Endstation Straßengraben

Plötzlich ist da der Baum und nichts mehr wie zuvor. Thomas baut einen Autounfall – mitten im Semester auf dem Weg zur Uni. Wie die Existenz nach einem Schicksalsschlag Kopf steht – zwischen Reha, Krankenhaus und Studienalltag.

Der 16. Oktober 2015: Ein schöner Herbsttag mit Sonnenschein seit den frühen Morgenstunden. Thomas verbringt den Tag im heimischen Garten mit Freunden und Familie. Gegen 17.00 Uhr verabschiedet er sich und steigt in seinen alten klapprigen Golf, um am Abend die letzte BWL-Vorlesung der Woche zu besuchen. Heute ist er schneller unterwegs als gewöhnlich. An den unebenen Straßenverlauf zwischen Celle und Kleinburgwedel denkt er dieses Mal nicht. Der große finstere Nadelbaum am Kurvenrand wird ihm zum Verhängnis.

Über 308.001 Unfälle mit Personenschäden verzeichnete das Land Niedersachsen im Jahr 2016. Dies geht aus einer aktuellen Statistik des Niedersächsischen Ministeriums hervor. Davon sind rund 28 Prozent bei Baumunfällen ums Leben gekommen.

Polizei und Rettungsdienst sind schnell. Die Unfallstelle wird abgesichert, Thomas medizinisch erstversorgt. Unter Schock wird er in das nächstgelegene Krankenhaus gebracht und über mehrere Stunden operiert. Ärzte renken die Schulter ein, die Nase wird gerichtet und beide Beine mit Schrauben und Platten stabilisiert. Thomas übersteht die Operation gut. Im Klinikum Celle bemühen sich die Ärzte, Thomas zu beruhigen. Zittern, Müdigkeit und starker Kopfschmerz seien normal. Thomas fühlt sich erleichtert: Die anschließende Magnetresonanztomografie zeigt keine besonderen Auffälligkeiten. Kopf- und Halsbereich sind unversehrt.

Düstere Gedanken

Einige Stunden nach dem Unfall ist Thomas traurig, mutlos und blickt starr in die dunkelste Ecke seines Zimmers: „Was wird jetzt aus meinem Studium, aus meinen bevorstehenden Prüfungen? Wie geht es vor allem finanziell weiter? Wo finde ich jetzt Hilfe?“ Quälende Gedanken in seinem Kopf. Er findet keine Antwort. In einer derartigen Situation ist laut Studienratgeber.de ein Urlaubssemester empfehlenswert. Innerhalb der Studienordnung der Hochschulen können Verweise auf Antragstellung und erforderliche Gründe eingesehen werden. Vorwiegend handelt es sich beispielsweise um: Krankheit, Pflege von Verwandten, Schwangerschaft, aber auch Elternzeit. Während eines Urlaubssemesters werden in vielen Fällen keine Studiengebühren erhoben. Dies ist allerdings oft vom Zeitpunkt der Antragstellung abhängig. Da das Urlaubssemester kein Fachsemester ist, wird es innerhalb einer staatlichen Förderung nicht auf die Förderungsdauer angerechnet. Das zuständige BAföG-Amt muss binnen kurzer Zeit über ein beantragtes Urlaubssemester informiert werden. Laut Aussage der Servicezentrale des Jobcenters Braunschweig haben Studierende in solch einer Situation die Möglichkeit, das Urlaubssemester im Krankheitsfall oder durch eine Schwangerschaft durch Arbeitslosengeld II zu finanzieren.

Am späten Abend klingelt mein Telefon. Marie, die Mutter von Thomas, weint ununterbrochen. Thomas habe einen Autounfall gehabt, aber es gehe ihm den Umständen entsprechend gut. Ob ich in die Klinik kommen könne. Ich steige ins Auto und fahre los. Im Krankenhaus sitzt Marie mit Thomas Bruder Alex auf einer hellgrünen Bank. Tränen kullern beiden über die Wangen – Maries Gesicht von Schminke verschmiert. Als sie mich sehen, zieht ein Lächeln über ihre Gesichter. Ich breite meine Arme aus.

„Höchste Priorität sollte in derartigen Situationen die Unterstützung haben“, sagt Jasmin Baumgart vom Institut für angewandte Neurowissenschaft in Braunschweig. „Es sollte versucht werden, den Betroffenen klar zu machen, dass es äußerst wichtig ist, seinen Gefühlen und vor allem Ängsten freien Lauf zu lassen.“ Zu erwähnen sei hierbei, dass Aussagen wie „Das wird schon werden“ einen eher negativen Impuls hervorrufen: „Dieser Impuls resultiert aus der Überforderung heraus und signalisiert den Betroffenen Desinteresse.“

Seine Pupillen sind groß. Die Augenfarbe verblasst. Es ist das Erste, was mir auffällt, als ich Thomas im Krankenhaus besuche. Er sieht aus wie nach einer Mumifizierung. Beide Beine in Gips. Die Nase eingeklammert in ein Drahtgestell. Zugänge in seinen Armbeugen. Drei Stück sind es insgesamt. Thomas wirkt müde, abgestumpft und wie in Trance. Ich verbringe jeden Tag mehrere Stunden im Krankenhaus. Geschichten von früher erzähle ich ihm. Geschichten aus dem Indianerzeltlager. Erinnerungen an einen Totempfahl und Freundschaftsschwur. Thomas ist mein bester Freund, schon immer gewesen. Im Sandkasten baute er die Höhlen und ich die Burgen. Meine Angst und meinen eigenen Schmerz unterdrücke ich. Zum Weinen verlasse ich immer wieder das Zimmer. Schwäche ist fehl am Platz. „Ich habe es damals gespürt“, erinnert sich Thomas heute, „und das erste Mal begriffen, dass das, was mir passiert ist, für meine Freunde und Familie schwerer zu ertragen ist, als für mich selbst.“ „Ich kann es nicht richtig deuten“, sagt er. „Es gibt so etwas wie eine Seelenverwandtschaft in einer Freundschaft, die einen daran erinnert zu kämpfen – für sich selbst und die Menschen, die einen schätzen.“

„Der Mensch erfährt innerhalb eines Traumas eine neue Sichtweise. Diese Sicht bezieht sich größtenteils auf kleine Vorkommnisse im Alltag“, so Baumgart. „Als Beispiel sei hier Sonnenschein oder allgemein attraktives Wetter zu nennen. Die Chance wird in der Psychologie als Erkenntnis gedeutet. Durch einen Unfall erfährt der Mensch, dass er keines Weges unantastbar ist und seine Zeit im Leben eine kostbare und begrenzte Ressource darstellt.“

Alles eine Frage der Zeit

Nach zwei Monaten wird Thomas aus dem Krankenhaus entlassen. Es folgt ein längerer Aufenthalt in einer Rehaklinik auf Borkum. Regelmäßig durchgeführte Therapiestunden sollen ihm in der kommenden Zeit helfen, den Unfall zu verarbeiten und seinen Platz im Leben wiederzufinden.

„Es gibt unterschiedliche Therapieverfahren, die chronologisch angewendet werden“, betont Baumgart. „Als erster Schritt zählt hierbei die Krisenintervention. Diese dient der Bestandsaufnahme der psychischen Verfassung. Der zweite Schritt besteht aus einer kombinierten Trauma- und Verhaltenstherapie. Hierbei wird dem Betroffenen geholfen, das Erlebte zu verarbeiten und neue Denkansätze zu generieren. Oft werden innerhalb des Therapiezeitraumes Medikamente, sogenannte Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, im allgemeinen Sprachgebrauch Antidepressiva genannt, eingesetzt. Diese dienen der Unterstützung auf neurobiologischer Seite durch Aufrechterhaltung des Dopaminspiegels.“

„Wie ich damals so viel Geduld und Durchhaltevermögen aufbringen konnte, kann ich nicht sagen“, erinnert sich Thomas heute. „Tagsüber schwimmen, medizinische Bäder, Elektro- und Physiotherapie. Alles, was sich junge müde Beine wünschen. Besonders gut gefallen hat mir die Elektrotherapie. Kleine, kräftige Stromimpulse, die dir neue Kraft geben“, schmunzelt Thomas. „Manchmal ist es allerdings auch schmerzvoll.“ Der Chefarzt der Klinik legte viel Wert auf Höflichkeit und ein freundliches Miteinander, eine familiäre Atmosphäre. „Es ist nicht leicht, gutes Personal zu finden. Die meisten Menschen finden es furchtbar, nur Patienten zu versorgen, die in einer schweren Krise ihres Lebens sind. Das Leid färbt irgendwann ab“, stellt Thomas in seiner Erinnerung fest. Thomas verbringt zehn Wochen in der Rehaklinik auf Borkum. Er setzt sich das Ziel, im Frühjahr 2016 in sein altes Leben zurückzukehren. Seine Familie ist oft zu Besuch, obwohl fast 350 Kilometer zwischen ihnen lagen. „Am schlimmsten waren immer die langen Wartezeiten an der Fährenauffahrt“, erinnert sich Marie heute. „Aber auch die wackelige Fahrt an sich war nicht besser. Wenn man seekrank ist, sollte man Schiffe meiden. Auch wenn sie noch so groß sind.“

Irgendwann taucht der Begriff Entlassung auf. Der Chefarzt spricht immer öfter davon. Thomas ist auf einem guten Weg, sein Ziel zu erreichen. „Plötzlich war es nichts, woran ich mich erfreuen konnte.“ In der Klinik ist man geborgen. Sie gibt einem Schutz und Zuversicht. Die Umgebung, das Miteinander. Alle hier haben Erfahrung, egal was passiert. Im Alltag sind solche Menschen nicht leicht zu finden.

Die Routine beginnt im Kopf

Laut Studienratgeber.de birgt ein Urlaubsemester nicht nur die Chance, sich von einer Krankheit oder einem Unfall zu erholen, sondern auch das Risiko, danach wieder direkt einsteigen zu müssen. Eine Situation, an die sich Thomas gut erinnern kann: Kurse belegen, bei Vorlesungen anwesend sein, Prüfungen absolvieren, das Semester planen und Hausarbeiten schreiben. Du wirst in den Alltag hineingeschmissen ohne Rücksicht und Vorbereitung. Es ist wie ein Neuanfang. „Ohne Freunde und Bekannte an der Uni“, sagt Thomas. „Eigentlich kennst du alles, den Weg zur Mensa, die Laborräume, aber eben irgendwie auch nichts“, erinnert er sich.

Thomas wirkt angespannt und unglücklich, als ich ihn nach der Reha im September 2016 das erste Mal wiedersehe. Ich schlage ihm leicht auf die linke Schulter. „Am Wochenende wird gekocht. Wie jeden Samstag. Und am Sonntag geht es mit den Mountainbikes ab ins Grüne“, muntere ich ihn auf. Mitleid braucht er in dieser Situation nicht. „Gib dir die Zeit, die du brauchst.“

„Wichtig ist es nach wie vor, der Person Unterstützung anzubieten. Ein weiterer Schritt ist das sogenannte Wachrütteln. Eine Form der sozialen Aktion besteht im vorsichtigen Aufzeigen der geänderten Verhaltensweise der Person“, erklärt Baumgart. Thomas ist Schritt für Schritt ins Studium zurückgekehrt. Der Studienalltag hat ihn wieder. Im nächsten Semester schreibt er seine Masterarbeit. Im Anschluss möchte er in einen Autokonzern. „Aktiv an sicherheitsrelevanten Techniken forschen“, sagt er. Schäden hat er keine davongetragen. Aber große Narben an beiden Beinen. Thomas stört sich nicht an ihnen. „Ich bin immer noch der gleiche Mensch wie früher, lebe aber vorsichtiger als vor dem Unfall“, sagt er. Unsere Freundschaft ist durch den Vorfall intensiver und vertrauter geworden als zuvor. In jeder Krise steckt eben auch eine Chance.

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