Hannovers grüne Dächer

Die Zukunft Hannovers liegt auf seinen Dächern. Die Stadt blickt voraus und plant in den nächsten 15 Jahren sämtliche Dächer der Innenstadt zu begrünen. Damit soll Hannover deutschlandweit Vorreiter in Sachen klimaneutraler Stadt werden. Das Projekt läuft unter dem Namen „Roofwalks“.

Die Pandemie und der dadurch ausgelöste Shutdown des Einzelhandels trifft die Innenstädte massiv: Monatelang menschenleere Fußgängerzonen, die einer Geisterstadt ähneln. Der boomende Onlinehandel ist eine tickende Zeitbombe für lokale HändlerInnen. Die Innenstädte befinden sich in einem Wandel, der sich bereits vor der Coronakrise abgezeichnet hat und durch diese nochmals stärker vorangetrieben wurde. Eine Frage, die sich dabei immer wieder stellt, ist, wie die Zukunft der Stadtzentren aussehen wird. 

Eine aktuelle Umfrage des Handelsverbands Deutschland (HDE) ergab, dass rund zwei Drittel der InnenstadthändlerInnen ihre Existenz bedroht sehen. Drei Viertel der HändlerInnen legen offen, dass die staatlichen Hilfen nicht ausreichend seien, um eine Insolvenz zu umgehen. ExpertInnen des HDE spekulieren, dass der Branche bis zu 200.000 Insolvenzen bevorstehen.

Bereits vor Corona war absehbar, dass ein Wandel der Innenstädte unumgänglich ist. Die deutschen Einkaufszeilen sind austauschbar geworden – Die gleichen globalen Franchiseunternehmen, die gleichen Modeketten, die gleiche Schaufensterdekorierung. Platz für Individualität und Freizeitangebote gibt es wenig bis gar nicht. Lokale Einzelhändler verschwanden zunehmend, sodass sich in kleineren Innenstädten ein Schreckensbild von Leerständen und eingeschlagenen Schaufensterscheiben abzeichnete.

Dabei gelten gerade die Stadtzentren und Ortskerne als das Herz einer jeden Stadt. Sie spiegeln das Leben der Stadt wider und geben den BewohnerInnen und BesucherInnen einen Ort der Begegnung, der Versorgung und des kulturellen Austausches. In anderen Ländern ist bereits ein klarer Trend hinsichtlich der zukünftigen Stadtplanung erkennbar. Die Innenstädte sollen weg von der reinen Konsummeile, hin zu einem Place to be, an denen sich Menschen treffen und es einige Attraktionen gibt. Vor allem auch der Aspekt, die Innenstädte dem Klimawandel anzupassen, steht auf der Agenda, bekräftigt Thomas Krüger, Professor für Stadtentwicklung der HafenCity Universität Hamburg. Bereits heute lebt über die Hälfte der gesamten Weltbevölkerung in Städten. Prognostiziert wird, dass dies im Jahr 2050 mehr als zwei Drittel sein werden.

Was sind Folgen der Verstädterung? 

Die zunehmende Verstädterung wirkt sich negativ auf das Klima aus. Durch die dichte Bebauung entsteht ein Hitzeinsel-Effekt, wodurch Luft kaum mehr zirkuliert werden kann. Oberflächen wie Glas spiegeln Sonnenlicht und Asphalt- und Betonflächen speichern Wärme. Darüber hinaus tragen die Autoemissionen und die Abwärme von Klimaanlagen zur Erhitzung bei. Folge dessen ist es in Stadtzentren immer einige Grad wärmer als auf dem Land.

Stadtentwicklung International

Einige Metropolen sind bereits bestrebt, klimaneutrale Maßnahmen umzusetzen. Vorreiter in Sachen innovative Stadtentwicklung ist beispielsweise Singapur. Als kleinster Staat Südostasiens lockt die Stadt jährlich über 15 Millionen BesucherInnen an. Kennzeichnend für Singapur sind die dichte Bebauung und die zahlreichen Hochhäuser und Gebäude, die weitestgehend begrünt wurden. Die Stadt versteht sich als „Stadt in einem Garten“. Überall ranken Bäume, Büsche und Pflanzen aller Arten in die Höhe. 

Aber auch in den Nachbarländern Deutschlands ist eine Neuplanung der Stadtkerne erkennbar. Dass der Eifelturm an manchen Tagen in dem Pariser Smog verschwindet, soll es in Zukunft nicht mehr geben. Weltmetropole Paris will bis 2024 zu den Olympischen Spielen zur Vorzeigestadt werden. Die Bürgermeisterin Anne Hildago stellte bereits revolutionäre Pläne vor: ein autofreies Paris. Die Rue de Rivoli gilt als bedeutende Durchgangsstraße von Paris und als wichtigste Achse von der Bastille bis zum Triumphbogen. Sie ist berüchtigt für die Verkehrsverstopfung, die sich jedoch seit Beginn der Corona-Krise positiv verändert hat. Wird der Blick von Frankreich hin zu Dänemark gerichtet, lassen sich auch dort hohe Ambitionen feststellen. Die Stadtplanung orientiert sich an dem Ziel, bis 2025 klimaneutralste Hauptstadt weltweit zu werden.

Nationale Pläne

Doch auch in Niedersachsen verändert sich etwas. Die Stadt Hannover hat einige Pläne und Visionen, der Verödung der Hannoverschen Innenstadt entgegenzuwirken, wie Ulrich Prote, der die Stadtentwicklung und -planung für Hannover leitet, gegenüber Campus38 mitteilt. „Je länger wir mit Corona und der Pandemie umgehen müssen, desto drastischer werden die Konsequenzen für die deutschen Innenstädte sein.“ Ihm zufolge geht es darum, Innenstädte neu zu definieren, neue Funktionen und Attraktionen zu finden. „Es braucht global neue Ideen für Innenstädte, denn die Innenstädte wie wir sie kennen werden in keinster Weise in der Zukunft mehr so aussehen. Das ist vorbei, diese Wirklichkeit wird es in zehn Jahren nicht mehr geben.“ Die Stadtzentren werden in Zukunft nicht nur reine Orte des Konsums sein, sondern es braucht Konzepte anderer Art, die Zentren attraktiv zu machen. Die Tendenz geht zur Musik-, Kunst-, Kultur- und Gastronomieentwicklung gepaart mit kleinteiligen Einkaufsmöglichkeiten. Das Einkaufen soll sekundärer Beweggrund für den Besuch der Innenstadt sein. „In Hannover arbeiten wir an einem spannenden Projekt, das zeigt, in welche Richtung wir zukünftig denken müssen.“ Die Zukunft der hannoverschen Innenstadt lautet: Roofwalks. Die Idee stammt von Ronald Clark, dem Direktor der Herrenhäuser Gärten, der für seine großen Visionen bekannt ist. Er selbst behauptet, dass der Größenwahn seinen Namen trägt und das Projekt ein „größenwahnsinniges Ding“ sei. 

Hannovers Innenstadt ist – ähnlich wie zahlreiche andere kriegszerstörte, deutsche Städte – zum Großteil mit Flachdächern gebaut, die sich im Sommer stark aufheizen und Regenwasser nicht zurückhalten können. Die Vision bekam Clark, während er Ideen bezüglich der Bewerbung Hannovers zur Kulturhauptstadt 2025 sammelte. Seine Inspiration hat er damals in der Stadt Linz eingeholt, in der es eine ähnliche Bebauung bereits gibt. Seine Devise für die Gartenplanung lautet, das Nützliche mit dem Schönen zu kombinieren. Das Projekt sieht nicht nur futuristisch aus, sondern trägt einen großen Teil gegen die Überhitzung der Innenstadt bei. Ulrich Prote erzählt weiter: „Es gibt die Idee, auf den Dächern der ganzen Gebäude in der Innenstadt und die großen Dachlandschaften der Kaufhäuser zu begründen, betretbar und nutzbar zu machen für Besucher und Verbindungen zwischen den Dachgärten anzubieten. Das heißt durch Brücken und Stege, es könnten sogar Seilbahnen sein oder skiliftähnliche Konstruktionen, sodass man sich in der vertikalen auf einer anderen Ebene in der Innenstadt bewegt. Keine einfache, aber machbare Vision mit Vorbildcharakter für andere Städte.“ 

Prote prognostiziert, dass sich die bekannten Global Player aus den Innenstädten distanzieren und nur auf den Onlinehandel fokussieren. Somit erschließt sich die Chance für regionale Shop-Betreiber und Manufakturen wieder, in der Innenstadt einen festen Platz zu finden. Das Erlebnisangebot auf den Stadtdächern soll als Turbo für neuste Ideen dienen, die nachhaltig, besonders und mit ästhetischem Anspruch sind. Beispiele könnten Sportplätze, Liegestühle auf einer Grünwiese oder Restaurants mit angrenzenden Kräutergarten sein, in denen die Gäste ihre Kräuter frisch pflücken und im Salat verzehren können. Sonnenschirme mit Solarplatten, die das regionale Eis kühlen und Spielplätze für Kinder mit innovativen Spielgeräten, wie einer Himmelsschaukel für die ganze Familie. Es soll mit dem Ausblick und dem Panorama gereizt werden, der sowohl die Hannoveraner als auch Besucher in die Innenstadt ziehen und einen anderen Blickwinkel der Stadt ermöglichen soll. Ein spezielles Konzept für Beleuchtung macht die Dachlandschaft auch in der Nacht zu einem Highlight. Bereits jetzt wurden dem Pilotprojekt EU-Fördermittel im Wert von 2,7 Millionen Euro zugesagt und es wird damit gerechnet, dass private EigentümerInnen und InvestorInnen nachziehen werden. Der zeitliche Horizont wird auf bis zu 15 Jahren geschätzt. Für die langwierige Umsetzung des Projekts nimmt sich Clark das Zitat des französischen Schriftstellers Antoine de Saint-Exupéry zur Leitdevise: „Wenn Du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre die Männer die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer.“ Er ist bestrebt, die Neugier nach dem Neuen in den Menschen zu wecken. 

Begonnen werden soll mit dem Deck des Parkhauses in der Schmiedestraße, das ein 270-Grad-Panorama erschließt und Blick auf das Rathaus, das Hochhaus der Nord/LB, die Marktkirche sowie die Altstadtkirchen gibt. Anschließend sollen nach und nach weitere Dächer erschlossen und bebaut werden. Neben den Konzepten zur Neugestaltung der Einkaufsstraße gibt es auch verkehrsplanerische Überlegungen, die dahin gehen, Hannovers Innenstadt durch öffentlichen Nahverkehr erreichbar zu machen und den motorisierten Verkehr an die Randlagen der Stadt zu bringen. Somit ließen sich auch die Flächenpotenziale der Parkhausdächer neu nutzen. „Zynisch gesprochen: Wenn Corona noch lange läuft, werden die Innenstädte sowieso autofrei sein. Da gibt’s sowieso keine Geschäfte und keinen Grund mehr für die Menschen, in die Innenstadt zu fahren, wenn man keine neue Entwicklung ins Laufen bringt.“, äußert Ulrich Prote seine Bedenken vor den wirtschaftlichen Konsequenzen der Corona-Krise. 

In den kommenden Jahren wird sich ein Wandel der Innenstädte vollstrecken, der einige Innovationen und Chancen mit sich bringt. Das Pilotprojekt in Hannover zeigt, in welche Richtung die zukünftige Stadtgestaltung denkt und dass neue Ideen für Innenstädte weltweit wichtig sind, um der Verödung und dem Klimawandel entgegenzuwirken. Da ein solches Projekt deutschlandweit in anderen Städten noch nicht bekannt ist, geht Hannover mit gutem Beispiel voran und schafft der Stadt ein Alleinstellungsmerkmal.

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