Ich weiß ja nicht, welche Videos dir auf deiner persönlichen YouTube-Startseite vorgeschlagen werden. Aber bei mir und vielen anderen jungen, männlichen Erwachsenen sind dort haufenweise Videos zur Selbstverbesserung zu finden. Wie kann ich schwerere Gewichte heben? Wie habe ich mehr Erfolg im Berufsleben? Wie kann ich meinen Schlaf optimieren?
In einer leistungsorientierten Gesellschaft, die von Oberflächlichkeiten, einem ausgeprägten Mitteilungsbedürfnis und der altbekannten „Fake it till you make it“-Mentalität geprägt ist, macht das Sinn. Gecatcht hat mich diese Thematik jedoch nie wirklich. Zwar treibe ich regelmäßig Sport und bin gesund, aber die krankhafte Faszination, die beste Version von sich selbst zu werden, war nie mein Bier. Vielleicht bin ich ja zu faul. Vielleicht bin ich aber auch einfach zufrieden mit mir selbst.
Ende 2022 war das nicht der Fall. Ein Jahr geprägt von persönlichen Schicksalsschlägen lag hinter mir und hinterließ mich in keiner guten Verfassung. Als ich gegen Jahresende deprimiert auf meinem Sofa lag und einen weiteren Abend mit geliefertem indischem Essen als einzigem Begleiter verbrachte, packte mich der Gedanke nun doch. Ich muss mich ändern, dachte ich – so kann es nicht weitergehen. Und plötzlich erschienen mir die Männer, die auf den Vorschaubildern mit perfekt austrainiertem Körper neben einem Brokkoli posierten, wie Freunde. Oder eher gesagt wie Mentoren. Ich fühlte mich wie ein junger Padawan, obwohl ich eingewickelt in meiner Decke optisch eher Yoda ähnelte. Nach dem ersten Video vom renommierten amerikanischen Neurowissenschaftler Andrew Huberman war ich im Rabbit Hole. Welche Nahrungsergänzungsmittel verhelfen mir zu bester Denkfähigkeit? Soll ich mich ketogen oder vegan ernähren? Und warum sind Kältekammern für zuhause so verdammt teuer?
Nachdem ich zwei Stunden lang YouTube-Videos verschiedenster Content Creator konsumiert und sich meine Euphorie wieder auf ein normales Maß reduziert hatte, war ich bereit, einen Entschluss zu fassen: Ab dem Jahreswechsel habe ich jeden Morgen einen gleichbleibenden Ablauf. Eine sogenannte Morgenroutine. Das sollte nun also mein Weg zur Selbstoptimierung werden. Der Neurowissenschaftler Andrew Huberman ist jedenfalls großer Fan dieser Prozedur.
Der 48-jährige Amerikaner, der eher den Eindruck eines gut trainierten 35-Jährigen macht, ist Professor an der renommierten Stanford University. Internationale Bekanntheit erlangte er durch seinen 2021 entstandenen Podcast Huberman Lab, in dem er sein Knowhow nutzt, um jedes ach so kleine Detail typischer Baustellen des menschlichen Alltags zu optimieren. Testosteron-Mangel? Müdigkeit? Depression? Unkonzentriertheit? Für all diese Probleme hat Huberman Lösungsvorschläge, die auf teils experimentellen und neurowissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen. Sie rangieren immer irgendwo zwischen konkreten, einfach umzusetzenden, oft gar banal wirkenden Handlungsempfehlungen und tiefergreifenden Veränderungen des Lebensstils. Außerdem sind sie stets gewürzt mit einer Prise pflanzlicher Nahrungsergänzungsmitteln, Mineralien und Vitaminen. Auch davon ist Huberman nämlich offenbar ein großer Fan.
Voller Motivation entschloss ich mich also, eine solche Routine aus dem Video eines Bloggers zu übernehmen. Und die hatte es in sich – zumindest für jemanden, dessen erste Anlaufstelle nach dem Aufwachen bis dato die Tinder-App gewesen ist. Sie läuft wie folgt ab:
- 1. Sofort aufstehen und das Bett machen
- 2. Ein Glas Salzwasser auf dem Balkon trinken
- 3. Dabei meinen Tagebucheintrag verfassen sowie eine grobe Tagesplanung aufstellen
- 4. 100 Liegestütze
- 5. Anschließende Ganzkörperdehnung
- 6. Kalt duschen
- 7. Einnahme meiner Supplements – Vitamin D, Omega 3, B-Vitamine + Ginseng, Kreatin und Magnesium
Nachdem ich einen angenehmen Silvesterabend in der Heimat verbracht hatte, hieß es für mich schon am ersten Tag des neuen Jahres: das volle Programm. Hierbei sei angemerkt, leicht verkatert macht das Ganze besonders viel Spaß. Wie auch immer: keine Zeit für Selbstmitleid!
So stand ich also tatsächlich auf und machte sofort mein Bett. Yes – ein erster Erfolg! New year, new me. Als ich bei klirrender Kälte und leichtem Nieselregen mit meinem Tagebuch unterm Arm den Balkon betrete, und mein Blick nach unten in mein Glas Salzwasser fällt, fühle ich mich wie ein Idiot. Egal. Ich rühre noch einmal um und setze an. Und siehe da: eigentlich halb so wild – schmeckt ein wenig wie kalte Suppe. Ich nehme Platz und fange an, meine beiden schriftlichen Aufgaben in Angriff zu nehmen. Für heute steht eigentlich nur Lernen an, es ist Feiertag und in sechs Tagen erwartet mich meine Medienrecht-Klausur.
Im Tagebuch muss ich drei Dinge notieren, für die ich dankbar bin, und wie ich den heutigen Tag besser als den gestrigen gestalten möchte. Diese pseudo-philosophischen Fragen beantworte ich eher schlecht als recht und gehe leicht unterkühlt zurück in die Wohnung, um mit meinem Programm fortzufahren. Die 100 Liegestütze arbeite ich in vier Sätzen ab, im Hintergrund ertönt als musikalischer Ansporn Scooter. Langsam fühle ich den Wach-Effekt. Ob es sich hierbei nur um den nachlassenden Kater handelt? Unklar. Das Dehnprogramm besteht aus ziemlich grundlegenden Übungen – kein Yoga für Fortgeschrittene. Ins Schwitzen bringt es mich dennoch.
Nachdem ich auch diese Aufgabe vollbracht habe und mich über meine durchaus verbesserte Mobilität freue, steht nun das gruseligste Kapitel vor mir: die eiskalte Dusche. Für einen notorischen Warmduscher wie mich eine große Herausforderung. Ich betrete meine Duschkabine und drehe den Hahn bis zum Anschlag nach rechts. Das Wasser strömt aus dem Hahn, und während ich da so nackig in der Ecke stehe, überlege ich, ob ich meinen Körper wirklich unter diesen eisigen Strahl bewegen soll. Nachdem ich mich schließlich geschlagene zwei Minuten später doch noch dazu entschließe, nicht schon am ersten Tag aufzugeben und unter das Wasser stelle, zucke ich zusammen und gebe ein unkontrolliertes Geräusch von mir. Es lässt sich wohl am ehesten als irgendetwas zwischen erregtem Stöhnen und angeschossenem Elch einordnen. Meine Augen springen auf, ich kriege Schnappatmung – aber verdammte Scheiße: ich bin wach!
Im Spiegel betrachte ich meinen Körper, der durch das eiskalte Wasser mit blau-roten Flecken übersät ist. Um ehrlich zu sein: ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal in nur einer Stunde nach dem Wachwerden so aktiv war. Homeoffice und Online-Vorlesungen gepaart mit Herzschmerz haben mir eine Grube gegraben, in der ich es mir bisher äußerst gemütlich gemacht habe. Und so habe ich die Wachrufe der Realität gerne mal verschlafen. Aber damit ist jetzt Schluss: ich gehe in die Küche und nehme meine Nahrungsergänzungsmittel zu mir. Entweder bin ich absolut verrückt geworden, oder ich kann die durch sie dazugewonnene Vitalität wirklich sofort spüren. Beginnt jetzt ein neues Kapitel meines Lebens?
Im weiteren Verlauf der Woche ähneln sich die Abläufe nach dem Aufstehen. Wach werden, meinen Tag planen, kalte Suppe auf dem Balkon, kaltes Wasser auf den Rücken und so weiter. Doch wie sieht der restliche Ablauf meines Tages aus? Vielleicht konnte man es schon herauslesen. Dennoch formuliere ich es der Einfachheit halber nochmal klipp und klar: Ich neige in der Regel dazu, zu prokrastinieren. Verpflichtungen und große Aufgaben schiebe ich gerne so lange auf, bis ein gefährlicher Mix aus Zeitdruck und Versagensangst entsteht. Vielleicht liebe ich den Nervenkitzel, aber wahrscheinlicher ist wohl, dass ich ein Idiot bin.
Und gerade befinde ich mich in einer Zeit, die bei vielen meiner Leidensgenossen zu ebenjenen Verhaltensweisen führt: Die Klausurenphase. Allein das Ausschreiben dieses Wortes löst in mir negative Emotionen aus und führt dazu, dass mein Gesichtsausdruck dem eines Kleinkinds ähnelt, das zum ersten Mal Rosenkohl probiert. Doch ich fühle mich für diese Herausforderung gewappneter als je zuvor.
Gerade die Planung meines bevorstehenden Tages und die Reflexion des vergangenen Tages sind unfassbar hilfreiche Instrumente. Zeit, die ich vorher in zielloses Scrollen meiner TikTok-Startseite investiert habe, nutze ich jetzt effektiv für meine bevorstehenden Aufgaben. Weil ich es mir morgens vornehme und meinen Tag strukturiere. Auch die B-Vitamine scheinen zu wirken: Ich fühle mich konzentriert. Und was wohl alle meine Lehrer ab der sechsten Klasse in Staunen versetzen wird: Ich lerne diszipliniert und der Stoff bleibt hängen. Was ich früher nicht für möglich gehalten habe, ist nun Realität: Ich lerne am Tag vor einer anstehenden Klausur nicht. In der Vergangenheit wäre das nur schlecht möglich gewesen, weil ich an eben jenem Tag erst mit der Klausurvorbereitung angefangen hätte.
Fast Forward: Hinter mir liegen drei Klausuren in vier Tagen. Meine Routine habe ich auch an diesen mit äußerst viel Stress verbundenen Tagen durchgeführt, also praktisch mal unter realistischen Bedingungen getestet. Ich bin stolz auf mich, auch weil ich den Hochschulcampus jedes Mal mit einem guten Gefühl verlassen konnte. Doch plötzlich macht sich in mir ein altbekanntes, aber in letzter Zeit doch so fremdes Gefühl breit: Der Drang nach Freiheit. Nach einem Ausbruch aus der Routine. Ich habe das Semester hinter mir, jetzt kann ich es mir doch auch mal gut gehen lassen. Oder?
Und so glitt ich aus meiner Routine. Am ersten Samstag nach der Klausurenphase besuchte ich meine Lieblingsdiskothek und war erst um neun Uhr zuhause. Morgens, wohlgemerkt. Ziemlich konträr zu den auf die Optimierung der körperlichen und seelischen Gesundheit und Funktionalität fixierten Verhaltensweisen. Den neuen Tag zu planen, ist auch nicht sonderlich sinnvoll, wenn der alte Tag noch nicht beendet ist. Und man wohl bis um 17 Uhr schlafen wird. Habe ich mich selbst betrogen?
Die Antwort ist ein klares „nein“. Denn was wie der Spruch auf der Lieblingstasse deiner Mutter klingt, bewahrheitet sich immer wieder: nobody is perfect. Wir können danach streben, uns selbst zu optimieren und damit die muskulöseste, produktivste, attraktivste, intelligenteste Version von uns selbst zu sein. Macht uns das aber wirklich glücklich? Wir sind keine Maschinen, sondern Wesen mit Makeln und Bedürfnissen, die nicht anhand von objektiven Maßstäben zu bewerten sind. Doch gleichzeitig sollte man nicht ohne Ziele durchs Leben gehen – schon gar nicht ohne persönliche. Ein bisschen Eitelkeit und Ambition tut jedem Menschen gut.
Außerdem ist diese Phase bei Weitem nicht ohne Spuren versandet. Die eiskalte Dusche am Morgen ist auch heute noch – lange nach diesem Experiment – mein treuer Begleiter. Und ich merke, wie viel strukturierter mein Tag ist, wenn ich ihn vorausplane. Habe ich mal schlecht geschlafen oder weiß, dass vor mir ein stressiger Tag liegt, helfen mir Supplements dabei, durchzuhalten. Ich bin grundsätzlich von der Wirkung der Morgenroutine überzeugt.
Doch es erfordert einiges an Disziplin, jeden Morgen diesen Katalog an Herausforderungen abzustottern. Wer seinem Leben und seinem Morgen mehr Struktur geben möchte, der ist herzlich eingeladen, diesen Ablauf auszuprobieren. Ich für meinen Teil habe gemerkt, dass ich einfach nicht die Muße besitze, eine solche Routine tagtäglich durchzuziehen. Doch ich glaube, gerade das ist natürlich – und auch richtig. Für mich soll das Leben Spaß jedenfalls machen. Ich will mich nicht zu Dingen zwingen müssen. Gleichwohl möchte ich auch nicht nur wie ein hedonistischer Kloß auf dem Sofa liegen und mein Leben verschwenden. Dieses Experiment hat mir gezeigt: Das Gleichgewicht macht unser Leben aus!
Also lieber Leser und liebe Leserin, mach dich auf den Weg ins Fitnessstudio. Aber nur, wenn du dir selbst versprichst, das Spaghettieis auf deinem morgigen Date zu genießen. Das Leben ist ein Yin und Yang – Genuss und Schmerz, Entspannung und Herausforderung, Whirlpool und Eisbad.
Ich hoffe, du findest deine eigene, passende Mischung.