Leben zwischen Krieg und Normalität

Daniel musiziert gerne, wie es viele tun. Er ist Student, wie viele andere auch. Seinen Weg zum Studium gingen vor ihm allerdings die Wenigsten. Denn mit dem Krieg in der Ukraine änderte sich alles für ihn.

Vor einem Jahr sahen Daniels Pläne noch ganz anders aus. Vor einem Jahr lebte er mit seiner Familie in Kiew. Er hatte gerade seinen Schulabschluss gemacht und überlegte, in welche Richtung er nach der Schule beruflich gehen möchte. Er wollte in der Ukraine bleiben. In seiner Heimat, dort, wo seine Eltern und Geschwister, seine Freunde und Bekannten lebten. Dort, wo er sein ganzes Leben bisher verbracht hatte. Sein Heimatland hatte er zuvor noch nie verlassen. Heute studiert er in den USA. In ein paar Monaten wurde er vom geflüchteten Ukrainer in Deutschland zum Studenten im US-Bundesstaat Mississippi. Daniel Ibragimov ist 17 Jahre alt und hat die Chance, sein Leben in Nordamerika neu zu starten. Er studiert Business and Administration an der William Carey University in Hattiesburg. Seine Familie ist in Deutschland geblieben. Seine Eltern leben mit seinen zwei jüngeren Geschwistern in Hamm, Nordrhein-Westfalen. Sein Vater Rustam ist Pastor einer ukrainischen Kirchengemeinde in Warendorf, die sich aus Flüchtlingen gebildet hat. Nach der Flucht beginnt sich die Familie in Deutschland zurechtzufinden.

 

Die schnelle Umstellung von einem Leben in der ukrainischen Heimat hinein in die deutsche Kultur ist für die meisten UkrainerInnen schwierig. Den Ibragimovs ist sie fürs Erste gelungen. Dabei geholfen hat auch die Gemeinschaft mit anderen Flüchtlingen, die sie in der christlichen ukrainischen Gemeinde genießen. Die Freie evangelische Kirchengemeinde Warendorf unterstützt bereits seit 15 Jahren Menschen in Osteuropa mit humanitären Hilfseinsätzen, besonders in der Ukraine. Durch diese Einsätze knüpfte man Kontakte zu UkrainerInnen, was nach Ausbruch des Krieges dazu geführt hat, dass Warendorf für sie die erste Anlaufstelle wurde. So entstand in den Räumlichkeiten der Warendorfer Kirchengemeinde eine eigenständige ukrainische Gemeinschaft. Gottesdienste und andere Veranstaltungen bieten diesen Menschen die Gelegenheit zum Austausch mit Leuten, denen das Gleiche widerfahren ist.

Aus der Studie “Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland“ vom Dezember 2022 geht hervor, dass rund 34 Prozent der 11.000 befragten Flüchtlinge wieder in die Ukraine zurückkehren möchten. Dem gegenüber stehen 26 Prozent, die dauerhaft in Deutschland bleiben wollen. Elf Prozent planen, für ein paar Jahre zu bleiben. Trotz dieser unterschiedlichen Tendenzen besuchten nach sechs Monaten bereits 49 Prozent der Geflüchteten Deutsch- oder Integrationskurse. Einige arbeiten bereits. Die Zukunftspläne der Menschen sind unterschiedlich. Es gibt verschiedene Ansätze. Rustam und seine Familie möchten zurück in die Heimat. Sie wollen helfen, ihr zerstörtes Land wieder aufzubauen. Ein Grund, um sich nicht zu stark an das Leben in Deutschland zu gewöhnen.

Rustam sieht bereits jetzt viel Arbeit in der Ukraine. In der Politik ist der Wiederaufbau des Landes ebenfalls ein Thema. Der Deutschlandfunk berichtet von solchen Plänen. Die EU will dabei vorangehen. Bundeskanzler Scholz schlug vor, noch während des Krieges dieses große Projekt zu beginnen. Das berichtete die Tagesschau Ende Oktober 2022. Wann diese Pläne umgesetzt werden sollen, ist noch nicht absehbar.

Auf die Ukraine kommt nach dem Krieg viel Arbeit zu. (Quelle: TAZ)

Während die PolitikerInnen sich über die Zukunft der Ukraine Gedanken machen, hat für Daniel ein neuer Lebensabschnitt begonnen. Das kurze Kapitel Deutschland liegt hinter ihm. Für die nächsten vier Jahre ist er Student in einem für ihn fremden Land. Er muss sich erneut anpassen. Wieder neue Kontakte knüpfen. Diesmal ohne seine Familie und Landsleute, die seine Muttersprache sprechen, das Gleiche durchgemacht haben und ihm das Einleben erleichtern können. Er muss sich zum zweiten Mal innerhalb eines halben Jahres in einer neuen Kultur zurechtfinden. Diese Situation kennt er aus Deutschland bereits. Und doch ist sie anders.

Das Studium in den USA ist eine große Chance und Herausforderung zugleich. Über seine Zukunft nach dem Abschluss macht er sich aktuell noch weniger Gedanken. Er fokussiert sich auf seine aktuelle Situation und die Aufgabe, das College zu beenden. „Der Krieg hat meine Art zu Denken und meine Sicht auf die Welt verändert. Ich kann mir nicht vorstellen, was in fünf oder zehn Jahren sein wird“, erklärt Daniel darüber, wie der Krieg ihn verändert hat. Er hat nicht nur die Einstellung von Daniel zum Leben verändert. Er hat sein Leben auf den Kopf gestellt. Er brachte Ungewissheit, Unsicherheit und unerwartete Veränderungen, wie die Flucht aus seinem Zuhause, mit sich. Die Ibragimovs flohen am 28. Februar 2022 aus ihrer Heimatstadt Kiew. Sie wollten sich in Sicherheit bringen, so weit weg vom Krieg wie möglich. Weg von den Artilleriegeschossen und den Explosionen. Daniel kann sich noch genau an den Anruf seiner Tante in der Nacht der Flucht erinnern.

Für einige Ukrainer ist es bereits die zweite Flucht. Seit einigen Jahren ist die Donbass-Region in der Ukraine hart umkämpft. Seit 2014 bekämpfen sich dort das ukrainische Militär und die prorussischen Separatisten. Der Krieg breitete sich vom Osten bis in die zentralen Gebiete des Landes aus und verwüstete es. Die Millionenstadt Kiew blieb nicht verschont.
Der Angriff Russlands auf die Ukraine begann am 24. Februar 2022. Vier Tage später rückte die russische Hauptkolonne bis auf fünf Kilometer an die Hauptstadt des Landes heran. Andreas Dück, Pastor in der Warendorfer Kirchengemeinde, war zwei Monate nach Kriegsbeginn als Helfer in der Ukraine, um bei der Versorgung der Menschen im Kriegsgebiet zu unterstützen. Er konnte sich ein eigenes Bild von der Situation vor Ort machen.

Viele Ukrainer verließen die Heimat so schnell es ging. Bis zum 30. September sollte die Zahl der Ukrainer in Deutschland auf 999.000 ansteigen. Das sind laut dem Statistischen Bundesamt siebenmal mehr als vor dem Krieg. In den letzten Monaten des Jahres wurde die Millionenmarke überschritten. Am 28. Dezember befanden sich 1.044.286 ukrainische Flüchtlinge in der Bundesrepublik. Dies seien nur die registrierten Fälle, so der Mediendienst Integration. Alle sind vom Geschehen in ihrer Heimat geprägt. Der Krieg hat Daniels Lebenseinstellung und die vieler Ukrainer verändert. Sie lernen das Leben auf eine neue Art zu schätzen. Sie haben Dinge erlebt, die kein Mensch erleben sollte. Dieser Krieg veränderte ihre Sicht auf die Welt. Daniels christlicher Glaube trägt ihn durch diese Zeit, die von Ungewissheit geprägt ist. Er gibt ihm Rückhalt und Orientierung. Viele sind noch in der Ukraine und versuchen, den Krieg zu überleben. Gerade die Wintermonate setzen den Menschen zu. Die Flüchtlinge in Deutschland sind vorerst sicher und können ein halbwegs normales Leben führen. Was ihre Zukunft bringt, weiß niemand.

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