Jeden Tag leben ALS wäre er der Letzte

Die unheilbare Nervenkrankheit ALS erreichte durch die „Ice-Bucket-Challenge“ im Jahr 2014 mediale Aufmerksamkeit. Inzwischen ist es um die Krankheit wieder still geworden. Doch was genau ist ALS und wie beeinflusst die Diagnose das Leben der Betroffenen?

Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist eine seltene, aber schwere und unheilbare neurologische Erkrankung. Dabei werden Nervenzellen im Gehirn und Rückenmark abgebaut, die für die Steuerung der Muskulatur verantwortlich sind. Laut dem Neurologen, Prof. Dr. Thomas Meyer, sind die Muskelgruppen betroffen, die man bewusst anspannen kann. Es kommt zu einer Lähmung. Die Ursache der Erkrankung ist bislang unbekannt. Deshalb spricht man bei ALS auch oft von Schicksal, denn Betroffene waren davor meist kerngesund oder hatten keine schwerwiegenden Vorerkrankungen. Eine Erkrankung passiert plötzlich und ohne Warnsignal. Die Mehrheit erkranke zwischen ihrem 50. und 60. Lebensjahr an ALS, erwähnt Neurologe Thomas Meyer. Es treffe aber auch viele junge Erwachsene. Dabei gebe es kaum einen Unterschied zwischen den Geschlechtern. Es seien nur etwas mehr männliche Personen von der Krankheit betroffen. Insgesamt sind in Deutschland laut Meyer ungefähr 6.000 bis 8.000 Personen an ALS erkrankt. Das seien circa zehn Personen pro 100.000 EinwohnerInnen. Eine feste Anzahl sei aber schwer zu nennen, da es in Deutschland kein ALS-Register gibt.
Eine Betroffene ist Heike Klußmann. Sie ist 47 Jahre alt und lebt in Braunschweig. Trotz der schweren Nervenkrankheit strahlt sie, wie viele ALS-Erkrankte auch, eine besondere Energie, mentale Stärke und Positivität aus, die sehr ansteckend ist. Doch es gibt auch schlechte Tage, sagt die alleinerziehende Mutter, an denen es schwerfällt, die gute Laune beizubehalten. Durch die Bilder auf ihrem Instagram-Account scheint es oft so, als würde sie ihren Alltag gut meistern und leben wie fast jeder andere Mensch. Doch in Wirklichkeit steckt viel Mühe, Kraft und Arbeit dahinter. Seit nun ungefähr zwölf Jahren kämpft Heike gegen ALS an, die bei ihr langsamer voranschreitet als bei vielen anderen ALS-Erkrankten.


Oft kämpfen Betroffene nicht allein mit der schweren Nervenkrankheit. Auch Angehörige kommen manchmal an ihr Limit, wenn sie Familienmitglieder, Freunde oder Bekannte pflegen und unterstützen. Ingrid Haberland aus Hannover ist Angehörige eines ALS-Erkrankten. Ihr Mann stolperte eines Tages und brach sich dabei das Bein. Dass die Krankheit ALS und somit das Schwächegefühl in den Beinen der Grund sein könnte, wussten die beiden zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Ingrid erzählt von ihrem Mann und der familiären Erfahrung mit der Nervenkrankheit.

Heute nutzt Ingrid Haberland ihre Erfahrung, um anderen zu helfen und sie zu unterstützen. Von Hannover aus arbeitet sie für die Deutsche Gesellschaft für Muskelkranke e.V., kurz DGM, und ist vor allem für die Gesprächskreise in der Region verantwortlich. Es sei eine wichtige Aufgabe, viel mehr als „nur“ ein Job.

Der Einblick in Heikes Alltag und die Erzählungen von Ingrid veranschaulichen, was es bedeutet, mit dieser Nervenkrankheit zu leben.
Es beginnt oft mit sogenannten motorischen Symptomen. Man bemerkt es, wenn sich zum Beispiel die Beweglichkeit einer Person verschlechtert, sagt der Neurologe Thomas Meyer, der als Leiter der ALS-Ambulanz an der Charité – Universitätsmedizin Berlin tätig ist. Häufig seien es einseitige Feinmotorik-Störungen der Hand. Diese könne man im Alltag wahrnehmen, sei es beim Halten eines Stiftes oder beim Aufdrehen einer Wasserflasche. Auch das Schwächegefühl in den Beinen sei ein häufiges Anzeichen für ALS. Es bestehe die Gefahr aufgrund einer Fußhebeschwäche, im Alltag oft zu stolpern. Aber auch eine Sprachstörung könne das erste Symptom der Nervenkrankheit sein. Der Prozess verlaufe laut Meyer schleichend und sorge zu Beginn oft für Verwirrung bei den Betroffenen.
Nach und nach sind typischerweise immer mehr Muskeln betroffen. Die erkrankte Person kann nach einiger Zeit nicht mehr selbstständig laufen, stehen und essen. Irgendwann kommt es auch zu Schwierigkeiten beim Sprechen und Schlucken. Anschließend wird auch das Atmen schwerer. ALS sei relativ einfach zu diagnostizieren, wenn man sich mit der Nervenkrankheit auskennt. Der Leiter der ALS-Ambulanz meint, es höre sich zwar komisch an, dass eine so schwere Krankheit leicht zu diagnostizieren ist, aber auch „die Fehldiagnosen-Quote ist gering. Sie liege deutlich unter 5 Prozent“. Meistens überweise der Hausarzt den Patienten an einen Neurologen, der allein an den auffälligen motorischen Symptomen feststellen könne, dass es sich hierbei um ALS handelt. Zusätzlich könne man spezielle Messungen von den Nerven und Muskeln durchführen. Laut Ingrid Haberland gebe es aber auch PatientInnen, bei denen die Diagnose ein langer Prozess ist. Dann werde die Enddiagnose ALS erst über mehrere Wege beziehungsweise nach vielen Arztbesuchen gestellt.
Der Verlauf und die Überlebenszeit ist von Person zu Person sehr unterschiedlich, da das Voranschreiten der Symptome unterschiedlich schnell abläuft. Allgemein verläuft die Erkrankung langsam. Klar ist jedoch, dass ALS die Lebenszeit verkürzt. Daher werden lebensverlängernde Maßnahmen genutzt. Das können Medikamente und Therapien sein. Aber auch verschiedene Hilfsmittel können die Betroffenen gut unterstützen – wie zum Beispiel Rollstuhl und Lifter, um die Person vom Bett in den Rollstuhl zu heben, oder ein Sprachcomputer für die Verständigung, Ess- und Trinkhilfen und vieles mehr. Dabei kann die Krankenkasse eine wichtige Rolle spielen, wie die Beraterin, Ingrid Haberland, erzählt.

Jedoch gibt es einen schwerwiegenden Faktor, der die Lebenszeit entscheidend verringert: Die mit ALS zusammenhängende Schluckstörung und die damit verbundene Mangelernährung und Atemfunktionsstörung. Diese würden sich mit einer Ernährungssonde und Beatmungstherapie kontrollieren lassen, sagt der Neurologe Thomas Meyer. Durchschnittlich überleben circa 50 Prozent der ALS-Erkrankten drei Jahre ohne medizinische Maßnahmen, knapp 30 Prozent überleben fünf Jahre. Es gebe aber auch PatientInnen, die deutlich länger als fünf Jahre mit ALS überleben.

Der/die PatientIn selbst könne durch die Einnahme von Medikamenten, durch Nutzung von Physio- und Ergotherapie, Logopädie sowie Hilfsmitteln für den Alltag seine Lebenszeit beeinflussen. Wichtig ist laut Thomas Meyer auch „der Lebensentwurf, -mut und -wille“. Nebenbei leiden auch oft Beziehungen, wenn es innerhalb der Familie oder einer Partnerschaft einen ALS-Erkrankten gibt. Die betroffene Person braucht besonders viel Hilfe und Unterstützung und das rund um die Uhr. Dies sei eine Herausforderung für den Betroffenen sowie für die Angehörigen. Für Meyer entstehen Beziehungsprobleme aber oft auch durch die krankheitsbedingt eingeschränkte Kommunikation und Gestik. Der neue und andere Alltag hat einen großen Einfluss auf das Zusammenleben, berichtet Ingrid Haberland.

Viele Betroffene und Angehörige hoffen, dass es bald eine Heilung gibt. Der Neurologe Thomas Meyer macht ihnen Mut: „Ich halte grundsätzlich in der Zukunft die ALS für eine heilbare Erkrankung“. Ob er dies allerdings noch miterleben darf, weiß der Leiter der ALS-Ambulanz nicht. Es gebe aber bereits Forschungsfortschritte. Thomas Meyer selbst sitzt nah dran an der angewandten Forschung, in der man an der Entwicklung eines effektiven Medikaments arbeite. Es sei also künftig möglich und denkbar, ein Mittel gegen ALS in den Händen zu halten. Doch ist es jetzt noch nicht wirklich greifbar. Das Ziel, Menschen mit ALS irgendwann heilen zu können, hänge von vielen Faktoren ab. Um die Forschung und Entwicklung zu kontinuieren, sind StudienteilnehmerInnen sowie Gelder nötig. Zusätzlich komme es auch auf das Team der Forschenden an, da Einstellung und Engagement der Teammitglieder ebenfalls eine zentrale Rolle spielen.
Auch die Mitarbeiterin der DGM, Ingrid Haberland, hat die Hoffnung, dass es irgendwann ein Heilmittel gegen ALS geben wird.

Die Nervenkrankheit ist „bekannter als früher, aber dennoch ziemlich unbekannt im Gegensatz zu anderen Erkrankungen, die noch seltener sind“, meint Thomas Meyer. Ein besonders erfolgreiches Ereignis sei die „Ice-Bucket-Challenge“ im Sommer 2014 gewesen, die zusätzlich eine hohe Summe an Spenden ermöglichte. Laut dem Neurologen sei der ALS Bereich aber aus politischer Hinsicht unterfinanziert. Es müsse ein anderes Finanzierungskonzept beziehungsweise eine andere Ressourcenverteilung her.
Ob die Krankheit ALS und die Folgen für Betroffene und Angehörige letzten Endes bekannter in der Gesellschaft werden? Und ob es zeitnah eine Heilungsmöglichkeit geben wird? Das steht noch in den Sternen. Wir alle können Betroffene mit Spenden unterstützen und ihnen Hoffnung geben, während sie mit ALS kämpfen und jeden Tag leben, als wäre es der Letzte.

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