Harvey Weinstein überall: Kaum ein Name wurde in den vergangenen Monaten häufiger als Sinnbild zum Himmel schreiender gesellschaftlicher Missstände genannt, als der des Hollywoodproduzenten und offenbar notorischen Frauenbelästigers. Inzwischen nimmt der sogenannte „Weinstein-Effekt“ Fahrt auf, denn unter dem Kampagnenmotto „Me Too“ bekennen sich immer mehr Frauen öffentlich dazu, auch Opfer von sexuellen Übergriffen zu sein.
Die Ereignisse der letzten Wochen provozieren ein Bild, was sich sicherlich längst in unseren Köpfen verfestigt hat: Der schmierige alte Chef, der seine kleinen dicken Finger langsam auf das Knie der Praktikantin legt, sich mit ihnen ein kleines Stückchen zu weit nach oben tastet und dabei ungeniert grinst. Aber was ist, wenn der alte schmierige Chef eine Frau ist und die Praktikantin ein Mann? Plötzlich ist es ein ganz anderes Bild, eine uns fremd erscheinende Situation. Ein echter Mann würde sich nicht so anstellen, erklingt jetzt der Aufschrei, er muss der Frau zeigen, wo es langgeht, schließlich sind die Frauen doch das schwache Geschlecht. Außerdem ist die Vorstellung von zwanglosem Sex mit einer Vorgesetzten auf dem Schreibtisch viel zu reizvoll, um sie abzulehnen. Und ist es nicht ein ungeschriebenes Gesetz, dass es auf den Weihnachtsfeiern feuchtfröhlich zugehen muss? Einen dieser Sprüche werden Männer sicherlich zuallererst zu hören bekommen, wenn sie sich überhaupt öffentlich bekennen, Opfer sexueller Nötigung zu sein.
Männer eher Opfer verbaler Belästigungen
Laut einer Studie der Anti-Diskriminierungsstelle geben siebzehn Prozent der Frauen und sieben Prozent der Männer an, Opfer sexueller Belästigung am Arbeitsplatz geworden zu sein. Bei sexueller Nötigung handelt es sich oft um Machtdemonstration und Konkurrenzdenken. Wohl ein Grund, warum es Männern schwerer fällt, sich öffentlich zu outen. Ein weiterer Grund für die niedrigen Prozentzahlen ist jedoch auch, dass viele keine genaue Begriffsdefinition von „sexueller Belästigung“ geben können und somit die Situation, in der sie sich befinden, unterschätzen und verharmlosen.
Ein Blick ins Gesetz gibt Aufschluss: Dem Gleichbehandlungsgesetz zufolge handelt es sich bereits bei „Bemerkungen sexuellen Inhalts, sowie unerwünschtem Zeigen und sichtbarem Anbringen von pornografischen Darstellungen“ um sexuelle Belästigung, die bezwecken, „dass die Würde der betreffenden Person verletzt wird.“ Nachdem die Probanden die richtige Begriffsdefinition kannten, fiel das Ergebnis ganz anders aus. Bei der zweiten Befragung bekannten sich 49 Prozent der Frauen und sogar 56 Prozent der Männer dazu, Opfer sexueller Belästigung am Arbeitsplatz zu sein. Zudem berichteten die männlichen Teilnehmer eher von einer verbalen als von einer tätlichen Form der sexuellen Belästigung: Anzügliche E-Mails oder zweideutige Bemerkungen. Das heißt aber nicht, dass diese weniger schlimm sind.
Die Anti-Diskriminierungsstelle warnt vor Folgen, besonders wenn sich die Betroffenen nicht trauen, sich zu beschweren. Sie werden unkonzentriert und krank – bis hin zu arbeitsunfähig, sozial abgeschottet und depressiv. Hilfsangebote gibt es von vielen Seiten. Das Aufwendungsausgleichgesetz verpflichtet Unternehmen sogar dazu, Arbeitnehmer bei sexueller Belästigung zu schützen und zu unterstützen. Doch ein Problem bleibt: Das Thema „Was soll ich tun, wenn mich eine Frau belästigt?“ bekommt immer noch nicht genug Aufmerksamkeit. So ist zwar die Gleichberechtigung der Geschlechter in unserer Gesellschaft ein großes Thema – doch stets in einseitiger Perspektive. Derzufolge ist das Bild von einem Opfer sexueller Belästigung immer weiblich. Wir sollten unser eingefahrenes Denken über die Rolle von Männern ändern. Wenn Männer Opfer sexueller Belästigung sind, ist das kein Zeichen von Schwäche. Schwäche zeigt man erst, wenn man sich von der Angst, dominieren lässt, kein echter Mann zu sein.