Auf Tauchgang in der Tonne

Hanna containert in den Abfällen der Supermärkte nach noch verwendbaren Lebensmitteln. Nicht aus Geldsorgen oder Abenteuergeist, sondern um ein Zeichen gegen die Wegwerfgesellschaft zu setzen.

Hanna, 20 Jahre alt, studiert und wohnt in Kleve, einer kleinen Stadt nahe der holländischen Grenze. Hanna containert in den Mülltonnen der Supermärkte, nicht um Geld zu sparen, sondern aus Protest gegen die Lebensmittelverschwendung. Mittlerweile containert die Studentin seit anderthalb Jahren, seit sie von Zuhause in ihre WG gezogen ist. „Ich habe schon öfter vom Containern gehört, bevor ich angefangen habe zu studieren“, berichtet die Zwanzigjährige. Getraut habe sie es sich damals in ihrer Heimatstadt aber nicht. Seit sie davon Gehör bekam, dass mehrere Studenten regelmäßig in Kleve containern gehen, habe sie sich gemeinsam mit Freunden auf den Weg gemacht. Nach anfänglicher Aufregung sei es überraschend einfach gewesen.

Hanna und ihre Sympathisanten machen sich nach Ladenschluss der Supermärkte auf Beutejagd. Ausgestattet mit einigen Jutebeuteln fahren sie ihre gewohnten Strecken ab. Wo die Container stehen, wissen sie ganz genau. Für sie ein allwöchentliches Ritual, jedes Mal aufs Neue darauf gespannt, was für Produkte sie in den Containern finden.

„Mal hat man Glück, mal hat man Pech“

Die Ausbeute des Containers fällt bei jedem Tauchgang unterschiedlich aus. „Mal hat man Glück, mal hat man Pech, so ist das eben“, äußert sich Hanna. „Heute ist Samstag, meistens ein guter Zeitpunkt zum Containern, da die Produkte oft zum Wochenende auslaufen. Aber Samstagnacht ist natürlich auch viel los.“ Sie stellen ihre Fahrräder ab. Hanna öffnet den Container. Randvoll. Mit ihrem Handy leuchtet sie in die Tiefe. Sie schiebt ein paar verschimmelte Karotten zur Seite. Ekeln tut sich Hanna nicht. „Am Anfang habe ich noch Handschuhe getragen, aber jetzt greife ich einfach so in den Müll.“ Sie lacht. Ein Netz Orangen ist heute ihr erster Fund. „Eine Orange aus dem Netz schimmelt. Die sortiere ich einfach aus. Die anderen Früchte sind schließlich noch gut.“ Von verpackter Paprika, über Salat und Frühlingszwiebeln, hin zu Rahmsauce zum Kochen, all diese Lebensmittel findet Hanna in dem Container. „Das ist doch mal ein guter Fang. So viel finden wir normalerweise nicht.“ Heute waren Hanna und ihre Freunde vermutlich die ersten Mülltaucher an diesem Container. Ihre persönlichen Highlights des Abends: Pudding und Sushi. „Warum diese Sachen weggeworfen werden? Ich habe keine Ahnung“.

Lebensmittel die weggeworfen, aber noch genießbar sind, werden aus den Containern und Mülltonnen der Supermärkte geholt. Als „Containern“, „Dumpstern“ oder „Mülltauchen“ wird diese Praxis beschrieben. Ursprünglich stammt die Idee aus den USA. Die sogenannten „Freeganer“ stehen dem Massenkonsum kritisch gegenüber. Die Anhänger des Freeganismus (‚frei und vegan‘) versuchen sich ausschließlich durch weggeworfene oder geschenkt bekomme Lebensmittel zu ernähren. Hanna sieht sich nicht als Freeganerin an, da sie zusätzlich zum Containern regelmäßig einkaufen geht.

Die Motive für das Containern sind vielseitig

Die Beweggründe für das Containern variieren. Einige Mülltaucher containern aus reiner Not. Das Leben aus der Tonne spart Geld. Andere haben ihr monatliches Budget für diverse Ausgaben verplant und nutzen den finanziellen Vorteil des Containerns, nichts für Lebensmittel bezahlen zu müssen. Der Spaß an nächtlichen Aktionen bewege einige abenteuerlustige Menschen dazu, nachts loszuziehen. Vor allem der Reiz, nie zu wissen welche Lebensmittel in den Abfällen zu finden sind, macht es für viele Mülltaucher interessant. Einige containern vielmehr aus politischem Ansporn. Sie kaufen die Lebensmittel nicht im Supermarkt, um die Mehrwertsteuer zu umgehen und somit den Staat nicht zu unterstützen. Andere wollen mit dem Containern ein Zeichen gegen die Wegwerfgesellschaft setzen, der finanzielle Vorteil spiele dabei nur eine untergeordnete Rolle. Die Geringschätzung von Lebensmittel, der ignorante Umgang und infolgedessen die tägliche Lebensmittelverschwendung sind vor allem die ethischen Motive der Mülltaucher.

Hanna containert aus Prinzip. Sie wisse, dass die Supermärkte keine andere Wahl haben, als die abgelaufenen Lebensmittel aus dem Verkauf zu nehmen. „Einige spenden ja auch Dinge an die Tafel, allerdings ist es trotzdem noch ein zu großer Teil, der weggeworfen wird. Ich finde dagegen sollte man auf jeden Fall etwas tun.“

Die selbsternannte Lebensmittelretterin schäme sich nicht dafür, Lebensmittel aus den Containern zu holen. „Ich kann mir aus Produkten, die für den Müll bestimmt sind leckere Feinschmeckermahlzeiten kochen und auf der anderen Seite der Welt müssen Menschen hungern. Da stimmt doch etwas nicht.“ Hanna containert aus Überzeugung. Sie freue sich auch über den finanziellen Vorteil, durch das Containern monatlich Geld zu sparen.

„Ich gehe containern, weil ich es von den Supermärkten nicht richtig finde, so viel Essbares wegzuschmeißen. All diese Sachen sind noch einwandfrei und deshalb habe ich auch kein Problem damit, über so etwas wie ein Mindesthaltbarkeitsdatum hinwegzusehen“, äußert sich Hanna.

Die Rechtslage verbietet Containern

Rechtlich ist es verboten, was Hanna tut. Containern ist in Deutschland eine Straftat. Gemäß des Abfallfallrechts gehören die entsorgten Lebensmittel bis zum Abtransport den Supermärkten. Eine Strafanzeige sei jedoch nur eine Seltenheit. Containerer müssen dennoch mit einer strafrechtlichen Verfolgung und Verurteilung rechnen. Insbesondere, wenn die Container auf privatem Grundstück stehen. Sofern der Eigentümer Anklage erhebt, liegt der Tatbestand des Hausfriedensbruchs vor. Wird ein verschlossener Container aufgebrochen, so wird Sachbeschädigung begangen. Die Lebensmittelretter können sich in diesen Fällen wegen besonders schwerem Diebstahls strafbar machen.

„Beim Containern wurde ich noch nie erwischt, aber mittlerweile wurde ein riesengroßer, leicht zugänglicher Container, bei dem wir immer viel gefunden haben, abgeschafft. Der Supermarkt lagert den Müll jetzt in den Hallen, sodass wir nicht mehr darankommen“, äußert sich Hanna. Sie vermutet, dass das Containern einigen Supermärkten auffallen würde. In einigen Fällen würde es toleriert werden. Es gäbe aber auch viele Container, die mit einem Schloss verriegelt sind. „Wir brechen keine Schlösser auf, sondern nutzen den offenen Spalt, um an die Lebensmittel zu gelangen.“ Hanna und ihre Freunde gehen nur zu Containern, die öffentlich zugänglich sind, alles andere würde ein zu großes Risiko für sie darstellen.

Mittlerweile sind viele Studenten und mittelständische Bürger nachts unterwegs, um in den Mülltonnen der Supermärkte nach Lebensmitteln zu suchen. Scham oder Ekel spielen dabei schon längst keine Rolle mehr. Vor allem über Internetforen und Facebook-Gruppen unterhalten sich die Mülltaucher darüber, welche Container am besten zugänglich sind und wo es die beste Ausbeute gibt. Hinweise und Ratschläge zu Technik und Ausstattung werden hier ausgetauscht. Es kommt auch manchmal vor, dass das Essen geteilt wird, wenn ein Einzelner zu viel hat.

Supermärkte tragen weiterhin Verantwortung

Für die Supermärkte hat das nächtliche Treiben der Mülltaucher einige Folgen. Dabei ist es naheliegend: je mehr Lebensmittel containert werden, desto weniger werden im Handel verkauft. Ein wirtschaftlicher Aspekt ist hierbei, den Marktpreis stabil zu halten. Das Einkaufen von Lebensmittel erzeugt Nachfrage nach neuen Waren. Dieser Prozess wird durch das Containern gestört. Deshalb versuchen die Supermarktbetreiber das Mülltauchen zu unterbinden, sodass die Nachfrage nach Produkten aufrecht erhalten bleibt.

„Nachher heißt es dann, beim Rewe schmarotzen sie aus den Mülltonnen, da muss keiner mehr einkaufen gehen, da bekommt man alles gratis aus der Tonne“, äußert sich Thorsten Marcordes. Die Supermärkte wollen die Lebensmittel, die sonst im Handel verkauft werden, nicht an jedermann verschenken.

Als Prävention gegen das Mülltauchen verriegeln bereits viele Supermärkte die Container mit einem Schloss. Es könnten sich giftige und verschimmelte Lebensmittel in den Containern befinden. Das Risiko für die Supermärkte, sich zivilrechtlich strafbar zu machen, sei zu hoch. Thorsten Marcordes macht auf diese Problematik aufmerksam. „Das Containern stillschweigend zu dulden ist schwierig, vor allem in der Sommerzeit, wenn die Kühlkette der Lebensmittel unterbrochen wurde. Sobald eine Person verdorbenen Joghurt von Rewe isst, sind wir da als Verantwortliche mit drin.“ Marcordes bestätigt, dass die Container der Rewe-Filialen mit Schlössern verriegelt seien. Als einen weiteren Nachteil für die Supermärkte beschreibt der Filialleiter das Verlorengehen des Frische-Images, bedingt durch das Containern. Wenn Kunden davon Gehör bekommen, dass Menschen in den Mülltonnen nach Lebensmittel plündern, schade das dem Ruf des Supermarktes.

Hanna hat keine Angst, ihre Gesundheit durch die Lebensmittel aus der Tonne zu gefährden. Auch die rechtliche Grauzone hält sie nicht vom Containern ab. „Man muss nicht über Zäune klettern oder Schlösser aufbrechen, um Lebensmittel zu retten.“ Öffentlich zugängliche Container sind ihr Beuteschema. „Ich bin jedes Mal erstaunt, was für Schätze ich in den Mülltonnen finde.“ Vor allem aber habe Hanna durch das Containern gelernt, weniger verschwenderisch zu handeln. Sie versuche stets alle Produkte aufzubrauchen. Aus den Containern nimmt sie nur das mit, was sie mag und braucht. „Alles andere würde ja auch nur wieder in der Tonne laden und das ist nicht der Sinn dabei.“ Auch heute Nacht legt Hanna einen Salatkopf zurück in den Container. „Ich habe ja schon einen. Ich denke dann immer, dass vielleicht noch ein anderer an dem Abend kommt und sich die Lebensmittel holt, die ich nicht mitnehme.“

Laut einer WWF Studie werden in Deutschland 18 Millionen Tonnen Lebensmittel jährlich weggeworfen (Stand 2015). Das Containern hat sich durch den 2011 veröffentlichten Dokumentarfilm „Taste the Waste“, der die weltweite Lebensmittelverschwendung kritisiert, verbreitet. Statistiken, wie viele Menschen containern, können nicht erfasst werden. Hanna glaubt, dass der Trend zum Containern in Zukunft weiter steigen wird. „Es ist sehr traurig, dass so viele Lebensmittel weggeworfen werden und es gleichzeitig Hungersnöte auf der anderen Seite der Welt gibt“, so Hanna.

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