht. Gleichzeitig gehen im Hotel und in der Stadt die Sirenen los. Der Schlaf ist also recht unruhig. Morgens bin ich immer früh, meist zwischen fünf und sieben Uhr, aufgewacht. Mein Tag hat damit begonnen, dass ich gelesen und mich informiert habe, Twitter gecheckt, Interviews vom Vortrag transkribiert oder Beiträge geschnitten habe. Morgens hatte ich eine Liveschalte und im Laufe des Tages häufig nochmal. Danach sind wir meist aufgebrochen, um in Frontregionen oder andere Gebiete zu fahren und Interviews zu führen. Abends ging es wieder zurück ins Hotel, um Aufnahmen zu schneiden und dann geht’s weiter.

Immer wieder hört man von Angriffen auf Medienschaffende. Wie ist die Situation für Kriegsreporter in der Ukraine?
Die Sicherheitslage für Journalisten ist auf jeden Fall angespannt. Es gab einige Journalisten, die seit Beginn des Kriegs umgekommen sind. Als es mehrere Kollegen innerhalb kurzer Zeit gab, die ums Leben kamen, …in den ersten Wochen des Krieges sind drei JournalistInnen getötet und weitere 35 verletzt worden… erhielten wir für einen kurzen Zeitraum die Anweisung, keine Presseaufschriften mehr zu benutzen, da vermutet wurde, dass Journalisten gezielt ins Visier genommen werden. Ich bin aber nie in die Situation gekommen, wo mein Leben akut in Gefahr war.

Also hast du dich sicher gefühlt?
So würde ich es nicht ausdrücken. (lacht) Aber ich habe mich für die Verhältnisse, die es dort gibt, relativ sicher gefühlt.

Erinnerst du dich an Momente, in denen du Angst verspürt hast? 
Es gab Momente, wo ich ein flaues Gefühl im Magen hatte. In Lwiw gab es den ersten Einschlag, den ich wirklich mit meinen eigenen Ohren gehört habe und ich aus meinem Schlaf aufgeschreckt bin. Da wurde mir bewusst, ich bin jetzt wirklich hier und hier ist der Krieg. Das Gehör ist sehr prägend vor Ort. Zudem ist das Gehör auch das, was dir den Krieg selbst zuhause immer wieder in deinen Kopf zurückbringt. Wenn ich hier schlafe und jemand schlägt eine Tonne zu, schrecke ich sofort auf und denke, hier ist ein Beschuss. So war das zumindest die ersten Tage, nachdem ich zurückgekommen bin. Und dann gibt es natürlich Momente, wo es Richtung Frontgebiete geht. Die Momente, wenn man das erste Mal die Schutzweste und den Helm anzieht. Wo ich mich mit Dingen auseinandergesetzt habe, über die ich mir vorher nie Gedanken gemacht habe. Was ist eigentlich, wenn mir was passiert? Daraufhin habe ich das erste Mal alles Wichtige aufgeschrieben.

Das Genfer Abkommen ist eine internationale Vereinbarung für den Schutz von Personen wie Verwundete, Kranke, Kriegsgefangene und SanitäterInnen. Zudem sind auch JournalistInnen durch die Genfer Konventionen geschützt, da es Medien ermöglicht werden muss, angemessen über Kriegssituationen zu berichten. Die russische Regierung behauptet, nur militärische Ziele angegriffen zu haben. Allerdings konnten bereits mehrere Angriffe auf zivile Gebiete dokumentiert werden. Manche Angriffe könnten somit Kriegsverbrechen darstellen. Russland kämpft weiterhin gegen eine objektive Berichterstattung ihrer Kriegsverbrechen, beschießt JournalistInnen und zerstört Fernsehtürme (Kiew, Lutsk und Riwne), um die Kommunikation zu erschweren. Am 30. Mai 2022 bestätigte die französische Regierung erneut einen tödlichen Angriff auf einen Journalisten. Der französische Journalist Frédéric Leclerc-Imhoff sei mit fliehenden ZivilistInnen unterwegs gewesen. Trotz einer deutlichen Kennzeichnung als Hilfskonvoi wurde der Transporter von einer Granate getroffen.

Wie kommst du vor Ort zu deinen Informationen?
Das Wichtigste ist, rauszugehen und mit vielen Leuten zu sprechen. Stets interessiert und da zu sein, wo etwas passiert. Außerdem versuchen wir uns mit wichtigen Kontakten, wie Politikern und Bürgermeistern, zu vernetzen. Durch Gespräche mit Geflüchteten versuchen wir einzuschätzen, wie die Lage vor Ort ist. Auf der anderen Seite spielt das Internet, wie Social-Media und Twitter, eine große Rolle. Ich informiere mich, was in den Städten los ist oder wie Kollegen arbeiten. Durch Social-Media erhalte ich auch sehr viele Hinweise und Menschen wenden sich oft an mich. Das zeigt mir, wie wichtig heutzutage Social-Media ist.

In Krisenzeiten zeigen Menschen ein hohes Informationsbedürfnis, doch es kursieren etliche Falschaussagen im Internet. Gezielte Falschnachrichten sollen bewusst verunsichern, Meinungen manipulieren und Vertrauen erschüttern. Daher sind Fake News auch ein beliebtes Instrument für Propaganda. Veraltete Bilder, Videos oder Szenen aus Videospielen werden mit dem aktuellen Krieg in Verbindung gebracht und es scheint schwierig Fake News von tatsächlichen Nachrichten zu unterscheiden. Da die Menschen Andere auf die fürchterlichen Umstände in der Ukraine aufmerksam machen wollen, „liken“, kommentieren und leiten sie diese Falschinformation ungeprüft weiter.

Mit welcher Intention wenden sich Menschen an dich?
Zum Beispiel wurde ich von einem Mann aus Deutschland, der in den Krieg fahren wollte, gefragt, ob ich ihm dabei helfen könnte. Das konnte ich natürlich nicht, aber ich habe ihm angeboten, seinen Weg journalistisch zu begleiten.

Woher weißt du, wem du vor Ort vertrauen kannst und wem nicht?
Es gelten die Regeln, die es immer im Journalismus gibt: Habe ich Quellen für meine Informationen, wer erzählt mir was, mit welcher Intention, warum spricht er mit mir und was sind die Belege dafür? Das ist das Einmaleins des Journalismus, welches auch im Krieg gelten muss. Im Krieg gibt es aber erschwerte Bedingungen. Wir haben hier einen barbarischen Angriffskrieg von einem Land, das nicht nur den Angriffskrieg führt, sondern auch Journalisten und freie Berichterstattung verachtet.

Soldaten in Orichiw. (Foto: Ibrahim Naber)

Kann man dann als Kriegsreporter für ein deutsches Publikum unabhängig berichten oder ergreift man in gewisser Weise automatisch Partei?
Wir reden von einem grausamen Angriffskrieg auf einen souveränen Staat. Natürlich gibt es in einem Krieg irgendwann immer Tote und Verbrechen auf beiden Seiten. Aber wir dürfen niemals ausblenden, welcher Staat hier in ein fremdes Land einfällt und welche Seite hier um die eigene Existenz kämpft. Trotzdem müssen wir beachten, dass wir nur einen Zugang zu einer einseitigen Berichterstattung haben. Über die russische Seite konnten wir zwar berichten, aber wir hatten keinen direkten Draht zu Soldaten oder Kommandeuren. Deswegen muss man aufpassen, dass man nicht in das Aktivistische abrutscht, sondern sich stets klarmacht, dass man vor Ort als Beobachter bleibt und nur das wiedergibt, was vor Ort passiert. Damit meine ich, keine Informationen weiterzugeben, ohne sie vorher zu prüfen. Und das ist auch im Krieg möglich. Bevor ich von einem Raketenangriff berichte, schaue ich mir den Ort und die Überreste an, spreche mit Menschen und versuche herauszufinden, was passiert ist und was die Menschen mit ihren eigenen Augen gesehen haben.

Ist das immer möglich?
Es sind manchmal erschwerte Bedingungen, aber es ist nicht unmöglich. Ich war mit einem ukrainischen Soldaten in Kontakt, der bei Butscha im Einsatz war, wo es das Massaker gab. Noch bevor die erste Berichterstattung aufkam, hat mir der Mann Videos aus Irpin und Butscha geschickt, auf denen man rechts und links die Leichen sehen konnte. Er berichtete, dass die Menschen von den Russen mit Kopfschuss hingerichtet worden seien. Diese Angaben deckten sich mit der späteren Berichterstattung über das Massaker. Für mich war das zunächst schwer nachzuprüfen. Da ich den Mann später persönlich getroffen und auf den Videos erkannt habe, konnte ich seine Identität bestätigen. Mithilfe von weiteren Checks und Bilderrückwärtssuche, konnten wir zudem überprüfen, ob er sich wirklich zu der Zeit an dem besagten Ort aufgehalten hat. Erst nach dieser Verifizierung haben wir einen Artikel veröffentlicht.

Ibrahim Naber vor dem zerbombten Gebäude der Regionalverwaltung in Mykolajiw. (Foto: Ibrahim Naber)

Viele Journalisten lehnen Schutzwesten ab. Wie stehst du dazu?
Ich lehne Schutzwesten in gewissen Situationen auch ab. Wenn ich zum Beispiel in Lwiw durch die Straßen ziehe, wo neunzig Prozent der Menschen nicht mal bei einem Luftalarm in die Schutzräume gehen, wäre es komisch, dort mit einer Schutzweste rumzulaufen. Da sieht man aus wie ein Alien. Dauerhaft eine Schutzweste zu tragen wäre unnormal, es sei denn du bist ein Soldat. Wir tragen nur Schutzwesten, wenn wir in eine Region kommen, wo es brenzlich ist oder es Beschuss gibt. Es hängt immer davon ab, wo man sich aufhält.

Es kommt vor, dass Journalisten in Kriegsgebieten sterben, weil ihre Wunden nicht richtig oder zu spät behandelt werden. Weißt du, was im Ernstfall zu tun ist?
Ich habe von unserem Sicherheitsmann einen Crash-Kurs bekommen, wie ich eine richtige, klaffende Wunde behandele. Zudem habe ich immer ein Tourniquet …eine Aderpresse zur Blutstillung stark blutender Wunden… dabei, welches ich auch immer in meiner Tasche dabeihaben musste. Das war die Anweisung unseres Sicherheitsmannes, um im Notfall Verletzungen versorgen zu können.

Was war das Bewegendste, was du bisher erlebt hast? 
Das war wohl die Geschichte „Ein Krieg durch die Augen von Kindern“. Die Erzählungen der Kinder, die ihre Heimat verloren haben und auf der Flucht sind, waren echt bewegend. Sie haben von Panzern berichtet, wie sie nachts aufgeschreckt sind, von Dingen, die sie gesehen haben, von ihren Ängsten und Sorgen, wen sie vermissen und was sie sich wünschen. Bis heute kann ich noch die Namen von jedem einzelnen Kind aufzählen, wie sie mir in die Augen geguckt und mir vom Krieg erzählt haben. Und das hat mich am nachhaltigsten mitgenommen und beschäftigt. Die Ukrainer können nichts dafür und die Kinder schon gar nicht.

Hast du schon mal jemanden sterben gesehen?
Wir sind manchmal an Orte gekommen, wo es Raketenanschläge gegeben hat und man Überreste sah. Aber ich habe nie jemanden direkt beim Sterben gesehen. Zum Glück nicht.

Wird man mit der Zeit verrückt oder abgestumpft? 
Man muss auf jeden Fall aufpassen, dass es nicht passiert. Was als Zuschauer sowie als Reporter eintritt, ist, dass man sich an etwas gewöhnt, an das man sich eigentlich nicht gewöhnen sollte. Das Leid und die Schicksale! Sie interessieren nach der Zeit immer weniger Menschen. Die Reaktionen sind dann: „wissen wir schon, haben wir schon gelesen, wissen wir alles“. Als Reporter muss man sich bewahren, nicht die Empathie und das Interesse zu verlieren. Je länger der Krieg dauert, umso schwieriger ist es, Geschichten zu finden, die Leute erreichen und die Aufmerksamkeit bekommen. Aber es geht. Es ist immer eine Frage, aus welcher Perspektive man eine Geschichte erzählt. Und ja, man stumpft in der Hinsicht ab, dass zerstörte Gebiete normal wurden. Und dann kamen Gedanken wie: „Ah, schon wieder ein zerstörtes Haus“. Zerstörung zu sehen, wurde einfach normal.

Wo suchst du dir Ausgleich?
Während ich in der Ukraine war, war es schwer. Da befindet man sich so im Tunnel, dass man einfach durcharbeitet. Ich habe jeden einzelnen Tag gearbeitet, Video-Live-Schaltungen gemacht, Reportagen, Geschichten für die Welt am Sonntag produziert und es war permanent immer was los. Man will auch nicht abschalten. Es würde sich komisch anfühlen, wenn ich Sonntag die Füße hochlege und einfach mal nichts mache. Aber es gibt sicher auch Tage, wo man mal ausschläft und sagt, hey, es ist gerade einfach zu viel, ich bin nur noch Matsch im Kopf und da sollte man sich den Schlaf oder die Auszeit auch gönnen. Viel wichtiger ist, dass wenn man zurückkommt und ein paar Tage oder Wochen frei hat, die Zeit für sich zu nehmen und die Zeit nutzt, um diejenigen zu sehen, die man liebt. Das soziale Umfeld gibt mir persönlich Kraft. An Orte zu kommen, wo man wieder was Normales und Schönes erleben kann. Ich bin direkt in meine Heimat gefahren, habe meine Freunde getroffen, war spazieren, joggen, habe Sport gemacht oder bin abends mit Freunden was trinken gegangen. Es gibt enorm viel Kraft und ist einfach schön.

Gab es trotz Krieg auch schöne Augenblicke?
Ich fand es schön, wie die Menschen zusammenrücken, wenn die Not groß ist. Ich fand mich in einer umfunktionierten Kunsthalle wieder, wo Omas, Studierende, Arbeitgeber und Arbeiter Schulter an Schulter Camouflage fürs Militär strickten. Die Solidarität der Menschen in einer Zeit, in der ihr Land angegriffen wird und in der alle um ihre Heimat bangen. Es war sehr schön, das zu sehen. Ein anderer Moment, den ich als sehr schön empfand, spielte in Odessa. Dort traf ich auf die letzten verbliebenen Musiker der Stadt. Eigentlich bin ich kein Typ, dem klassische Musik etwas gibt. Aber das Orchester spielen zu hören, welches mittlerweile nur noch aus einem Drittel der Musiker besteht, hat mich sehr bewegt. Ich war zu diesem Zeitpunkt übermüdet, habe viel erlebt und dann spielt das Orchester ein Lied. Das war echt ein schöner Moment.

Leere Regale in der Geisterstadt Orichiw. (Foto: Ibrahim Naber)

Eine Erfahrung, die dir im Kopf geblieben ist? 
Es war im Südosten der Ukraine, in Orichiw. Mittlerweile eine Geisterstadt mit verlassenen Hauptstraßen und mehr herumstreunenden Hunden als Menschen. Die Menschen sind geflohen, weil die Front sehr nahe ist und es einfach unmöglich ist, dort weiterzuleben. Die Bankautomaten spucken kein Geld mehr aus, Supermärkte sind leer, es gibt nur noch sporadisch Hilfe vor Ort. Wir sind in eine Wohnstraße gekommen, in der nur noch ein einziges Auto parkte und ein altes Ehepaar seine Taschen drin verstaute. Mit meinem Schulrussisch habe ich sie dann angesprochen und mir wurde erklärt, dass sie sich bereit machen, um zu fliehen. Relativ schnell hatte die alte Frau Tränen in den Augen und sie rief mir zu, dass sie die Sprache des Aggressors nicht mehr sprechen möchte. Das sei die Sprache der Menschen, die ihr Land angreifen, auf ihre Kinder zielen und ihre Nachbarn, Freunde und Familie töten. Sie möchte diese Sprache nicht mehr sprechen! Ich habe das verstanden und kann es absolut nachvollziehen. Es war eine Erkenntnis: Diese Geisterstadt, die aufgebrachte Frau, die Situation und der ständige Artilleriebeschuss im Hintergrund. In diesem Moment habe ich begriffen, wie nahe es den Menschen geht und wie es sich wohl anfühlen muss, wenn man seine Heimat verliert. 

Hast du ein schlechtes Gewissen, wenn du nach deinem Arbeitseinsatz in einem Kriegsgebiet wieder nach Hause fährst? 
Beim ersten Mal hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich das Gefühl hatte, dass ich die Menschen im Stich lasse. Vielleicht war das nur ein Gefühl, aber ich wollte unbedingt weiter berichten. Beim zweiten Mal habe ich einfach gespürt, dass mein Akku komplett leer ist und ich überarbeitet und übermüdet war. Das hat sich dadurch gezeigt, dass ich in den letzten Tagen unaufmerksamer wurde. An diesem Punkt habe ich mir eingestanden, dass ich jetzt eine Pause brauche. Daher hat es sich jetzt nicht so falsch angefühlt. Ich habe nach wie vor das Bedürfnis darüber zu berichten und glaube auch, dass ich wieder zurückgehen werde.

Letzte Frage: Was ist eine Story wert?
Die vernünftige Antwort wäre, nicht das eigene Leben zu riskieren. Wenn man in ein Kriegsgebiet geht, begibt man sich aber immer in eine Gefahr. Man muss Risiko eingehen, um im Krieg zu berichten und gute Geschichten zu bekommen, aber es ist es nicht wert den Helden am Schützengraben zu spielen. Davon haben die Leser auch nichts.

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