Hamburg an einem Samstag im April. Es ist ein herrlicher Tag, um bei einem Spaziergang die Stadt zu erkunden. Ein lauter Wind bringt die Blätter der Bäume um uns herum zum Rascheln und das Wasser zum Plätschern. Vorbeifahrende Autos dröhnen durch die Straßen und hinterlassen den metallischen Geruch von Großstadttrubel. Wir kommen an einem Gemüsestand vorbei und der Duft jeder erdenklichen Gemüsesorte schlägt uns entgegen. Schließlich bleiben wir stehen und warten an einer Ampel darauf, sicher die Straße überqueren zu können. Es piept mehrere Male. „Jetzt können wir rüber!“, sagt Christian. Und rüber. Die Autos und den Großstadtlärm hinter uns lassend, machen wir uns auf den Weg zum Hafen. Über einen Steg betreten wir eine der zahlreichen Barkassen, die tagtäglich unzählige Seniorengruppen und Städtetouristen durch den Hamburger Hafen schippern.
Der Motor des Bootes dröhnt unter unseren Sitzen, eine Schwade Dieselluft zieht durch den Fahrgastraum. Der Kapitän hält seinen Vortrag über die zahllosen Sehenswürdigkeiten, die uns auf der Fahrt entgegenkommen. „Hast du die Schwäne dort im Kanal gesehen?“ „Oh, nee!“, erwidere ich. „Ich auch nicht!“, lacht Christian. Als die Tour durch den Hafen schließlich zu Ende ist, machen wir uns auf den Heimweg. „Vielen Dank, dass Sie an unserer Tour teilgenommen haben und bis zum nächsten Mal!“, tönt es hinter uns und wir gehen durch die letzte Tür. „Endlich wieder Tageslicht“, sagt Christian und auch ich bin froh, wieder alles hell und klar sehen zu können. „Und? Wie ist es so die Welt durch meine Augen zu sehen?“, fragt er mich verschmitzt. „Dunkel!“, antworte ich, während ich den vom Dialog im Dunkeln geliehenen Blindenstock zurück in einen der Köcher stelle.
So ist es also, die Welt durch die Augen eines Blinden zu sehen. „Immerhin bist du nirgendwo gegengerannt!“, amüsiert sich Christian später. Er ist 39 Jahre alt und seit seiner Geburt auf dem linken Auge blind. Mit dem rechten kann er gerade noch so Licht und Schatten voneinander unterscheiden und Objekte in seiner näheren Umgebung als solche erkennen. Mit einer Restsehstärke von fünf Prozent und einem Sichtfeld von unter 30 Grad gilt er, wie etwa 1,2 Millionen Menschen in Deutschland nach Schätzung der Weltgesundheitsorganisation, als gesetzlich blind.
Ich dachte, ich seh‘ nicht richtig
Ein sonniger Vormittag in Braunschweig. Die Sonne brennt, es ist heiß. Es geht kaum ein Luftzug. Während er vom Balkon seiner Dachgeschosswohnung auf die Hinterhöfe des östlichen Ringgebiets blickt, schwärmt Christian von der Aussicht und der angenehmen Ruhe über den Dächern der Stadt. „Und? Wie gefällt dir die Aussicht?“, fragt er mich begeistert. „Schön, dass man heute ein paar Umrisse erkennen kann! An schlechten Tagen kann ich hier fast gar nichts erkennen!“, sagt Christian. Er leidet seit seiner Geburt an Aniridie, einer durch Genmutation hervorgerufenen Krankheit, bei der sich die Iris des Auges während der Schwangerschaft nicht vollständig ausprägt oder ganz fehlt. So sind Betroffene entweder ganz blind oder können ihre Umwelt nur sehr begrenzt wahrnehmen.
Auch wenn Christian auf dem linken Auge gar nichts sehen kann, so kann er dennoch mit dem rechten und einer Restsehschärfe von fünf Prozent bei ganz genauem Hinsehen noch Konturen und Farben unterscheiden. „Das ist dann wie, wenn man durch eine beschlagene Fensterscheibe schaut. Da erkennt man ja auch noch Farben und Konturen, kann aber trotzdem nichts wirklich sehen“, beschreibt er. Er ist einer von fünf Geschwistern, die von dieser Fehlbildung in unterschiedlichen Ausprägungen betroffen sind.
Über die Jahre seiner Jugend hat er zunehmend an Sehkraft verloren. „In meinem Lehramtsstudium nach dem Abitur hat sich meine Sicht sehr stark verschlechtert. Ich dachte erst, ich seh‘ nicht richtig, bis ich dann schließlich gar keine Texte mehr erkennen konnte.“ Er wirkt sehr entspannt, aber auch sehr reflektiert, während er über seine Vergangenheit spricht. Trotz alledem, irgendwo zwischen Krankheitsverlauf, Operationshistorie und Außenseiter-Dasein, klingt doch noch ein großes Stück Dankbarkeit für seine letzten Prozente Sehkraft durch.
Mittlerweile ist es später Nachmittag, eine gute Zeit, sich etwas zu kochen. „Ich habe jetzt Lust auf Curryhuhn!“, sagt Christian, während er aufsteht und sich in Richtung Balkontür vortastet. Nachdem er die Tür geöffnet hat, bewegt er sich überraschend sicher durch seine Zwei-Zimmer-Wohnung, bis er schließlich in der winzigen Küche ankommt und kurz innehält. Berge verschiedenster Gewürze türmen sich in der Ecke der Kochzeile auf und die unterschiedlichsten Gemüsesorten sind quer über die Arbeitsplatte verteilt. „Eine Hausfrau würde hier vermutlich die Krise kriegen, aber ich weiß ganz genau, wo ich alles stehen und liegen habe!“ Ein geordnetes Chaos eben. Nachdem alle Zutaten zusammengesucht sind, legt Christian eifrig los. Zwiebeln schneiden, das Huhn anbraten und die restlichen Zutaten dazugeben, bis der Geruch von Curry und Knoblauch durch die Wohnung zieht. Gelernt hat er das während einer Reha-Maßnahme in einer Wohngruppe an der Deutschen Blindenstudienanstalt in Marburg. Zusammen mit anderen lernen späterblindete Menschen hier, in verschiedenen Kursen Fertigkeiten für den Alltag, wie beispielsweise Kochen, Nähen oder andere alltägliche Dinge. Ein Leben ohne Sicht muss schließlich gelernt sein. Doch auch der Berufsalltag als Pressereferent bei der Region Hannover bringt einige Herausforderungen mit sich. „Auf der Arbeit habe ich noch ‘zig andere Hilfen, die mir das Leben erleichtern!“, erzählt er. „Für meine Arbeit am Schreibtisch nutze ich meistens die Sprachausgabe, die mir den Text auf dem Bildschirm über Kopfhörer vorliest. Viele wundern sich dann darüber. Das fällt dann auch immer besonders in Besprechungen auf!“ Aber manchmal reichen auch allerlei technische Hilfen nicht aus. „Bei anderen Sachen bin ich dann ganz froh, meine Arbeitsassistenz Melina zu haben. Sie unterstützt mich dann immer sehr tatkräftig, wenn ich selbst einfach nicht weiterkomme!“
Mit seiner Arbeit hat Christian jedoch noch Glück gehabt, denn auf dem deutschen Arbeitsmarkt sieht es für Behinderte oder Sehbehinderte meist schlecht aus. Laut Einschätzung des Blinden- und Sehbehindertenvereins Hamburg sind weniger als 30 Prozent der Blinden in Deutschland auf dem ersten Arbeitsmarkt beschäftigt. Etwas über 70 Prozent der Blinden hingegen suchen nach Arbeit, sind frühverrentet oder arbeiten in einer speziellen Behinderteneinrichtung. Dass viele Menschen mit einer Behinderung auf dem Arbeitsmarkt als Menschen zweiter Klasse betrachtet werden, musste auch Christian am eigenen Leib erfahren. „Wir müssen einfach weg von dieser Defizit-geleiteten Arbeitsverteilung und Entscheidungen eher auf Basis der Stärken von beeinträchtigten Menschen treffen“, fordert er. „Ich hoffe einfach, dass es irgendwann Normalität wird, dass Behinderte im Alltag und im Arbeitsleben vollständig akzeptiert werden! Darum liebe ich es auch, ins Stadion zu gehen.“ Da sind alle gleich und teilen dieselbe Leidenschaft für den Fußball!“
Die 25 und die 10 haben dieselbe Frisur
Nach dem Essen geht es zum Stadion. Braunschweig spielt heute gegen Münster. In der eng gequetschten Straßenbahn reflektiert er begeistert seine Kindheit, als er noch Fußball spielen und andere Sachen machen konnte. Auch mit maximal zehn Prozent Sehkraft hat Christian damals eine verhältnismäßig normale Kindheit führen können. „Ich habe denselben Scheiß gemacht, den andere Kinder auch gemacht haben“, erzählt er rückblickend. „Der Moment, als das für mich als erstes in Erscheinung getreten ist, war als ich mit elf Jahren meinen Schwerbehindertenausweis bekommen habe. Das war dann quasi eine Kennzeichnung dafür, dass ich da halt was hatte.“ Am Stadion angekommen holt Christian seinen Langstock aus der Tasche. „Bei großen Menschenmassen passe ich lieber auf, wo ich lang gehe“, erklärt er, während er sich mit der Spitze seines Stockes durch das Gewusel der Fußballfans pendelt. „Hallo Herr Draheim!“, begrüßt ihn die Platzanweiserin. Auf den speziell für sehbehinderte Menschen eingerichteten Plätzen angekommen, schildert er, wie es ist, ein Fußballspiel zu erleben. Mit Hilfe von Kopfhörern bekommen Sehbehinderte das Spiel von einem Sehbehindertenreporter bis ins kleinste Detail beschrieben.
Ein Pfiff ertönt und das Spiel geht los. Christian setzt sich die Kopfhörer auf. Es ist laut und Fangesänge schallen über die Ränge. Ab und zu kriegt er ein paar Tropfen Bier ab, die ein aufgeregter Fan in seinem Gebrüll über die Menge verteilt. Er schaut sich verwundert um und lacht schließlich. „Ich liebe einfach diese Atmosphäre hier, auch wenn ich kaum was erkennen kann!“, sagt er aufgeregt. Plötzlich fällt ein Tor. Die Menge tobt und Christian ist mittendrin. Während das Geschehen voranschreitet, schildert er, wie der Blindenreporter das Spiel kommentiert. „Er hat grade gesagt, dass die Nummer 25 und die Nummer 10 dieselbe Frisur haben“, lacht er amüsiert. Damit sorgen die Reporter dafür, dass auch Sehbehinderte sich das Spiel vor ihrem geistigen Auge klar vorstellen können. In der letzten Minute fällt schließlich noch ein Tor für Eintracht. Wenigstens Unentschieden. Teils verärgert über vertane Chancen und angeregt durch den letzten Hoffnungsschimmer vom Klassenerhalt, kämpft sich Christian durch die unzähligen Menschen zurück zur Straßenbahn, die in Richtung Innenstadt fährt. „Du solltest öfters die Begleitperson spielen!“, sagt er schließlich lobend zu mir.
„Zwischen den Welten“
„Lass uns doch spazieren gehen! Es ist so schönes Wetter und ich möchte noch ein bisschen die Bäume und Vögel beobachten“, schlägt Christian vor. Es ist warm und das Licht passt perfekt, um ein paar Fotos zu schießen. „Ich habe extra meine Kamera mitgenommen! Dann können wir ein bisschen knipsen!“ Die Spitze des Langstocks klackert über das Kopfsteinpflaster des Burgplatzes. Dann klappt er seinen Stock ein und zückt schließlich aufgeregt seine Kamera. Ein skurriles Bild. Die Blicke der vorbeispazierenden Passanten wechseln sichtlich innerhalb weniger Sekunden von interessiert und leicht bedauernd auf verdutzt. Man sieht förmlich, wie die Fragezeichen in den Augen größer und größer werden. Ist das nicht etwas skurril? „Klar ist das verrückt, wenn ich meinen Stock einklappe, um dann mit der Kamera durch die Gegend zu laufen. Aber den Sehrest, der mir gerade noch bleibt, möchte ich einfach noch nutzen, um ein paar schöne Momente in einer besonderen Form festzuhalten.“
Mit einem Behinderungsgrad von 100 ist Christian nach dem Sozialgesetz als Schwerstbehindert eingestuft. Diese Einstufung setzt sich aus der Sehschärfe beider Augen und dem Sichtfeld von unter 30 Grad zusammen. Durch den Grad der Behinderung von 100 kommt dann schließlich die Einstufung von Gehbehindert (G), auf eine Begleitperson angewiesen Person (B) und Hilflos (H) zustande. Durch seine partielle Blindheit steht auch noch der Vermerk Bl für Blind auf seinem Schwerbehindertenausweis. „Manchmal fühle ich mich schon so, als ob ich zwischen zwei Welten leben würde.“ Inzwischen sind wir am bronzenen Modell des Burgplatzes ankommen. „Von Geburtsblinden wurde ich einmal Amateurblinder genannt und von Normal-Sehenden wurde ich auch schon als rufschädigend für das Klientel der Blinden bezeichnet“, sagt er und streicht mit seinen Fingern über die Brailleschrift des Modells. Es ist spät geworden. Die Stimmung ist etwas gedrückt und die Wärme der Sonne, die längst hinter den Fachwerkdächern der Stadt verschwunden ist, hat sich in eine dunkle Kälte verwandelt.
„Ich denke viele Menschen haben einfach Berührungsängste mit Behinderten oder Sehbehinderten. Manche können oder wollen es sich wahrscheinlich gar nicht vorstellen, wie es ist, blind zu sein. Da kommen solche Äußerungen wohl einfach zustande …“, sagt er.
Es sei nicht immer ganz leicht, wenn man nicht sehen kann. „Aber das macht nichts. Wer nicht kämpft, hat schließlich schon verloren, stimmt‘s?“