Zwischen Vergessen und Erinnern

Bis zum Jahr 2050 wird sich die Anzahl der Demenzkranken verdoppeln. Wie bestreiten von der Volkskrankheit betroffene Menschen ihren Alltag – und wie ist es für die Angehörigen? Campus38 hat einen Betroffenen besucht.

Nach vielen Sprüngen im Berufsleben trieb es ihn letztendlich zur Familie nach Helmstedt, in das kleine Dorf Büddenstedt. Das umzäunte Grundstück mit dem rotgeziegelten Haus und einem kleinen Garten rundherum wirkt sehr gepflegt. Ein kahler alter, aber gut genährter Mann tritt der Besucherin aus dem kleinen Anbau der leerstehenden Garage entgegen und lächelt. Dabei kommt die kleine Lücke zwischen den Schneidezähnen zum Vorschein. Zur Begrüßung wird man, trotz seinen 78 Jahren, sehr kräftig gedrückt. Sein grün-kariertes Hemd mit den braunen Pantoffeln erwecken den Eindruck, es wären mehr als sechs Grad draußen.

Horst Peks ist demenzkrank wie rund 1,5 Millionen Menschen in Deutschland. Durch die Alterung der Bevölkerung wird sich die Zahl der Betroffenen bis zum Jahr 2015 auf rund drei Millionen verdoppeln.

In der Stube des kalten Garagenanbaus zieht Peks die Jalousien auf und schaltet ein Wärmegerät an. Hier hält er sich am liebsten auf. Mitten im Raum sitzt er auf einem quietsch-grünen Computerstuhl. Von dort aus erzählt er gern seine Lebensgeschichte. Mit dem Lineal auf einer Weltkugel im Eckregal zeigt er, wie er von Ostpreußen über Kiel nach Helmstedt kam. Das Bett, was er noch hochklappen konnte, bevor er sich das Rückgrat anbrach, hat er selbst gebaut. Genau wie fast den ganzen Rest im kleinen Zimmer. Überall befinden sich Kabel und zusammengebastelte technische Geräte: Batterien, Computerteile und Werkzeuge. Das notwendige technische Wissen erwarb er durch seine Lizenz als Radioamateur von 1973 und die Motivation, einfach keinen Schrott herumliegen zu haben, sagt er: „Es kann manchmal auch im Chaos enden, wenn ich heute nicht mehr weiß, woran ich gestern Abend gearbeitet habe.“

Das Kurzzeitgedächtnis geht zuerst

Auch ein Blutdruckmessgerät und eine Stützkorsage für seinen Rücken befinden sich immer nah bei ihm. An den Wänden stehen Schränke mit vielen Erinnerungen. Behängt von zahlreichen Reisen, Bilder seines Enkelkindes und vergangenen Zeiten bei der Marine. „Das sind meine Erinnerungsstützen“, sagt er dazu. Horst beschreibt seine Vergangenheit als „kleine Geschichte und sehr kompliziert“, da er zwischen den Berufen immer wieder wechselte und somit auch die Orte, in denen er lebte. Vom Maler zur seemännischen Ausbildung bis hin zu seiner eigenen GmbH. Auf einer Reise lernte Peks seine Frau kennen. Gestern wusste er noch den Namen des Tanzlokals, in dem er seine Frau traf. Heute kommt er nicht drauf.

An lebenseinschneidende Sachen erinnert er sich allerdings noch genau. Horst Peks kann viele Dialoge mit Kollegen oder Freunden, noch wortgenau wiedergeben. Dafür vergesse er einfache Dinge: „Über Jahre habe ich gerne Milchkaffe getrunken und gestern wusste ich nicht mehr, was Milchkaffee überhaupt ist.“ Das musste ihm seine Tochter erklären. Manchmal ist die Demenz bei einem Menschen sofort und manchmal weniger sichtbar. Das Hauptmerkmal einer Demenz ist eine Verschlechterung der geistigen Fähigkeiten, bei der zuerst nur das Kurzzeitgedächtnis betroffen ist. Nach weiteren Beeinträchtigungen und Problemen mit der Orientierung, der Sprache und einer Veränderung der Persönlichkeit wird schlussendlich auch das Langzeitgedächtnis betroffen. Damit verlieren die Erkrankten nahezu alle erlernten Fertigkeiten und Fähigkeiten.

Vor kurzem hatte er wieder plötzliche Zuckungen und Schmerzen, „von den Zehenspitzen bis zu den Haarwurzeln und weiter“. Neben üblichen Krankheitsbildern in seinem Alter wie Bluthochdruck, hat Peks aufgrund einer kaputten Herzklappe schon eine Herz-OP hinter sich. Er knüpft sein Hemd etwas auf, zeigt auf eine etwa 20 Zentimeter lange Narbe. Dabei kann er lachend sagen: „Ich habe sogar eine Vene vom Schwein in mir.“ Die zahlreichen Medikamente, die er pro Tag nehmen muss, befinden sich in der Obhut seiner Tochter. Sie lebt gemeinsam mit ihrem Mann auch im Haus. Beide sind krebskrank. „Manchmal fühle ich mich schon als Last“, gibt Peks zu. Seine Tochter hat sich darum gekümmert, dass er von der Krankenkasse geprüft wird und somit den Pflegegrad 3 erhielt. Nur dadurch muss er nicht in ein Pflegeheim. Die bürokratische Arbeit und das Rumschlagen mit der Krankenkasse sei als demenzkranke Person allein gar nicht zu bewältigen, sagt die Tochter.

Die Persönlichkeit verändert sich

Die Demenz merke man besonders in Momenten, in denen ihr Vater verwirrt in der Tür stehe, sagt seine Tochter: „Er weiß entweder nicht mehr, was er wollte oder er denkt, er hätte einen Termin, der schon vor Wochen war.“ Mittags trifft sich die Familie zum Kaffee trinken und Plaudern am Tisch. Gedächtnislücken oder Verwirrung von Horst Peks schaffen nicht selten den Anlass für kleine Konflikte. Dabei sei es vor allem mit seiner Sturheit schwer. Den Themen Kirche, Amerika und Fernsehen versuchen alle am Tisch schnell auszuweichen, denn Horst hält diese allesamt für „Gauner und Halunken“ oder für „pure Manipulation“. Dabei duldet er keine Widerrede. Seine Tochter macht sich besonders Sorgen darüber, dass sein Umkreis immer kleiner wird. Verlässt er mal das Haus, ist es nur noch der Garten, in dem er sich bewegt. „Die Gesellschaft hat ihren Schritt und ich meinen“, sagt er dazu. Für die Zukunft wünscht er sich: „Weniger Schmerzen und Krankenhausaufenthalte wären schön.“ Glaubt man seiner Familie, wird das ein Wunsch bleiben.

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