(Keine) Angst vor dem Blaulicht

Spätestens seit dem Tod von George Floyd durch Polizeigewalt ist Racial Profiling den meisten ein Begriff. Doch wie ist die Situation in Deutschland?

Biplab Basu sitzt mit seiner Tochter im Zug von Wien nach Berlin, als ihn zwei Polizisten auffordern, sich auszuweisen. Obwohl er sich unfair behandelt fühlt, bleibt er ruhig und folgt den Anweisungen der Beamten. Zwei Jahre ist dieser Vorfall nun her, doch bis heute ist sich Biplab Basu sicher, dass er nur wegen seiner Hautfarbe kontrolliert wurde. Beweisen kann er dies bisher nicht. Das Vorgehen der Polizisten bezeichnet man als „verdachtsunabhängige Personenkontrollen“, die durch Paragraf 22 (Abs. 1a) im Bundespolizeigesetz (BPolG) geregelt werden.

§22 Abs. 1a (BPolG) bestimmt, dass die Polizei in Zügen, Bahnhöfen und Flughäfen jede Person kontrollieren darf, wenn auf Grund von „Lageerkenntnissen“ oder „grenzpolizeilicher Erfahrung“ eine unerlaubte Einreise anzunehmen ist.

Racial Profiling in Deutschland

Als Racial Profiling – oder auch Ethnical Profiling – werden polizeiliche Handlungen, wie beispielsweise Personenkontrollen oder Überwachungen bezeichnet, die nur aufgrund des physischen Erscheinungsbildes oder der ethnischen Merkmale einer Person vollzogen werden. Der Begriff stammt aus den USA und die Kontrollpraxis reicht weit bis in die Geschichte der Versklavung zurück. In den USA wird diese Art von Rassismus bereits von Institutionen wie Gerichten als Problem anerkannt und es wurden rechtliche Regelungen festgelegt, um dagegen vorzugehen. Wirft man einen Blick nach Deutschland, fällt jedoch auf, dass der Begriff Racial Profiling rechtlich nicht definiert wird. Außerdem sehen einige PolitikerInnen, wie der ehemalige Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU), „keinen Bedarf“ für eine Studie zu rassistischen Polizeikontrollen, da Rassismus innerhalb der Polizei ohnehin verboten sei und es folglich keinen gäbe. Außerdem handle es sich nicht um ein strukturelles Problem. Aber stimmt das? Glaubt man den Worten Seehofers, ist die Antwort eindeutig. Für seine Äußerungen erntete er unter anderem von der Polizei selbst viel Kritik, da dies den Eindruck mache, die Polizei habe etwas zu verbergen. Ein Blick auf die Gesetzeslage bestätigt ein Verbot des Racial Profilings, denn verdachtsunabhängige Kontrollen allein aufgrund eines phänotypischen Erscheinungsbildes verstoßen gegen das Grundgesetz (Art. 3 Abs. 3 GG). Außerdem verletzen sie das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) sowie das Verbot der rassistischen Diskriminierung.

Was darf die Polizei?

Jedoch ermöglichen die Paragrafen 22 und 23 im Bundespolizeigesetz (BPolG) den PolizistInnen Spielräume bei der Kontrolle von Personen. Bei verdachtsunabhängigen Personenkontrollen in Zügen, Bahnhöfen, Flughäfen oder Grenzgebieten gehe es vor allem darum, illegale Einwanderung zu verhindern. Auch hierbei darf die Auswahl der kontrollierten Personen nicht aufgrund diskriminierender Merkmale wie der Hautfarbe getroffen werden. KritikerInnen bezweifeln jedoch, dass dies immer befolgt werde und werfen der Polizei hier besonders häufig die Praxis des Racial Profilings vor. Das Deutsche Institut für Menschenrechte führte 2020 sogar eine Studie zum Thema Racial Profiling durch, in der Paragraf 22 Absatz 1a des BPolG – und somit die verdachtsunabhängigen Kontrollen in Zügen – stark kritisiert und die Prüfung polizeilicher Praxis gefordert wurden.

Die Polizei erklärt sich

Auch Oliver Stepien sind diese Vorwürfe bekannt. Der Präsident des Polizeipräsidiums des Landes Brandenburg verweist jedoch darauf, dass äußere Merkmale wie beispielsweise die Hautfarbe nicht als alleiniges Merkmal zur Personenkontrolle dienen dürfen. Bei einer zulässigen Personenkontrolle müssen weitere Tatbestandsmerkmale der Eingriffsbefugnis erfüllt werden, welche durch die BeamtInnen festgestellt werden. „Dazu gehört zum Beispiel bei verdachtsunabhängigen Kontrollen im Bereich der Grenze, dass die Beamten entsprechende Lageinformationen haben, die auch dazu passen“, so Stepien. Weitere Faktoren seien beispielsweise aktuelle Informationen sowie grenzpolizeiliche Erfahrungen. Trotzdem schließt Stepien nicht aus, dass Rassismus ein Problem innerhalb der Polizei sein kann. Er sieht die Polizei als einen Ausschnitt der Gesellschaft: „Es wäre wirklichkeitsfremd zu glauben, dass es so ein Problem nicht geben kann.“ Dennoch ist er fest davon überzeugt, dass es sich hierbei nur um Einzelfälle handelt. Diese Fälle wolle und könne man jedoch nicht hinnehmen, da sie gegebenenfalls gegen das Neutralitätsgebot oder auch andere Gebote der Polizei verstoßen oder gar die Grenze zur Strafbarkeit überschreiten, so Stepien. „Wir sind konsequent, strafrechtlich ohnehin, aber auch darüber hinaus werden wir als Behörden tätig.“ Kommt es zu so einem Fall, werde zuerst festgestellt, inwiefern der/die betroffene PolizistIn involviert ist. Anschließend droht ein Disziplinarverfahren oder eine Anklage durch die Staatsanwaltschaft. Auf die Frage, ob eine Studie zum Thema Racial Profiling nötig sei, entgegnet Stepien lediglich, dass eine abschließende Beurteilung nicht der Polizei obliege, da sie Bestandteil beziehungsweise Untersuchungsgegenstand der Studie wäre: „Und, soweit ich weiß, gibt es auch einen Auftrag für eine Studie an die deutsche Hochschule der Polizei, wo es durchaus auch um Werthaltung der Polizeibeamten geht.“ Tatsächlich wurde diese Studie von Seehofer persönlich in Auftrag gegeben, nachdem die Opposition über Monate Druck ausübte. Die Studie behandelt jedoch ein sehr breites Themenfeld und ist nicht konkret auf Racial Profiling ausgelegt. Außerdem sind erste Ergebnisse erst in 2024 zu erwarten.

Racial Profiling im Alltag

Doch wie sieht tatsächlich im Alltag aus? Biplab Basu, der sich als Opfer polizeilicher Maßnahmen sieht, arbeitet bereits seit 35 Jahren im Opferschutz. Vor fast 20 Jahren rief der heute 69-Jährige zusammen mit anderen AktivistInnen die Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt (KOP) in Berlin ins Leben. Die KOP sammelt Fälle von Racial Profiling, leistet Aufklärungs- und Öffentlichkeitsarbeit und bietet Betroffenen psychologische und juristische Betreuung. Durch Spenden werden so beispielsweise Opfer vor Gericht unterstützt.
Basu selbst kämpft bereits seit zwei Jahren vor Gericht. Er brachte seinen Fall bis vor den europäischen Gerichtshof. Ein Urteil fiel bis heute nicht. Ihm ist wichtig, auf das Problem des Racial Profilings aufmerksam zu machen und dass der Staat es als solches anerkenne. An die Notwendigkeit einer Studie glaubt Biplab Basu trotz allem nicht. Der Grund dafür sei, dass er rassistische Polizeigewalt als ein institutionelles Problem sehe. Die Polizei führe lediglich Befehle aus. Es bräuchte mehr unabhängige Beschwerdestellen und Staatsanwaltschaften und sogenannten kriminalbelasteten Orte (§23 Abs. 2 BPolG), wie beispielsweise den Görlitzer Park oder den Alexanderplatz in Berlin, an denen verdachtslose Kontrollen erlaubt sind, sollten abgeschafft werden. Außerdem wünscht sich Basu, dass PolizistInnen bereits in der Ausbildung im Bereich Racial Profiling geschult werden. Und auch die Gesellschaft müsse laut Basu ihr Handeln verändern: „Unsere Gesellschaft muss kritischer werden. Kindern wird früh beigebracht, dass sie der Polizei immer glauben sollen, aber das ist falsch. Man darf staatlichen Instituten nicht einfach blind vertrauen, sondern muss ihr Handeln hinterfragen.“ Außerdem wünscht er sich mehr Engagement von Nichtbetroffenen: „Empathie ist sehr wichtig und wird von den Betroffenen auf jeden Fall positiv wahrgenommen!“
Aber welche Folgen hat Racial Profiling, neben der öffentlichen Diskriminierung und der Scham für die Opfer einer solchen Kontrolle? Viele Betroffene haben noch Jahre später Probleme mit den Auswirkungen. So sind neben einem verschärften Misstrauen gegenüber der Polizei auch psychische Folgen  möglich. „Die Opfer fühlen sich unsicher und nicht dazugehörig. Sie haben das Gefühl: ‚Das ist nicht mein Land‘“, so Basu. Für viele, vor allem junge Männer, sei die Angst vor dem Blaulicht schon zur Gewohnheit geworden.

§23 Abs. 2 (BPolG) bestimmt, dass die Identität einer Person, die sich in „besonders gefährdeten Objekten oder in unmittelbarer Nähe“ aufhält, kontrolliert werden darf.

Ein Betroffener berichtet

Einer dieser jungen Männer ist Andru König. Der 21-jährige Salzgitteraner ist in Deutschland geboren und aufgewachsen. Sein Vater stammt aus Nigeria, seine Mutter ist Deutsche. Andru führt das, was die meisten wohl als erfolgreiches und engagiertes Leben bezeichnen würden. Er hat seine eigene Show bei Radio Okerwelle, gründete mit Freunden ein eigenes Footballteam und arbeitet als Sprecher für das Jugendparlament Salzgitter. Doch trotz alledem stößt er immer wieder auf Vorurteile. Bereits im Kindesalter lernt er, dass er von anderen aufgrund seiner Hautfarbe anders behandelt wird. Doch PolizistInnen sind da noch HeldInnen für ihn: „Als Kind wollte ich selbst immer Polizist werden!“ Sein Bild von der Polizei als Freund und Helfer änderte sich im Laufe der Zeit. Häufig macht er Erfahrungen, die ihm das Gefühl geben, die PolizistInnen würden ihm gegenüber wegen seines Aussehens aggressiver und unfreundlicher sein. Er selbst wisse nicht, ob die PolizistInnen dabei wirklich rassistische Beweggründe hatten, „Aber ich finde es schlimm genug, dass ich in dem Moment Angst hatte, aufgrund meiner Hautfarbe schlechter behandelt zu werden. Dieses Gefühl habe ich jedes Mal, wenn ich Blaulicht sehe“, sagt Andru Trotz seiner schlechten Erfahrungen warnt er davor, alle PolizistInnen über einen Kamm zu scheren: „Die Polizei ist auch nur eine Gruppe von Menschen, mit all ihren Fehlern. Es gibt schlechte Polizisten, aber auch solche, die wirklich helfen und Gutes bewirken wollen.“ Er hofft darauf, dass die Polizei sich mit dem Thema Racial Profiling stärker auseinandersetzt und sich selbst auch wieder mehr als Freund und Helfer sieht. „Vorurteile hat jeder Mensch und das wird sich auch nie ändern. Aber wie man damit umgeht – darauf kommt es an.“ Und auch die Gesellschaft müsse aus seiner Sicht aktiver werden: „Jeder von uns sollte sich aktiv in seinem Umfeld engagieren und Sachen nicht einfach hinnehmen und akzeptieren.“
Doch nicht alle teilen Andru Königs Ansichten. Einige PolitikerInnen, beispielweise aus der AfD, behaupten immer wieder, dass Menschen mit Migrationshintergrund besonders häufig kriminell werden. Wirft man einen Blick auf die Zahlen, kann das jedoch schnell widerlegt werden. Die Kriminalstatistik des Bundesministeriums des Inneren aus dem Jahr 2019 zeigt zwar, dass einige Straftaten, wie beispielsweise Taschendiebstahl, überwiegend von „Nichtdeutschen“ begangen werden, dies kann aber in keinerlei Verbindung mit der Hautfarbe oder Nationalität gebracht werden, sondern lässt sich eher auf soziale Missstände wie Armut zurückführen. Das bestätigt eine Statistik des Statistischen Bundesamtes zur Armutsgefährdung aus dem Jahr 2019. Diese stellt deutlich dar, dass Menschen mit Migrationshintergrund oder ohne deutsche Staatsbürgerschaft besonders bedroht von Armut sind.

Blick in die Zukunft

Zu der Frage, wie Deutschland künftig mit Racial Profiling umgeht, vertreten die verschiedenen Parteien unterschiedliche Positionen. Die CDU/CSU wird wohl auch künftig hinter der Polizei stehen. Sie hatte sich bereits in der Vergangenheit immer wieder für die Maßnahmen der Polizei ausgesprochen und finanzielle Förderungen zugesichert. In einem Spot Anfang des Jahres warb die CDU außerdem mit einem harten Vorgehen gegen Clankriminalität. Die Grünen hingegen kündigten in ihrem Wahlprogramm bereits an, dass sie mehr unabhängige Beschwerdestellen für Betroffene von Rassismus schaffen und unabhängige wissenschaftliche Studien gegen Institutionen wie die Polizei durchführen wollen. Trotzdem bleiben viele Fragen offen.  Racial Profiling ist in Deutschland noch viel zu unerforscht, um klare Schlüsse zu ziehen. Vielleicht ist gerade deswegen eine unabhängige Studie zu dem Thema so wichtig. Die von Seehofer in Auftrag gegebene Studie ist aufgrund mangelnder Distanz kritisch zu betrachten, da die Polizei die Studie selbst durchführt. Außerdem sei das oberste Ziel der Studie nicht etwa die Untersuchung rassistischer Polizeigewalt, sondern die Unterstützung der Polizei: „Ich möchte wissen, wie und an welcher Stelle wir unsere Polizistinnen und Polizisten im Alltag noch besser unterstützen können“, so Seehofer. Fraglich ist auch die Forderung der AktivistInnen, die verdachtsunabhängigen Kontrollen in Zügen (§22 Abs. 1a BPolG) zu verbieten. Es ist keine Lösung, Kontrollen komplett zu vermeiden, nur um jemanden nicht zu verletzten. In einem Punkt sind sich aber alle einig: Niemand sollte Angst haben müssen, wenn er/sie Blaulicht sieht, nur weil er/sie einem phänotypischen Erscheinungsbild entspricht. Rassismus ist für viele Menschen unserer Gesellschaft nicht bloß Theorie, sondern traurige Lebenswirklichkeit. Und diesen Rassismus können sie auch durch die Polizei erfahren. Um an diesem Problem zu arbeiten, sollten daher weitere unabhängige Beschwerdestellen eingerichtet werden. Der Begriff Racial Profiling muss rechtlich definiert werden und mit Betroffenen sollten wir uns solidarisieren.

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