Auf fleischloser Mission

Vegan leben – heutzutage nichts ungewöhnliches mehr. Eine vegane Wohngemeinschaft hingegen schon. Doch wie lebt es sich zusammen mit einem Kühlschrank ohne tierische Produkte? Zu Besuch in einer Braunschweiger WG.

Ganz unscheinbar liegt er da, am Rand von Braunschweig – ein Bungalow mit einem kleinen Vorgarten. Ein Mädchen mit einem breiten, strahlenden Lächeln und glänzenden Augen öffnet die Tür: „Hallo, ich bin Lina.“ Auf dem Herd brodelt Kürbissuppe und hüllt das gesamte Haus in eine gemütliche Atmosphäre. Die Mitbewohnerin Canan steht neugierig in der Küchentür. Der Kühlschrank ist übersät mit Stickern und Magneten – „Go vegan“ steht auf einem. Ansonsten sieht alles normal aus – Flur, Küche, Wohnzimmer, eingerichtet wie bei vielen anderen auch. Hier und da Ikea, ein bisschen Deko passend zur Jahreszeit, Bilder von Freunden und Familie zieren die Wände. Irgendwo in der Ecke steht ein Wäscheständer. Die Katze schläft friedlich auf dem Sofa. Ein gewöhnliches Haus eben, in dem genauso gewöhnliche junge Menschen leben, mag man denken. Doch nicht immer ist der erste Eindruck von Dauer.

Verzicht auf Fleisch aus ethischen oder gesundheitlichen Gründen

Canan ist Türkin, erzählt sie, während sie die Suppe auftut. Aus gesundheitlichen Gründen achte sie schon seit langem darauf, möglichst wenig Fleisch zu essen: „In meiner Kultur ist das ziemlich schwierig, weil relativ viel Fleisch gegessen wird.“ Seitdem sie hier wohnt, lebt sie noch bewusster und hat gelernt, dass sie auch ganz ohne Fleisch auskommen kann. Sie klingt glücklich und auch ein wenig stolz.

Lina hat inzwischen eine Handvoll Zettel oben vom Wohnzimmerschrank geangelt. Eine Art To-Do-Liste für jeden Tag, die Verena, die Vermieterin des Hauses, geschrieben hat, da sie sich gerade im Ausland befindet. Verena ist 22 und lebt ansonsten mit Canan alleine in dem Haus, berichten die beiden. Lina wohnt hier nur übergangsweise zur Untermiete. Im Gegensatz zu Canan habe sich Verena vor zweieinhalb Jahren für eine komplett tierproduktfreie Ernährung entschieden – aus ethischen Gründen. Ein Blick auf die Liste in Linas Hand verrät, dass ihr das Wohl der Tiere sehr am Herzen liegt. Die To-Do-Punkte bezüglich ihrer Katze füllen gut drei Viertel der gesamten Liste. Für Canan bedeutet die vegane Lebenseinstellung von Verena, dass sie kein Fleisch zu Hause haben oder zubereiten darf. „Ich respektiere das!“, sagt Canan, während sie mit ihrem Löffel in der orange-gelben Suppe rührt.

Gerade kommt ein Mann zur Tür herein. Es ist Linas Onkel. Sie empfängt ihn herzlich und bietet ihm einen Kaffee an. „Aber du weißt ja, wir haben nur die Sojamilch“, sagt sie, während sie ihm einschenkt. Lina lebt seit sieben Monaten vegan: „Alles hat vor drei Jahren angefangen, als ich mich mit Massentierhaltung beschäftigt habe.“ Ihr Gesichtsausdruck wirkt ernst und ein klein wenig traurig. „Man muss sich bewusstwerden, was man jeden Tag verantwortet.“ Sie lässt sich auf einen Stuhl am Küchentisch fallen.

Sie will die Welt retten, erzählt sie. Die Welt besser machen, indem sie bewusst auf Fleisch verzichte. Wenn sie es so sagt, klingt sie ein wenig wie eine Superheldin auf einer Mission – nur dass die Superheldin in diesem Fall kein Cape trägt und nicht fliegen kann. Denn von außen sieht Lina aus, wie ein ganz gewöhnliche junge Frau eben aussieht. Man merkt, wie die Emotionen in ihr hochkochen. Sie hört gar nicht mehr auf zu reden, von Pelz, Leder und dem Leid der Tiere und davon, dass Fleisch uns verändert. „Wenn man tierische Produkte isst, dann denkt man anders und fühlt sich anders“, betont sie. Auf einmal ist trotz der vielen Worte alles ganz still. Als wäre da nur sie im Raum. „Du selbst bist das Wichtigste, was du hast, warum solltest du dir dafür keine Zeit nehmen?“ Ihre großen, weit aufgerissenen Augen wirken verständnislos. Canan, die ebenfalls am Tisch Platz genommen hat, wirkt sehr bewegt. Sie habe selber versucht vegan zu leben, doch diese Lebensweise sei nicht mit ihrer Kultur vereinbar, erklärt sie.

Durch eine vegane Ernährung wird dir viel mehr eröffnet als genommen“

Lina hat ein Tagebuch vor sich liegen, das sie aus ihrem Zimmer hervorgekramt hat. Ein ganzes Buch voll mit Argumenten, warum man vegan sein sollte. Plötzlich springt Canan auf. Ihr Freund ist soeben gekommen. Auch er hat seine Lebensweise überdacht und sich dafür entschieden, seltener Fleisch zu essen. Sie verschwinden in Canans Zimmer.

Lina sitzt noch lange einfach so da, philosophiert über uns Menschen und die Welt. Sie wirkt sehr gedankenverloren und dennoch so, als ob sie ganz genau weiß, was sie will. „Durch eine vegane Ernährung wird dir viel mehr eröffnet als genommen“, versichert sie. Man merkt an der Art, wie sie es sagt, dass sie so gerne jeden Einzelnen davon überzeugen würde. Da ist es spät geworden. Der Duft nach Kürbissuppe ist verflogen. Da ist eine nachdenkliche Stille. Sonst nichts.

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