Liebe mit Handicap

Flirten, daten, sich verlieben. Dies sind Bedürfnisse, die nahezu jeder Mensch hat. Doch bei Menschen mit Beeinträchtigung gestaltet sich das Ausleben von Beziehungen und Sexualität oft schwieriger. Diplom Sozialpädagogin Ute Ahrens berichtet über sexuelle Aufklärung bei Menschen mit Handicap und wie diese auch zum präventiven Schutz vor sexuellem Missbrauch oder ungewollten Schwangerschaften beiträgt.

Ute Ahrens arbeitet bereits seit 24 Jahren bei der Beratungsstelle von pro familia in Braunschweig. Ihre Tätigkeit liegt in der Beratung zum Thema Schwangerschaft und Schwangerschaftsabbrüchen. Außerdem ist sie in der Sexualpädagogik in Schulklassen zur Aufklärung tätig. Seit vielen Jahren arbeiten Ute Ahrens und ihr Kollege Uwe Niehus, der als Psychologe und Sexualpädagoge tätig ist, auch eng mit der Lebenshilfe Braunschweig zusammen. Da sie früher begleitend zum Studium selbst bei der Lebenshilfe gearbeitet hat, konnte sie bereits seit vielen Jahren Erfahrung bei der Arbeit mit beeinträchtigten Menschen sammeln. Dies diene ihr als wichtige Basis für ihren Job bei pro familia, so Ahrens.

pro familia

pro familia ist eine nichtstaatliche Organisation für Sexual-, Schwangerschafts- und Partnerschaftsberatung in Deutschland. Der gemeinnützige Verein setzt sich für eigenverantwortliche Familienplanung und selbstbestimmte Sexualität ein.

Bei dem dreiteiligen Seminar „Liebe und so Sachen“ arbeiten sie und Uwe Niehus mit verschiedenen jungen Männern und Frauen mit Beeinträchtigung zusammen. Dabei werden jegliche Fragen zum Thema Liebe und Sexualität völlig ohne Tabus geklärt. Die Teilnehmenden schildern ihre Vorstellung von Beziehungen und üben, wie man jemanden am besten kennenlernt und anspricht. Außerdem erfahren sie mehr über das Thema Körperhygiene und auch zur Rechtslage der selbstbestimmten Sexualität.

Während die meisten Kinder bereits in der Schule Sexualkunde haben und auch von ihren Eltern aufgeklärt werden, wird Menschen mit Beeinträchtigung solches Wissen oft vorenthalten. Diese Unwissenheit führt dazu, dass Menschen mit Beeinträchtigung oft nicht wissen, wie sie ihre Sexualität ausleben können. Denn auch sie haben das ganz natürliche Verlangen nach Sexualität und Intimität. In solchen Fällen kommen die Beeinträchtigten mit ihren Betreuern von der Lebenshilfe zu dem sexualpädagogischen Team von pro familia. Dort spricht Ute Ahrens mit ihnen und klärt sie über Sex, Verhütung und Schwangerschaft auf. Dabei arbeitet sie mit einer Mischung aus Feingefühl, Empathie und Fachwissen. Ihr Repertoire reicht dabei von Puppen, über Modelle bis hin zu Broschüren und natürlich der mündlichen Aufklärung ohne Tabus.

Lebenshilfe

Die Lebenshilfe begleitet und fördert Menschen mit Beeinträchtigung. Sie bietet eine Vielzahl an Angeboten für alle Altersgruppen und Behinderungsarten. Ziel ist es gemeinsam mit den beeinträchtigten Menschen ein Leben in der Gesellschaft zu gestalten.

„Der Hauptgrund für diese Unwissenheit über Sexualität ist vor allem, dass sich Menschen mit geistiger Beeinträchtigung relevante Informationen schwerer beschaffen können und einen schlechteren Zugang zu diesen haben“, so Ahrens. Doch auch die Eltern meiden dieses Thema oft, da sie überfordert sind oder nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen. Außerdem haben Eltern von Töchtern mit Handicap häufig Angst, dass eine ungewollte Schwangerschaft entsteht, weshalb sie versuchen sie möglichst fern von Sexualität zu halten.

Ein stark diskutiertes Thema ist in diesem Zuge auch die sogenannte Zwangssterilisation von Frauen und Mädchen mit geistiger Beeinträchtigung. So sind laut einer Studie der staatlichen Koordinierungsstelle nach Artikel 33 UN-Behindertenrechtskonvention zehn bis 18 Prozent der Frauen mit geistiger Behinderung in Deutschland sterilisiert. Zum Vergleich: Bei Frauen ohne Handicap sind es bloß fünf bis acht Prozent. Nur 53 Prozent der befragten Frauen gaben an, dass die Sterilisation aus eigenem Wunsch durchgeführt wurde. Die andere Hälfte gab an, von ÄrztInnen, Pflegepersonal oder den Eltern überzeugt oder gar gedrängt worden zu sein. Weitere Gründe seien mangelndes Wissen über Verhütung, oder die Perspektivlosigkeit für ein Leben mit einem Kind gewesen. Rechtlicht ist Zwangssterilisation bereits seit 1998 verboten. Auf die Frage, ob Sterilisation bei Frauen und Mädchen mit Beeinträchtigung gegen ihren Willen auch heute noch durchgeführt wird, will und kann Ute Ahrens nicht antworten. Sie ist der Meinung, dass sich dies in den letzten 20 Jahren zum Positiven verändert hätte. Und trotzdem will sie nicht ausschließen, dass es nicht noch unbekannte Fälle von sogenannter Zwangssterilisation gibt. Ein Thema, bei dem sich die Geister scheiden und es zu wenig bekannte Informationen gibt, die ein klares Urteil erlauben.

Dass die Unwissenheit über Sexualität bei Menschen mit geistiger Beeinträchtigung noch weitere Schattenseiten hat, zeigt eine Studie der Universität Bielefeld, die im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend durchgeführt wurde. Die Statistik befasst sich mit dem Thema psychische, körperliche und sexuelle Gewalt. Die Studie zeigt, dass Frauen mit Handicap häufiger Opfer sexueller Gewalt werden, als Frauen ohne Handicap. Viele haben diese sexuelle Gewalt bereits im Kindes- und Jugendalter erleben müssen. Laut Ute Ahrens gibt es verschiedene Gründe weshalb beeinträchtigte Menschen häufiger Opfer sexueller Gewalt oder sexuellen Missbrauchs werden. Durch die geringe Aufklärung wissen die Opfer oft nicht, was mit ihnen geschieht. Außerdem haben einige nicht die Möglichkeit sich zu artikulieren und zu erklären was ihnen passiert ist. Und auch die Angst, dass man ihnen nicht glaubt ist oft ausgeprägt.

Ute Ahrens, die ihre Diplomarbeit über die Täter sexueller Gewalt schrieb, erklärt, dass die Opfer ihre Täter häufig gut kennen. Dies bestätigt auch die Studie des Bundesministeriums für Familie. Häufig seien diese Personen Familienmitglieder oder Bekannte der Familie. Die Täter bauen erst eine Vertrauensbasis zu ihren Opfern auf und können diese dann leichter beeinflussen, so dass sie oft nicht wissen, dass dies nicht in Ordnung ist. Somit sind sie laut Ahrens „leichte Beute“ und die Täter haben wenig zu befürchten.

Diese Schattenseiten zeigen, wie wichtig die präventive Aufklärungsarbeit durch SexualpädagogenInnen wie Ute Ahrens ist. Denn auch Menschen mit Beeinträchtigung haben ein Recht darauf ihre Liebe und Sexualität auszuleben. Es ist wichtig über dieses Thema zu sprechen und es zu enttabuisieren. Ziel von Ute Ahrens Arbeit ist es den Menschen beizubringen, dass sie ihre Sexualität selbstbestimmt ausleben dürfen und wie sie dies umsetzen können.

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