Bleiweste umlegen. Kopfhörer über die Ohren ziehen. Virtual-Reality-Brille aufsetzen. Nun kann es los gehen. Bloß durch bunte, dünne Stellwände abgetrennt, von an uns vorbei hetzenden Studierenden, sitzen wir in einer intimen Gruppe von acht Teilnehmenden in U-Form aneinandergereiht. Und doch jeder für sich. Die Blicke voneinander abgewandt. Jeder schaut auf einen anderen Fleck der Stellwand.
„Wir haben über 200 Anfragen, die wir in nächster Zeit abarbeiten werden.“, freut sich Alexander Hessel, heutiger Projektbegleiter, über den Erfolg des Stiftungsprojektes. Seit der Einführung am 21. Oktober 2019 in Berlin, konnte die virtuelle Depressionserfahrung zuvor erst an zwei weiteren Standorten durchgeführt werden. Was für eine Ehre also, dass hier, am Campus in Salzgitter eine derart frühe Teilnahme möglich ist. Weltweit gibt es über 300 Millionen Betroffene. Allein in Deutschland nehmen sich jährlich rund 10.000 Menschen das Leben. Grund genug, die Möglichkeit zu nutzen und die Gedankenwelt eines Betroffenen nachzufühlen. So empfindet auch Sarah, Studentin im dritten Semester. Die Hände unter ihre Oberschenkel legend, wartet sie, bis das Virtual-Reality-Erlebnis beginnt. Ungewiss, was auf sie zukommt.
Zunächst ist die Umkleidekabine der Nationalelf zu sehen. Alles sieht greifbar und real aus. Rechts, links und vorne sind die Sitzbänke der Mitspieler. Darüber befinden sich jeweils Trikots und Umkleideregale. In der Mitte ein Tisch, daneben ein Mülleimer. Alles ist vor dem Spiel noch aufgeräumt und sauber. „Ich bin so müde“, „Ich weiß nicht, wie ich gleich spielen soll“, „Ich habe solche Angst“. Gefangen im Moment und konzentrierend auf die ertönenden Gedanken einer dumpfen, männlichen Stimme, sind keine Hintergrundgeräusche mehr zu hören. Vollkommen isoliert von der Hochschulatmosphäre ist das Umfeld nun ein komplett anderes.
Mit Beginn der Animation taucht jeder für sich in die Welt einer depressiven Person ein. Erlebt Gedanken in ähnlicher Weise, wie sie Robert Enke erlebt hat, bevor er sich am 10. November 2009 das Leben nahm. Er befand sich in einer für ihn unaushaltbaren Lebenssituation. Im Jahr 2006 starb seine 2-jährige Tochter Lara. Ein essentieller Auslöser für die sinkende Lebensfreude des langjährigen Nationaltorwarts. Plötzlich erscheint ein dunkler Tunnel. Er wirkt endlos. Ganz hinten ist ein kleines Licht, aber es ist unerreichbar. Die steinigen Wände sind dicht. Es fühlt sich beengend an. Sarah schaut sich um und sucht nach einem Ausweg. Vergebens. Sie fühlt Bedrücktheit und Schwere. Vor allem auf ihren Schultern ist enorme Last.
Für Alexander Hessel ist es stets spannend zuzusehen, wie Teilnehmende auf die Erfahrung reagieren. Der 31-jährige Psychologie-Student saß während der Programmierungsphase schon einige Male selbst im Tunnel und war bei den vorherigen Präsentationsdurchläufen dabei. Er teilt seinen Eindruck: „das Projekt ist eine innovative Möglichkeit, um zu erfahren, wie sich einige Facetten depressiver Gedanken anfühlen.“ Die negativen Emotionen werden ständig wiederholt. Nun durch einen weiß aufleuchtenden Schriftzug weiter in ihrer Wirkung verstärkt. „Ich bin ein Versager, nichts an mir ist liebenswert“, diese Aussage brennt sich besonders in Sarahs Kopf ein. Sie erinnert sich an bestimmte Situationen und schlechte Tage. Jeder kennt wohl Momente des Selbstzweifelns. Wie schlimm muss es aber sein, diesen ununterbrochen ausgesetzt zu sein, geht es Sarah durch den Kopf. Der Tunnel erscheint ihr immer enger und enger zu werden. Es ist kaum auszuhalten.
Es geht zurück in die Kabine. Rechts, links und vorne sind wieder die Sitzbänke der Mitspieler. Die zu Beginn wahrnehmbare Ordnung ist nach dem Spiel nicht mehr erhalten. Erleichtert äußern sich Kopfstimmen, nicht aufgefallen zu sein. Die vermittelte Stimmung ist jedoch am Tiefpunkt: „Ich spür nichts mehr. Keine Freude. Keine Nervosität. Das Ergebnis ist mir völlig egal.“
Das Ende der Depressions-Erfahrung fühlt sich befreiend an. Die mittlerweile unaushaltbar schwer gewordene Weste kann endlich abgelegt werden. Die Brille bleibt zunächst aufgesetzt. Nun sind andere Leute zu sehen, welche verteilt in Stuhlreihen vor einer Leinwand sitzen. Das Geschehen spielt sich zwar immer noch virtuell ab, aber es fühlt sich gut an, Licht, eine Handvoll Menschen und knallige Farbe zu sehen. Auf der Leinwand beginnt eine Bilder-Präsentation von glücklichen Familien und Landschaften. So erscheint unter anderem ein sorgenfrei durchs Feld laufendes Kind.
Es ist beruhigend zuzusehen und daher löst sich auch die Anspannung der Schultern und des ganzen Körpers. Schließlich setzen wir die Brille und Kopfhörer ab und beenden mit einer entspannteren Grundstimmung das Projekt.