Die Frauen hinter den Frauen

Im Frauenhaus Braunschweig erhalten körperlich und psychisch verletzte Frauen mit ihren Kindern Zuflucht. Die Mitarbeiterinnen dort sind oft ihre einzige Chance auf Hilfe und Unterstützung.

„Vergiss die Adresse bitte sofort wieder, nachdem du hier warst“, ich stutze kurz, nachdem die Leiterin des Braunschweiger Frauenhauses diesen Satz zu mir am Telefon sagt. Doch nach dem kurzen Gespräch verstehe ich ihre Worte sofort. Das Frauenhaus ist eine Einrichtung, die dem Schutz von Frauen dienen soll, die häusliche Gewalt erlebt haben. Dass die Adresse geheim gehalten wird, hat also den Zweck, dass die Frauen in Sicherheit sind und die Täter sie nicht finden können.
„Es kam auch schon vor, dass hier mal ein Mann stand, der sich als Frau verkleidet hat“, erzählt mir Hülya Müller. „Das volle Programm: High Heels, Minirock und blonde Perücke.“ Die Diplomsozialarbeiterin arbeitet seit 16 Jahren im Frauenhaus in Braunschweig und hat in dieser Zeit bereits einiges erlebt. Sie betreut in der Regel vier bis fünf Frauen und hilft ihnen, wieder auf die Beine zu kommen. Hilfe zur Selbsthilfe, so lautet hier das Motto. Finanziert wird das Ganze von der Stadt, von dem AWO-Kreisverbandes sowie von Spendengeldern. Hülyas Kollegin Aurima Cramm ist seit elf Jahren im achtköpfigen Team in Braunschweig. Acht bis 17 Uhr, fünf Tage die Woche. So zumindest in der Theorie. „Eigentlich sind wir 24 Stunden, sieben Tage die Woche erreichbar.“ Weil die Frauen oftmals auch von der Polizei oder vom Jugendamt zum Frauenhaus gebracht werden, muss immer eine Mitarbeiterin kurzfristig einspringen können. Nachts und am Wochenende läuft dies dann über eine externe Rufbereitschaft. „Wir hatten auch schon eine Frau, die hier nur in Badelatschen und Bademantel angekommen ist“, berichtet Hülya. „Dann hat man richtig zu tun.“ Ohne Dokumente wie dem Personalausweis, ist es schwierig den Frauen zu helfen.

Laut einer Statistik des Bundeskriminalamts wurden 2020 circa 150.000 Personen Opfer von häuslicher Gewalt – vier von fünf davon sind Frauen. Die Dunkelziffer könnte jedoch weitaus höher sein. Nicht alle Frauen trauen sich, die Gewalttaten zu melden und Hilfe zu suchen. Die Zahl ist im Vergleich zu 2019 um circa 15 Prozent angestiegen. Grund dafür ist vor allem die Pandemie und die Lockdowns, welche die Betroffenen zwangen, zuhause bei ihrem Partner oder ihrer Partnerin zu bleiben.

Während der Pandemie wurde das Haus von zwölf auf 16 Wohnungen aufgestockt, es herrschte Maskenpflicht sowie regelmäßiges Testen und die Frauen durften nicht mehr ständig in die Büros der Mitarbeiterinnen kommen – für Hüyla insgeheim eine Arbeitserleichterung: „Es gab viel weniger Andrang und Geschreie.“ Sowohl Frauen als auch Kinder standen vorher oft Schlange vor den Büros im unteren Geschoss. Momentan ist es im Gegenteil dazu relativ ruhig, nur das Telefon klingelt alle paar Minuten.
Langsam kehrt allerdings auch wieder Normalität ein und für den Sommer waren bereits wieder Ausflüge und gemeinsame Aktivitäten geplant. Vor allem für die Kinder dürfte dies ein Hoffnungsschimmer sein.

Eine Statistik, die von der Frauenhauskoordinierung 2020 veröffentlicht wurde, zeigt, dass circa 63 Prozent der Frauen mit Kindern unter 18 Jahren ins Frauenhaus kommen.
Im Braunschweiger Frauenhaus gibt es hier für diesen Zweck einen Kinderbereich sowie einen großen Garten mit verschiedenen Spielmöglichkeiten. Außerdem arbeitet im Frauenhaus eine Erzieherin, die sich um die Kinder kümmert.
Unterstützt hat sie hierbei zwei Jahre lang Marie (Name geändert), die zuerst im Rahmen ihres Studiums der Sozialen Arbeit ein Praktikum im Frauenhaus gemacht und anschließend dort auf Minijobbasis vor allem als Kinderbetreuung gearbeitet hat. Erlebt hat sie dabei eine sehr intensive Zusammenarbeit sowohl mit den Frauen und ihren Kindern als auch mit dem Team und ihren damaligen Kolleginnen. „Ich konnte dort direkt von Anfang an viel Verantwortung übernehmen und lernen, mit schwierigen Situationen umzugehen,“ berichtet sie. Die 23-Jährige erzählt von einer Situation, in der ein Junge sehr grenzenlos war, nur im Haus herumgerannt ist und andauernd alle Sachen aus den Schränken gerissen hat. Ein anderes Mädchen hat beim Puppenspielen gespielt, dass sie und ihre Mutter verfolgt wurden. „Da merkt man dann schon, dass die Kinder teilweise auch traumatisiert von den Erfahrungen sind“, sagt sie. Bei solchen Situationen fiel es Marie sehr schwer, eine Distanz zum Erlebten zu schaffen und die Arbeit nicht mit nach Hause zu nehmen. Sie fiel dann oft ins Grübeln, wie man den Kindern helfen könnte.
Hülya fällt dies mittlerweile leichter. „Man stumpft irgendwann ab“, sagt sie. Sie versucht aber auch, bewusst in ihrer Freizeit Abstand zu nehmen und nicht ständig über ihre Arbeit zu reden und nachzudenken. Dennoch gibt es immer wieder Situationen, die den Mitarbeiterinnen im Gedächtnis bleiben. Hülya und Aurima erinnern sich an eine Frau, die von der Polizei mit zwei kleinen Kindern ins Frauenhaus gebracht wurde. „Sie sah aus wie ein Waldmensch, ganz dünn und blass“, berichtet Aurima. Die Frau war von ihrem Mann eingesperrt worden, durfte nur essen, wenn er es erlaubte. Die Griffe an den Fenstern in der Wohnung hatte er abmontiert, sie schaffte es aber trotzdem zu fliehen. Die Frau war polnisch und konnte nur sehr bruchstückhaft deutsch.

Dies ist keine Seltenheit in den Frauenhäusern. Nur 33 Prozent der Bewohnerinnen in deutschen Frauenhäusern kommen aus Deutschland.
Für die Mitarbeiterinnen jedes Mal eine besondere Herausforderung. Zwar spricht Hülya türkisch und Aurima russisch, ein Großteil der Frauen kommt aber aus Ländern wie Syrien oder Afghanistan. In solchen Situationen müssen die beiden und ihre Kolleginnen dann auf den Google-Übersetzer vertrauen oder über einen Telefonservice mit Dolmetscherinnen kommunizieren.
Laut Hülya meistens „ein ganz komisches Gefühl“. Durch die Sprachbarriere können sie den Frauen nicht so gut helfen, wie sie es gerne täten. Besonders beim Ausfüllen von Dokumenten oder Gesprächen mit Anwälten gibt es hier immer wieder Schwierigkeiten.
Marie erzählt, dass dies bei den Kindern einfacher war. „Die Kinder untereinander haben sich oft gefunden und konnten dann die gemeinsame Sprache sprechen. Und sonst eben mit Händen und Füßen.“ Die Kinder haben den Kontakt zu den anderen sowieso sehr genossen und sich darüber gefreut, dass es weitere Kinder gibt, die ihr Schicksal teilen. Marie war vor allem Zuhörerin für die Kinder und versuchte sie abzulenken. Wenn eine Frau aus dem Frauenhaus auszog, gab es meistens ein Picknick oder Frühstück mit den Kindern und sie bekamen einen Sorgenfresser, ein kleines Kuscheltier, geschenkt.
Im besten Fall konnten die Frauen mithilfe der Mitarbeiterinnen eine neue Wohnung finden und auf eigenen Beinen ein neues Leben anfangen. Das ist aber nicht immer der Fall. Hülya berichtet, dass circa 10 Prozent der Frauen im Frauenhaus Braunschweig wieder zurück zu ihrem Partner gehen. „Sie merken, dass es doch nicht so leicht ist, mit der Freiheit umzugehen.“
Deutschlandweit sind es sogar 18 Prozent, die zur misshandelnden Person zurückkehren. Im manchen Fällen landen diese Frauen dann nach ein paar Wochen oder Monaten wieder im Frauenhaus. 28 Prozent der Bewohnerinnen waren bereits ein- oder mehrmals im Frauenhaus.

Grundsätzlich ist es aber das Ziel aller Mitarbeiterinnen, den Frauen die notwendige Unterstützung zu geben, die sie benötigen. Sie helfen ihnen bei allen bürokratischen Angelegenheiten, organisieren Unterstützung, wenn die Frauen Anzeige erstatten und vor Gericht gehen und sind Seelsorgerinnen und Zuhörerinnen. „Es ist ein schönes Gefühl, wenn man sich für die Frauen einsetzen kann“, sagt Aurima. „Oft rufen die Frauen nach ein paar Wochen nochmal an oder kommen vorbei, um sich zu bedanken.“
Marie fehlt die Arbeit im Frauenhaus, die sie aufgrund ihres Auslandssemesters beendet hat. „Ich kann mir schon vorstellen, auch später in dem Bereich zu arbeiten oder mein Anerkennungsjahr zu machen.“ Das Frauenhaus Braunschweig nimmt regelmäßig Praktikantinnen, die während ihres Studiums ein Pflichtpraktikum absolvieren müssen. Vorkenntnisse braucht man dafür keine, man sollte sich aber schon der Herausforderung bewusst sein und mental auf das Thema häusliche Gewalt einstellen können.
Neben Hülya und Aurima arbeiten im Haus noch drei weitere Diplom-Sozialarbeiterinnen, eine Erzieherin, eine Hauswirtschaftskraft, eine Hausmeisterin sowie eine Honorarkraft und gegebenenfalls eine Praktikantin. „Wir nehmen an regelmäßigen Schulungen und Weiterbildungen teil“, sagt Hülya. Das ist notwendig, um den Frauen die notwendige Unterstützung zu bieten, aber auch um selbst mit den Situationen umgehen zu können. Denn dass man dafür oft starke Nerven braucht, ist wohl kein Geheimnis.
Aurima erzählt, dass aktuell eine Wohnung für eine Frau reserviert ist. Ihr Mann droht damit, sie und ihren gemeinsamen Hund umzubringen. Den Hund dürfte sie mittlerweile sogar mitnehmen. Der kann sich dann zu dem Therapiehund im Haus gesellen. Trotzdem ist die Frau noch unsicher, ob sie den Schritt wagt, ins Frauenhaus zu ziehen. „Sie soll nach dem Wochenende kommen. Wir sind gespannt, ob sie das auch tun wird“, sagt Aurima. Verstehen kann sie das nicht. „Ich wäre schon längst abgehauen“, betont sie.
Aber natürlich sieht auch sie ein, dass man die einzelnen Situationen der Frauen lediglich versuchen kann zu verstehen. Richtig hineinversetzen kann man sich in die Bewohnerinnen nur, wenn man selbst eine ähnliche Situation durchgemacht hat. Der Austausch der Frauen untereinander ist deswegen ein wichtiger Aspekt des Frauenhauses.
Geprägt hat die Arbeit im Frauenhaus aber alle Mitarbeiterinnen und sie können sich mittlerweile kaum noch vorstellen, einen anderen Job zu machen.

An der Wand im Gemeinschaftsraum des Hauses hängt ein Plakat. Darauf steht ein Satz, den hoffentlich alle Frauen im Frauenhaus – Bewohnerinnen und Mitarbeiterinnen – verinnerlichen können: „Glücklich steht dir gut.“

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