Die Anderen und Ich

Nach wie vor herrscht in Deutschland eine drastische Bildungs- und Chancenungleichheit. Arbeiter*innenkind und Studentin? Eine eher seltene Kombination. Bahriye ist beides. Und noch so viel mehr.

Hannover, Calenberger Neustadt. Goetheplatz. Eine Station bis Steintor, nur zwei Minuten. Weit genug weg, um nicht mit Hannovers Brennpunktviertelin Verbindung gebracht zu werden? Brennpunktviertel. Eine Bezeichnung, welche oft für marginalisierte Viertel genutzt wird. Ihre Mutter öffnet die Tür. Ein langer Flur. Links. Durch das Badezimmer. Rechts. Das Zimmer von Bahriye. Eine Dreizimmerwohnung. Sie wohnt hier zusammen mit ihrer Mutter und Großmutter. Ihr eigenes Zimmer, so erzählt sie, habe sie erst mit 14 Jahren bekommen. Bis zu diesem Zeitpunkt teilten sie sich das Bett. Jetzt hat sie ihr eigenes. Ihr eigenes Bett, ihren eigenen Kleiderschrank, ihr eigenes Fenster zur Straße hin. Auf ihrem Plattenspieler läuft Sadevillian von MF DOOM und Sade. Räucherstäbchengeruch. Durch das offene Fenster fallen Sonnenstrahlen in Bahriyes Zimmer und reflektieren in ihrem Glastisch, auf welchem „an archive of love“ vom middle east archive, ihr neustes Fotografiebuch, liegt. Seit September 2022 studiert die 21-Jährige Fotojournalismus an der Hochschule Hannover. Sie hat es geschafft, nach dem Einreichen einer Bewerbungsmappe eine Hausaufgabe und später die hochschulinterne Eignungsprüfung zu bestehen. Außerdem ist sie die erste Person in ihrer Familie, welche ein Studium beginnt. Gar nicht so wahrscheinlich. Laut des Hochschulbildungsreports von 2022 starten gerade mal 27 von 100 Kindern aus Arbeiter*innen-Haushalten in ein Studium. Im Vergleich: Bei Kindern aus Akademiker*innen-Haushalten sind es 83 von 100. Auch Bahriye ist ein sogenanntes Arbeiter*innenkind. Arbeiter*innenkinder sind Kinder von Arbeiter*innen. Also Menschen, welche nicht den akademischen Bildungsweg eingeschlagen haben und keine Erfahrungen im Bezug auf Hochschule und Universität teilen können. In Bahriyes Bücheregal liegen Bücher von Kafka und Sartre. Ein weiteres trägt den Titel Women, Race & Class. Eine Sonderausgabe der Vogue. Daneben ihr selbst entworfenes Kopftuchmädchen Zine. Links, neben ihrem Fenster, ein auffallendes Regal aus Glas, gefüllt mit Kassetten. „Das Regal ist das Einzige, was ich von meinem Vater habe“, erwähnt Bahriye nahezu nebensächlich. Würde es ihr optisch nicht gefallen, hätte es auch keinen Platz in ihrem Zimmer gefunden.
Ein freier Tag, kommt selten vor.
Bahriye ist mit ihrem Freund zum Skaten verabredet. Schwarzes T-Shirt, schwarze Strickjacke. Blaue Jeans, buntes Tuch. Darüber ihre rosa I Love Sweden Cap. Perlenkette. Sternenohrringe. Durch ihren Kleidungsstil drückt sie sich aus. To-Do-Liste schreiben. Wochenplan aktualisieren. Die Anderen und Ich.
Es geht zum Zweier. Ein Skatepark in Hannovers Stadtteil Linden. Ein erster Frühlingstag. Die Sonne scheint. Es riecht nach Sommer. T-Shirt-Temperaturen. Das gute Wetter nutzen viele, der Zweier ist voll. Man kennt sich untereinander. Begrüßt sich. Bahriyes Freund fängt direkt an zu skaten, sie selbst schaut erstmal zu. Skaten vereint. Es spielen viel wichtigere Dinge eine Rolle als Herkunft, die sogenannte soziale Klasse und Alter. Das erste Mal gemerkt, dass Bahriye etwas von Anderen unterscheidet und sie nichts dagegen tun kann, war in der fünften Klasse auf dem Gymnasium. Ganz diskret, so beschreibt sie es, ist die damals Zehnjährige mit dem Brief vom Jobcenter vorbei an ihren Klassenkamerad*innen nach vorne zum Lehrer gegangen, um die Klassenfahrt finanziert zu bekommen.

Foto: Tosha Rana Hausmann

„Ich habe mich als arm angesehen und wusste, ich bin immer ärmer als die Anderen“, so Bahriye. Den Weg auf eine hochschulberechtigende Schule schaffen von 100 Nichtakademiker*innenkinder lediglich 46. Das ist nicht einmal die Hälfte. Aus Akademiker*innen-Haushalten schaffen es dagegen 83 Kinder, zeigen Zahlen des aktuellen Hochschulbildungsreports. Obwohl Bahriye eine Realschulempfehlung ausgesprochen bekam, setzte sie ihren Weg auf dem Gymnasium fort. „Meine Mutter hat in mir das Potenzial fürs Gymnasium gesehen“ erzählt sie. Ob sie auch ohne den Zuspruch ihrer Mutter auf dem Gymnasium gelandet wäre? Eine Studie aus dem Jahr 2007 der Mainzer Gutenberg-Universität fand heraus, dass Schüler*innen aus sozial weniger starken Schichten beim Wechsel auf eine höhere Schule benachteiligt werden. Eine Gymnasialempfehlung ist genau dann wahrscheinlich, wenn das Bildungsniveau der Eltern einem Höheren entspricht. So erhalten stolze 81 Prozent der Kinder aus der sogenannten Oberschicht eine Gymnasialempfehlung. Bei Kindern aus den sogenannten Unterschichthaushalten sind es magere 14 Prozent. Viel wichtiger ist allerdings der Fakt, dass bei identischen Leistungen die Schulempfehlung auf sozialer Herkunft beruht. Die Studie macht dies an folgendem Beispiel deutlich: Schüler*innen mit einer Durchschnittsnote von 2,0, welche der niedrigsten Bildungs- und Einkommensgruppe angehören, bekamen mit einer Wahrscheinlichkeit von 76 Prozent eine Gymnasialempfehlung. Bei Schüler*innen aus der Oberschicht sind es 97 Prozent. Also fast alle. Neben Bahriye gab es noch eine weitere Klassenkameradin, welche ebenfalls aus einem Hartz-IVHaushalt stammt. Eine Bezugsperson. Mit ihr schafft sie es in der Oberstufe eine Amsterdam-Reise zu initiieren. Sie wussten: Dies eine der einzigen Möglichkeiten, großartig verreisen zu können. Mittlerweile ist es ein wenig anders.

Foto: Tosha Rana Hausmann

Immer höher, immer schneller, eben immer ein wenig besser, als die Anderen.
Nächster Tag, 7:22 Uhr. IC2241 nach Berlin.Fotoshooting mit einer Modedesignerin. Eine Semesterabgabe unter dem Titel Held*innen. Die Tickets für die Zugfahrten zahlt sie selbst. Sie bekommt jetzt Bafög. Kaffee im Bordbistro, um dort die gesamte Fahrt einen Sitzplatz mit Tisch zu haben. Ungestört arbeiten am Laptop. Die Zeit nutzen. Sie muss morgen ein Referat halten. Kaum eine Minute, in welcher Bahriye nicht erreichbar oder irgendwas am machen ist. „Ich muss mich immer viel viel mehr beweisen und das auf so vielen Ebenen, ich muss immer mehr machen. Ich bin eine Frau und eine Hijabi. Ich präsentiere nicht den Status Quo“, so Bahriye. Den Rassismus und Klassizismus, welchen sie zusätzlich erfährt, würden dieses Gefühl nochmal steigern. Mehrheitsgesellschaft eben. Zwar gewinnt sie dadurch Selbstständigkeit, doch einfach mal loslassen zu können fällt ihr umso schwerer. Das Gefühl, immer mehr machen zu müssen, als die Anderen.
Bahriye ist kein Einzelfall. Viele Kinder aus nichtakademischen Haushalten setzten sich genau damit auseinander. Das beginnt schon mit Rechtfertigungen gegenüber den eigenen Eltern. Bestätigen kann dies Julia Munack, Pressesprecherin von arbeiterkind.de, der größten und ältesten Organisation im Bereich Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit. „Es ist schon auch so, dass wir auch in den Communitys immer wieder Geschichten hören, dass sich Kinder aus nicht-akademischen Haushalten, die sich für ein Studium entscheiden, oftmals rechtfertigen müssen vor ihren Eltern“, so Munack. Dazu kommt dann noch der Punkt mit dem Hilfe-Annehmen oder viel mehr das nach Hilfe fragen. Aussagen von Bahriye wie „Das ist für mich das Schwierigste der Welt“ gefolgt von „Nach Hilfe fragen fühlt sich für mich an wie Enttäuschung und Erniedrigung“ sprechen für die Allgemeinheit von Arbeiter*innenkindern.
Laut Julia Munack spielen dabei die Umstände eines Studiums eine große Rolle: „Sie kommen in ein Studium und sehen drumherum: Krass, alle können es. Alles verstehen das. Alle wissen was jetzt der nächste Schritt ist.“ Sie schämen sich, trauen sich nicht zu fragen, wollen sich nicht die Blöße geben. Kinder, aus nicht-akademischen Haushalten kennen es eben nicht. Woher auch?
9.57 Uhr, Berlin Hauptbahnhof, alles läuft nach Plan. M5 Richtung Hohenschönhausen. Wenig später Verwirrung. Keine Reaktion auf das Klingeln an der Tür von Bahriyes Shootingpartnerin. Schnell checkt sie den gemeinsamen Chatverlauf. Zwei Stunden früher da, als abgesprochen. Und jetzt? Zeit nutzen. M5 zurück Richtung Hauptbahnhof. Magazin-Laden besuchen. Punkt auf To-Do-Liste abhaken. Nach Fahrkartenkontrolierenden Ausschau halten. Aufatmen. Zwei einhalb Stunden später steht sie wieder vor besagter Tür und klingelt. Dieses mal wird geöffnet. Herzliche, lange Begrüßung. Beide haben kurdischen Background, direkt wird sich ausgetauscht. Im Laufe des Gespräches zeigen sich weitere Gemeinsamkeiten auf, beide sind ebenfalls Kinder aus nicht akademischen Haushalten.

Eine Verbindung. Equipment auspacken.
Ein Blitzlicht von der Hochschule und eine Sony Alpha 6000. Die Kamera hat Bahriye seit 2019. Gewünscht schon viel länger. Geld hat gefehlt. Ein Problem, welches häufiger aufgetreten ist und auch weiterhin auftreten wird. Die Hälfte des Betrags hat sie am Ende selbst gezahlt. Ersparnisse. „Ich wurde wegen meiner Kamera schon ausgelacht“, erzählt Bahriye. Kommiliton*innen von ihr besitzen oft mehr als eine Kamera und ein Objektiv. Woher das Geld nehmen, wenn von Bafög schon Studiengebühr und Miete gezahlt wird. Wenn wegen Vollzeit Studium die Zeit für einen festen Nebenjob fehlt. Chancengleichheit? „Wir haben keine Chancengleichheit. Das ist was, was wir anstreben, aber man darf nicht die Illusion haben, dass das schon da ist“, so Christoph Bangert, Fotograf und Professor an der Hochschule Hannover. „Das ist ein Ziel, das ist aber noch nicht da und da muss man fleißig und konstant dran arbeiten.“ Ein Ansatz. Es blitzt. Kamera einstellen. Erste Testbilder. Bahriyes Konzept geht auf. Es harmoniert. Wie ein Treffen unter Freundinnen, mit Kamera begleitet. Es fallen kaum Anweisungen, viel eher baut sich ein Gespräch auf. Es fällt vor allem die gegenseitige Wertschätzung auf. Beide sind mit den Ergebnissen zufrieden. Erneut die M5 Richtung Hauptbahnhof. Das Shooting ging kürzer als geplant. Freie Zeit. Mittag essen, Kaffee trinken, noch schnell durch Secondhandläden laufen. Zufriedenheit. Um 21 Uhr nimmt Bahriye den Zug zurück nach Hannover. Sie hofft, Berlin regelmäßiger besuchen zu können.

Ankommen und Zurecht kommen. Wieder spielt eine Platte. Guts – Straight From The Decks 2. Bahriye besucht ihren Visual-Storytelling- Kurs an der Hochschule Hannover. Ein großer Tisch in der Mitte eines eher kleineren Raums. Fotobücher in einem Regal, darauf der Plattenspieler. Bereits geöffnete Fruchtgummitüten und Kekspackungen. Acht weitere Fotojournalismusstudierende sind bereits anwesend und sitzen am Tisch. Wohnzimmer-Atmosphäre. Schuhe werden ausgezogen. Hochschuluntypisch. Der Kurs ist ein wenig anders. Zwischen dem Dozenten und den Studierenden herrscht ein fast freundschaftliches Verhältnis. Es wird geduzt. Handys kann man, wenn man mag, während des Kurses in eine Box legen. Voller Fokus auf das Miteinander. Auf dem gestrigen Rückweg nach Hannover und vor Beginnen des Kurses hat Bahriye noch an ihrer Präsentation über ein Fotobuch von Max Pinckers gearbeitet. Nebenbei. Jetzt stellt sie vor.
Es lief gut. Bahriye ist zufrieden und setzt sich wieder auf ihren Platz. Das nächste Buch wird vorgestellt. Sie hört zu. Beginnt wenig später ihre To- Do-Liste und den Wochenplan zu aktualisieren. Zeit nutzen. Feedbackrunde zu aktuellen Projekten. Bahriye war in Schweden und präsentiert Bilder von einem Tanzstudio. Wenn sie könne, solle sie doch nochmal hinfahren und noch mehr fotografieren, das wäre schön. Die Aussage fällt mehrfach. Kann sie aber nicht. Das Geld fehlt. Chancenungleichheit. Es ist der 12. Mai. Ramadan. Bahriye geht früher, um pünktlich für Iftār bei ihrer Mutter und Großmutter zu Hause zu sein. Zu Hause. Eigentlich ist Bahriye nur zum Schlafen hier. Eher selten verbringt sie bewusst Zeit mit ihrer Familie. Ihre Großmutter hat gesundheitliche Probleme, verlässt selten das Haus. Bahriyes Mutter kümmert sich um sie, geht auch deswegen nicht arbeiten. „Ich wurde schon so oft als Sekretärin benutzt, ich glaube, ich konnte nie Kind sein.“. Briefe des Jobcenters übersetzen. Antworten. Eine Lösung finden. Hinterher telefonieren. Alles Aufgaben, welche Bahriye seit Jahren bewältigen muss. Früher neben der Schule. Heute neben der Uni. Schon immer neben der Arbeit, neben dem Treffen mit Freunden, neben eigenen persönlichen Problemen, welche schnell in den Hintergrund rücken müssen. Alles Aufgaben, welche nie thematisiert werden, da selten davon ausgegangen wird, dass diese auftreten. „Ich wünsche mir, mich nicht mehr erklären zu müssen.“ Bahriyes Arbeit soll für sie stehen. Das ständige Sichselbst-Erklären beenden. Sehnsucht nach einer Gesellschaft, welche Verständnis entgegenbringt. Sehnsucht nach Ruhe. Zurück in der Bahn, welche sie in die Calenberger Neustadt bringt. Die anstrengenden letzten Tage Revue passieren lassen. Im Kopf ist Bahriye schon drei Tage weiter. Dann fährt sie nämlich nach Karlsruhe, eine weitere Künstlerin fotografieren. Ein freier Tag kommt selten vor.

Foto: Tosha Rana Hausmann
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