Murat Yalcinkaya sitzt vor der Tür des Gemeindehauses der Aleviten in Salzgitter und raucht, so wie immer also. Er steht auf und reicht mir die Hand. Seine von tiefen Falten umgebenen Augen leuchten, sein üppiger grauer Bart lässt das warme Lächeln bloß erahnen. Er kommt sofort zum Punkt: „Was kann ich dir anbieten? Tee? Bier? Willst du was essen, hast du Hunger?“. Ablehnen funktioniert in der Regel nicht. Also gibt es Tee. Der Versuch, eine Zigarette zu drehen, scheitert. Murat bietet mir eine von seinen Malboros an, so wie immer also.
Als diese Formalitäten geklärt sind, fängt Murat unvermittelt an zu erzählen: „In der Türkei haben sie…“. Die Türkei, das ist sein Lieblingsthema. Sie ist seine Heimat und die vieler anderer Aleviten in Salzgitter. Doch die Aleviten haben einen schweren Stand in der Türkei. Alltagsdiskriminierung, Mobbing in den Schulen, schlechtere Chancen im Berufsleben – in der Türkei Alevit zu sein, bedeutet, systematisch unterdrückt zu werden. Der europäische Gerichtshof urteilte 2016, dass die Türkei die Religionsfreiheit der Aleviten unterdrücke. Denn ihre Religion wird nicht anerkannt. Obwohl viele Aleviten sich lediglich im Vorzeichen des Islams, aber nicht als Teil dessen sehen, gelten sie in der Türkei schlichtweg als Muslime. Man muss allerdings auch einräumen, dass die Aleviten über keine eigene Partei verfügen, die ihre Interessen vertreten könnte. Und in Tunceli gelten die Cem-Häuser der Aleviten mittlerweile als den Moscheen gleichgestellte Kultstätten.
Ein Ereignis belastet das sunnitisch-alevitische Verhältnis bis heute. In Tunceli, damals Dersim, wurden von 1937 bis 1938 laut dem türkischen Staat rund 13.000 kurdische Aleviten getötet. Der Angriff wurde mit gnadenloser Härte durchgeführt, im Verbund von Heer und Luftwaffe. Der Angriff fand wegen einer Reihe von vorausgegangen Aufständen der Bevölkerung statt. Der türkische Staatsgründer Atatürk akzeptierte die Stammesstrukturen der Aleviten nicht, da sie nicht in seine Republik passten. Daraufhin wurden einige Gesetze erlassen, die das Deportieren und Assimilieren von Aleviten erleichterten. Manche alevitische Stämme setzten sich mit Gewalt zur Wehr. Seit den Zwanzigerjahren brachen in Dersim immer wieder Unruhen aus. Denn die Aleviten waren enttäuscht, dass Atatürks Versprechen von gleichen Rechten, unabhängig von Konfession und Ethnie, wohl nicht für die Aleviten galt. Im Sommer 1937 schließlich, fiel Atatürks Hammer auf die Aleviten, die zuvor Militärstützpunkte angriffen. Bis 1938 hielten die Kämpfe an. Am Ende wurden bis zu insgesamt 120.000 Aleviten getötet oder vertrieben, mindestens aber 10.000, die Zahl der Opfer variiert von Quelle zu Quelle. Hilferufe der Aleviten an die westlichen Nationen des Völkerbundes blieben ungehört und so blieb internationale Hilfe aus. Die Überreste der Kämpfe sind im heutigen Dersim, der Region „Tunceli“, immer noch zu sehen. Dort kann man immer noch die Knochen der verstorbenen im Geröll finden. 2011 entschuldigte sich der heutige Staatschef Erdogan für die Massaker, räumte 13.806 Todesopfer ein. Dennoch: Ein wichtiger Schritt zur Versöhnung, aber nur ein kleiner. Denn immer noch ist die Religionsfreiheit der Aleviten nicht rechtlich zugesichert. Die Europa-Kommission machte dies zur Voraussetzung für eine Aufnahme der Türkei in die EU.
Die Liste der Massaker, wie Murat sie nennt, könnte noch endlos weitergehen, und auch heute noch muss man als Alevit um seine Sicherheit fürchten, gerade in der Türkei.
Trotz dieser Umstände konnten die Aleviten eine reiche Kultur entwickeln. Es gibt zahlreiche Feiertage, die am islamischen Kalender orientiert sind. Häufig geht diesen eine Zeit des Fastens voraus. Die Feiertage werden von einem Cem, einem Gottesdienst, begleitet. Wer das Cem-Haus betritt, ist dem Anderen gleichgestellt. Wer sich in einem Cem-Haus befindet, ist kein Mann, keine Frau, schwarz oder weiß, man ist einfach Mensch. In der alevitischen Lehre steht der Mensch im Mittelpunkt, ein Leitsatz der Lehre lautet: „Suche Gott nicht in der Fremde! Gott ist in dir selbst, wenn du des reinen Herzens bist.“ Die Aleviten glauben an „Hak“. Hak ist die Wahrheit oder das Göttliche, das in allem und jedem steckt. Beim Cem sitzen die Menschen sich gegenüber und schauen sich an. Erst wenn alle Anwesenden beim Cem im Einvernehmen miteinander sind, kann der Cem beginnen. Wer nicht im Einvernehmen mit den Anderen ist, darf nicht am Cem teilnehmen. Wer besonders schweren Vergehen schuldig ist, wie Ehebruch oder Mord, darf nie wieder am Gemeindeleben teilnehmen. Der Höhepunkt des Cem ist der sogenannte „Semah“, ein Tanz, bei dem mehrere Tänzer wie in Trance im Kreis tanzen. Er symbolisiert den ewigen Kreislauf des Universums und soll auch darstellen, wie der Prophet Mohammed und sein Schwiegersohn Ali zusammen berauscht von der Liebe tanzten. Der alevitische Glaube ist aus den vielen verschiedenen Naturvölkern aus Anatolien heraus entstanden. Es gibt im Alevitentum Einflüsse, die weit älter sind als der Islam. Hermes, der griechische Götterbote, tritt in alevitischen Erzählungen als Kranich in Erscheinung. Der Legende nach hat er Mohammed bei seiner Himmelfahrt begleitet.
Und weil alle Lebewesen etwas Göttliches in sich tragen, muss man auch jedem Lebewesen mit Respekt gegenübertreten. In der Praxis bedeutet dies, dass man auch die Ethnie, Sexualität oder die Religion des Anderen respektiert
Die alevitische Glaubenslehre basiert auf der Entscheidungs- und Glaubensfreiheit des Menschen. Und da niemand die Verpflichtung hat, etwas zu tun oder zu glauben, missionieren die Aleviten auch nicht. Es gibt auch keine heilige Schrift, wie Bibel oder Koran, das Alevitentum wird seit jeher mündlich weitergetragen. Cemal Karatas, Lehrer für alevitische Religion in Salzgitter, erklärt: „Das gesprochene Wort kann nicht mehr verfälscht werden.“ Auch die Langhalslaute, das „Saz“, spielt eine wichtige Rolle. Wann immer religiöse Gedichte, Lieder oder Texte vorgetragen werden, begleitet das Saz den Redner. Somit wird dem Saz eine große religiöse Bedeutung zugeschrieben. Dass es keine alevitische heilige Schrift gibt, liegt unter anderem aber auch daran, dass die Aleviten seit jeher verfolgt werden. Zu Zeiten des osmanischen Reiches gab es Familien, die sich der Erhaltung der alevitischen Lehre verschrieben haben. Sie haben das Wissen, die Geschichten und Lieder von Generation zu Generation weitergegeben. In der Lehre, so erklärt Karatas, sei das wichtigste Buch, das man lesen könne, der Mensch. Die Aleviten sagen: „Erkenne dich selbst und du erkennst Gott.“
Murat Yalcinkaya führt mich ins Gemeindehaus. Es läuft türkische Musik, der Raum ist erfüllt vom Geruch des Tees und den hausgemachten Speisen, die regelmäßig von Gemeindemitgliedern mitgebracht werden. An den Tischen sitzen hauptsächlich alte Männer, die Karten spielen, aber auch Schach oder Backgammon. Die Stimmung ist ausgelassen, der ein oder andere genehmigt sich ein Bier oder Wein. Murat ist im Vorstand für Kultur zuständig, ein bekanntes Gesicht also, sofort wird er von mehreren Leuten herzlich begrüßt. Das alles findet in einer verwirrenden Mischung aus Türkisch und Deutsch statt. Unklar ist, ob dies die Regel ist oder ob die Leute einfach vergessen, dass ich kein Türkisch spreche und es ihnen stellenweise wieder einfällt und ein paar deutsche Wörter in den Satz eingestreut werden.
Murat erzählt wieder über die Türkei. Diesmal geht es aber nicht um ein Massaker, eine für die Aleviten unvorteilhafte politische Entscheidung oder so etwas Ähnliches. Er erzählt, dass er und einige Gemeindemitglieder derzeit Geld sammeln, um im Frühling Bäume in der Türkei zu pflanzen. Und dass man derzeit versuche, türkischen Studenten ein Studium in Deutschland zu finanzieren. Doch warum machen die Aleviten das? Warum engagiert man sich in einem Land, das einem nichts im Gegenzug gibt? „Man muss immer an das Gute glauben.“ Wenn man nicht an das Gute glaube, dann habe das Böse schon gewonnen, meint Murat. „Außerdem ist die Türkei unsere Heimat, die wir trotz allem lieben“, ergänzt er und lächelt schwermütig. Obwohl er schon weit über dem 50. Lebensjahr ist, trägt Murat immer noch einen geradezu kindlichen Optimismus in sich, dass in Zukunft alles besser werden wird.
Eine Sache fällt bei einem Besuch des Gemeindehauses ganz besonders auf: Es halten sich bis auf ein paar kleine Kinder, kaum Jugendliche oder junge Erwachsene dort auf. Die Gemeinde hat Schwierigkeiten, die junge Generation für das Gemeindeleben zu begeistern. Das räumt auch Murat Yalcinkaya ein: „Es kommen weniger junge Leute her als früher, das stimmt.“, bemängelt das alevitische Urgestein. Murat möchte seine verbleibende Zeit als Kulturvorstand aber dafür nutzen, wieder mehr junge Leute für das Gemeindeleben zu begeistern.
Es ist nun Abend, draußen sitze ich mit einem Bier und einer hausgemachten Pide. Und Murat. Der raucht und trinkt Tee, wie immer also. Als es Zeit wird zu gehen, fragt Murat: „Soll ich dich nach Hause fahren?“.