Die Erzählkultur – mehr als nur Storytelling?

Das mündliche Erzählen von Geschichten als eigene Kunstform ist heute eher in Vergessenheit geraten. Stattdessen hat der Begriff des Storytellings an Bedeutung gewonnen. Aber wie unterscheiden sich diese beiden Formen und was macht das Erzählen überhaupt zur Kunstform?

Das mündliche Erzählen von Geschichten als eigene Kunstform ist heute eher in Vergessenheit geraten. Stattdessen hat der Begriff des Storytellings an Bedeutung gewonnen. Aber wie unterscheiden sich diese beiden Formen und was macht das Erzählen überhaupt zur Kunstform?

Mit glitzernden Augen und einem Lächeln auf den Lippen berichtet Brigitte Vaupel, Gründerin des Vereins Erzählwerkstatt Braunschweig e.V., davon, wie sie zum Erzählen gekommen ist. Für sie waren es nämlich, anders als vielleicht vermutet, nicht die Gute-Nacht-Geschichten oder etwa vorgelesenen Märchen. Tatsächlich kennt sie nur sehr wenige Märchen. Es war ihr großer Bruder, durch den sie mit dem Erzählen in Berührung kam. Er hat als Seemann gearbeitet und ist viel unterwegs gewesen. Jedes Mal, wenn er wieder zu Besuch kam, erzählte er seiner jüngeren Schwester von seinen Erlebnissen auf See. Alles Seemannsgarn, wie Brigitte Vaupel schmunzelnd erklärt. Es gab zwar immer einen echten Kern, aber die Erzählungen hatte er ausgeschmückt und übertrieben. Doch genau das und die Überzeugung, mit der ihr Bruder sie erzählte, ließen sie als junges Mädchen voll und ganz an deren Wahrheit glauben. „Diese Flunkergeschichten. Man weiß gar nicht, stimmt das jetzt oder stimmt es nicht?“, erinnert sich Brigitte Vaupel. „Das fand ich eine hohe Kunst.“ Diese Erfahrung brachte sie dazu, selbst gerne zu erzählen, aber vor allen Dingen brachte sie ihr auch den Spaß daran, Geschichten selbst zu erfinden.

Die Kulturform des Erzählens in mittlerweile in Vergessenheit geraten. Warum das so ist und welche Formen das Erzählen zu bieten hat, erklärt Brigitte Vaupel, eine ausgebildete Erzieherin, Sozialpädagogin und qualifizierte Erzählerin, im Interview.

Die Freude am Erzählen kommt nicht von ungefähr. Es liegt in der Natur des Menschen, gerne Geschichten zu erzählen und zu hören. Zum einen dient es dem Erfahrungsaustausch und der Sinnstiftung. Denn mit Hilfe des Vorstellungsvermögens lernen wir aus den Erlebnissen anderer Menschen. So wird ein Gefühl der Zugehörigkeit und der Solidarität verbreitet. Christian Stewen, promovierter Medienwissenschaftler und Mitarbeiter an der Universität Siegen, beschreibt es als den Drang zu kommunizieren und „der Welt ein Gesicht zu geben“. Es würden Bedeutungen hergestellt, sich ihrer vergewissert und auch „sich seiner selbst vergewissert mit Hilfe von Erzählungen“. Zum anderen bieten sie den Menschen in Form von Sagen oder Mythen seit jeher eine Antwort auf die Frage nach der eigenen Herkunft sowie den Sinn der Existenz und geben damit Struktur. Es habe eine Herstellung von Gesellschaft und Identität stattgefunden, so Stewen weiter. Erklären lässt es sich damit, dass das Gehirn über zwei Arten von Gedächtnis verfügt: das analytische und das narrative Gedächtnis. Letzteres speichert Gelerntes und Erlebtes in Form von Geschichten ab, die mit Emotionen verbunden werden. Somit beeinflusst es auch, wie neue Situationen empfunden werden. Zum Beispiel als gefährlich, witzig, verwirrend oder etwa eintönig.

Genau diese im Gehirn verankerten Handlungs- oder Erzählmuster macht sich das Storytelling zunutze. Dabei handle es sich um eine „Technik des klassischen Geschichtenerzählens, die auf ganz alltägliche kulturelle, soziale Phänomene mit übertragen wird“, weiß Christian Stewen. Storytelling wird viel im narrativen Journalismus, dem Marketing, aber auch in Form von persönlichem Storytelling zum Beispiel in Vorstellungsgesprächen verwendet. Das verdeutlicht, dass diese Lust am Erzählen nicht einfach vergangen ist. Im Laufe der Jahrhunderte haben sich aber die Stilmittel und Medien geändert: von der gesprochenen Geschichte am Lagerfeuer, über Romane und Filme, bis hin zum Blogeintrag oder YouTube-Video. Weitere Hintergründe sowie eine persönliche Einschätzung zur Bedeutung des Erzählens gibt Christian Stewen im Interview.

So sieht das Kamishibai-Theater aus. Es ist ein schlichter Holzkasten, in dem die verschiedenen selbstgemachten Bilder stecken. Die Bilder dienen zum einem den ErzählerInnen als Gedankenstütze und andererseits den ZuschauerInnen als visueller Beitrag zu der Geschichte. (Quelle: Marie-Kristin Schildwächter)

Die beiden Begriffe des Erzählens und Storytellings sind demnach zwar nicht ganz trennscharf, sollten aber nicht synonym verwendet werden. Das betont auch Brigitte Vaupel: „Ich will gar nicht sagen, dass das Storytelling für die Wirtschaft fest gebucht ist“, aber die Arbeit des Vereins beschäftige sich nicht damit, wie mit Hilfe einer Geschichte ein Produkt verkauft werden könnte. „So erlebe ich unsere Erzählkunst nicht“, macht Vaupel deutlich. Es sei eher die Faszination, die durch den Inhalt und die Symbolik verursacht werde. Eben diese Förderung und Pflege der mündlichen Erzählkultur haben sich der Verein und seine 26 ehrenamtlichen Mitglieder auf die Fahne geschrieben. Sowohl professionelle ErzählerInnen als auch Laien aus Braunschweig und Umgebung erzählen für Menschen jeder Altersgruppe. Dabei kommen unterschiedliche Erzähl- und Kunstformen zum Einsatz, die auch in Seminaren oder Workshops angeboten werden. Etwa das Gestalten von Papier-, Schatten- und Kamishibai-Theatern, aber auch kreatives Schreiben und Geschichtenerfinden. Dabei verstehen sie sich als eine Art Mitmach-Werkstatt, in der sich jeder mit seinen Interessen und Kompetenzen kreativ einbringen kann.

Was sich hinter dem Kamishibai-Theater und den Seminaren verbirgt, erklärt Elvira Wrensch im Interview. Sie ist Vorstandsmitglied der Erzählwerkstatt Braunschweig e.V. und war zuvor viele Jahre als Märchenerzählerin tätig. Inzwischen konzentriert sie sich auf das Schattentheater und gibt ihr Wissen an Interessierte weiter.

Darüber hinaus hat das Vorlesen oder Erzählen von Geschichten einen bedeutenden Einfluss auf die Entwicklung von Kindern. Denn nicht nur Erwachsene brauchen diese Form von Anleitung durch Erfahrungsaustausch. In der Studie der Stiftung Lesen aus 2020 wird ausdrücklich auf die vielen Vorteile verwiesen: Es fördert die sprachliche Entwicklung, die kognitiven Fähigkeiten und die Lesemotivation, aber auch die persönliche Entwicklung und soziale Kompetenzen von Kindern. Diesen pädagogischen Effekt bestätigt auch Christian Stewen. „Deswegen sind viele Geschichten und viele Märchen eben auch moralische Erzählungen, damit die Kinder in unserer Welt besser zurechtkommen.“ Für Brigitte Vaupel spielt auch die Kreativität eine wichtige Rolle. Zusammen mit ihrem Mann hat sie daher mit dem „Okernick“, ein Wassermann, der in der Oker lebt, eine Identifikationsfigur für die Region geschaffen. Stolz berichtet sie, wie die Kinder sich gegenseitig Geschichten über ihn erzählen und dass, obwohl sie ihn nie gesehen haben. Aber er ist „in ihrer Fantasie angekommen, weil ich Spaß daran hatte, das zu vermitteln“, sagt Brigitte Vaupel mit einem Lächeln.

Auf die Frage, ob das mündliche Erzählen letztlich eine Kunst ist und erhalten bleiben sollte, finden sowohl Brigitte Vaupel und Christian Stewen als auch Elvira Wrensch eine eindeutige Antwort: Ja, unbedingt. Denn neben der Erzählung als ein Produkt gäbe es den „Prozess des Erzählens, des Herstellens dieser Geschichte“, stellt Stewen klar. „Und das ist etwas, dass gerade in unserem Medienkonsum oft zu kurz kommt.“ Für ihn sei eindeutig, dass der „Prozess des Kommunizierens von Geschichten sogar wichtiger ist“. Und aus diesem Grund sei es auch von hoher Bedeutung, dass Einrichtungen wie die Erzählwerkstatt Gelegenheiten bieten, bewusst zu erzählen. Aber für Brigitte Vaupel ist klar, dass „Geschichten erzählen nicht nur ein pädagogischer Auftrag ist“. Der eigene Spaß dürfe nicht fehlen. Für Elvira Wrensch sei das Erzählen ein Medium, bei dem der Kontakt zu den Menschen da ist, sowie Herz und Gefühl angesprochen würden. Es gehe schlicht um die gegenseitige Wertschätzung und darum, miteinander ins Gespräch zu kommen, statt nur zu konsumieren.

Wer sich unschlüssig ist, ob die Erzählkunst tatsächlich wichtig ist, dem gibt Brigitte Vaupel eine simple, aber tiefgehende Frage an die Hand: „Hätte Scheherazade überlebt, wenn sie vorgelesen hätte?“

Erzählwerkstatt Braunschweig e.V.

  • Ehrenamtlicher Verein
  • Gründung 1989 unter anderem Namen und Schwerpunkt
  • 2015 Umbenennung in Erzählwerkstatt Braunschweig e.V.
  • Verstehen sich als Mitmach-Werkstatt
  • Vermitteln der Kunst des Geschichtenerfindens und -gestaltens in Seminaren
  • Ausrichten von jährlichen offenen Erzählbühnen
  • Ziel: Erzählkultur als älteste Kunstform erhalten und neuen Auftrieb geben

Scheherazade

  • Sie ist eine der Hauptfiguren aus Tausendundeine Nacht
  • Nachdem der persische König von seiner Frau betrogen wurde, heiratet er jeden Tag eine neue Frau und lässt sie am nächsten Morgen töten
    • Da er überzeugt ist, dass es keine treue Frau gibt
  • Scheherazade möchte dem ein Ende bereiten und lässt sich von dem König zur Frau geben
    • Sie erzählt ihm in der Nacht eine Geschichte, doch die Handlung wird am nächsten Morgen unterbrochen
    • Der König möchte wissen, wie die Geschichte ausgeht und lässt sie daher am Leben
    • Dieses Geschichtenerzählen zieht sich über 1001 Nächte hin
    • Schließlich ist der König von der Treue seiner Frau überzeugt und lässt sie am Leben
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